Streit um Aldi-Filiale in der Markthalle Neun in Kreuzberg

Aldi muss bleiben, damit wir leben können

Am Streit um einen Discounter in Berlin entzünden sich die ganz großen Fragen des Linksseins.

Es ist kompliziert, dieser Tage links zu sein. Was waren das noch für Zeiten, in denen man fast immer richtig lag, wenn man forderte, dass Sachen verschwinden müssen. Nazis zum Beispiel, die müssen immer raus, wenn auch nicht immer klar ist, wohin. Der Nationalismus, der musste auch raus, aus den Köpfen nämlich. Und die Bundeswehr, der Staat, die Nation, das Kapital – all das musste stets weg, raus, kaputt sein.

Wenngleich dieselben Parolen noch immer skandiert werden, gibt es eine neue Nuance des linken Aktivismus, dessen Duktus fast schon konservativ anmutet: Bleiben! Zugegeben, ganz neu ist das nicht, schließlich sollte auch schon das Georg-von-Rauch-Haus im gleichnamigen Ton-Steine-Scherben-Song besetzt bleiben. Aber vor linken Zirkeln macht die Parole neuerdings nicht Halt. Im postmodernen Kapitalismus ist man froh, wenn überhaupt noch etwas bleibt. Erst vergangenes Jahr sollte gleich mal ein ganzer Wald bleiben. Und nun muss neben dem »Hambi« auch noch ein Aldi gerettet werden. Ganz recht: Es geht tatsächlich um eine ordinäre Discounter-Filiale der schwerreich verstorbenen Gebrüder Albrecht.

Die »Philosophie« von dm, so die Betreiber der Markthalle, passe besser ins Gesamtkonzept. Ausdruck dieser Geisteshaltung seien etwa »zahlreiche soziale Projekte« und sogar »das Engagement des Gründers Götz Werner für ein faires Miteinander und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens«. (...) Die Betreiber einer Markthalle wollen ­einen Discounter rauswerfen, um der Forderung nach dem Grundeinkommen Nachdruck zu verleihen?

Wer das verstehen will, muss sich an den Tatort begeben: nach Berlin-Kreuzberg. Hier steht eine Markthalle. »Markthalle Neun« heißt sie, weil sie einmal zu insgesamt 14 Markthallen gehörte, die die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts erbauen ließ, um die Leute hygienischer und vor allem witterungsgeschützt noch mehr kaufen zu lassen. Ein Konsumtempel, vielleicht nicht so prunkvoll wie die Pariser Einkaufspassagen, die Walter Benjamin als Kultstätten des Kapitalismus zu beschreiben wusste – aber doch auch weit über 100 Jahre nach seiner Eröffnung anmutig.

Nun ist es recht verwunderlich, dass eine solche Markthalle im Jahr 2019 überhaupt noch Bestand hat. Das Modell Supermarkt hat die Markthallen und Tante-Emma-Läden in Deutschland seit den fünfziger Jahren weitgehend verdrängt. Heutzutage erscheint es recht mühsam, an verschiedenen Ständen etliche kleine Kaufgeschäfte abschließen zu müssen, anstatt alles vorverpackt in den ­Wagen zu schmeißen und vom flotten Kassenpersonal abrechnen zu ­lassen.

In Berlin aber erfährt das Althergebrachte und das Langsame gern eine Renaissance. So bietet die Markthalle Neun in Kreuzberg dem Besucher das Beste dieser beiden Welten: die vielen Stände in der Halle und den wiederkehrenden Wochenmarkt plus besagte Aldi-Filiale, die bleiben soll. Rings um sie herum sieht es so aus, wie es in Kreuzberg fast überall aussieht: Vegetarisches und veganes Essen steht hoch im Kurs. Beinahe sämtliche Lebensmittel sind mindestens »bio« oder neudeutsch »organic«, und hin und wieder sogar »fair trade«. Mit solcher Konkurrenz hat es ein schnöder Aldi natürlich schwer, selbst wenn selbiger kürzlich erst von der Albert-Schweitzer-Stiftung zum »veganfreundlichsten Discounter« gekürt wurde.

Charmant disparat wirkt er, der »Markt im Markt«, der doppelt überdachte Discounter. Von 2009 bis 2011 wurde gemeinsam mit dem Berliner Senat eine Übernahme der Markthalle durch einen Großinvestor erfolgreich abgewehrt, um die regionalen Erzeuger zu unterstützen und ein bezahlbares Lebensmittelangebot jenseits von Massenware zu bieten. »Gutes Essen für alle«, steht auf zwei Bannern in der Markthalle Neun. Zu dieser Versorgung trug bislang der Aldi-Markt beträchtlich bei, zum Image passt er aber natürlich nicht.

Nun ist er den Betreibern aber zum Dorn im Auge geworden. Massenkonsum! Einheitsgeschmack! Dumping-Preise! Geradezu schmuddelig muss es sich anfühlen, dort seine reichlich unkreativ gebrandeten Lebensmittel wie den klassischen Markus-Kaffee wie ein Plünderer von der Palette klauben zu müssen, während man doch draußen überall so freundlich bedient wird und das gute Gewissen gleich mitkaufen kann. Etwa beim Metzger »Kumpel und Keule«, wo Freund und Fleisch schon im Namen so nah beieinander sind, dass man sich nicht wundern würde, wenn es hier auch Terrier vom Drehspieß gäbe.

Weg soll er nun, diese Ausgeburt des globalisierten Kapitalismus, dieser große Gleichmacher, wo noch die Eltern massenhaft ihre ersten preisgünstigen PCs kauften, um die DSL-Leitungen des Landes zu fluten. Pfui! Wo bleibt denn da die Abgrenzung? An seine Stelle soll etwas viel besseres kommen: ein Drogeriemarkt des Konzerns dm. Die »Philosophie« von dm, so die Betreiber der Markthalle, passe besser ins Gesamtkonzept. Ausdruck dieser Geisteshaltung seien etwa »zahlreiche soziale Projekte« und sogar »das Engagement des Gründers Götz Werner für ein faires Miteinander und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens«. Tritt man von diesem Sprachgemälde einen Schritt zurück, erscheint es reichlich abstrakt: Die Betreiber einer Markthalle wollen ­einen Discounter rauswerfen, um der Forderung nach dem Grundeinkommen Nachdruck zu verleihen?

Das verwundert nur auf den ersten Blick. Denn eigentlich ist es ganz ­logisch: Wer in der Markthalle Neun fair geschlachtetes Schweinemett von fröhlichen Kumpelschweinen und allerlei andere Leckereien erstehen möchte, sollte zumindest nicht den Hartz-IV-Regelsatz beziehen. Die ­Kugel Bio-Eis kostet hier nämlich ­bereits 1,40 Euro. Den »Wein des Monats« vom regionalen Händler gibt es derzeit reduziert für 10,90 Euro. »Schöner trinken« verspricht die »Weinhandlung Suff«. Unschön muss hingegen trinken, wer nur die 1,39 Euro für den Liter »Rebenschoppen« aus der Pappe im Aldi übrig hat. Und auch das schnöde Krustenbrot aus der Discounter-Enklave stinkt mit seinen 1,19 Euro ganz schön ab gegen einen duftenden halben Laib von »Sironi« für 4,90 Euro.

Was so billig ist, das kann nicht, ja, das darf nicht gut sein. In einem Statement zu der geplanten Umstrukturierung geben die Eigentümer ganz offen zu: Der neue Drogeriemarkt soll als »Anregung und Einladung« verstanden werden, »festzustellen, dass man saisonales Gemüse zu vergleichbaren Preisen auch auf dem Markt kaufen kann«. Mit anderen Worten: Weil der Discounter mit ­seinen elenden Billigpreisen reihenweise Kunden von den teureren Marktständen abzog, soll er verschwinden. Da die Bio-Lebensmittel bei dm preislich ähnlich sind, gibt es nun bald wieder fairen Wettbewerb und »gutes Essen für alle« – zu­mindest für alle, die es sich leisten können.

Die, die das nicht können oder zumindest für jene Partei ergreifen wollen, machen ihrem Unmut Luft. Im Eingangsbereich findet sich ein wildes Sammelsurium von Statements, Antworten, Kommentaren und Gegen-Statements: Pro-Aldi, Contra-Aldi, englisch, deutsch – erbittert wird hier in Form von Zetteln, Fetzen und gutem alten Schultoiletten-Übermalungen über den ­Erhalt eines Discounters gestritten. »Check your privileges«, rät beispielsweise ein womöglich zugereister Markthallenbesucher, ein anderer fragt keck zurück: »Wie war dein Flug?« An anderer Stelle wird der Rausschmiss von Aldi als letzte Maßnahme des bösartigen, geradezu stalinistischen Umgestaltungsprozesses im Kiez begriffen, von »Säu­berungen« ist die Rede. Die Betreiber der Halle antworten besonnen: »Vergleiche mit Völkermord verwehren wir uns.«

Die causa Aldi ist hochpolitisch. Es geht nicht nur um Markus-Kaffee versus Chai Latte, um Karlskrone versus Chardonnay, es geht um die ganz großen Fragen. Kosmopoliten gegen Kommunitaristen, Fordismus gegen Ackerbau! Dafür müssen alle Kräfte gebündelt werden. Folgerichtig gibt es nun eine »Aldi bleibt!«-Initiative, die auf Facebook und Instagram um Unterstützer wirbt. Dort beklagt man sich über die »Bio-Schickeria-Luxus-Markt­halle« und eine Nachbarschaft, die sich »immer mehr zum Schlechten« verändert habe. Die Kinder der Eltern mit dem Aldi-PC ziehen nun mit einer Online-Petition in den Kampf: »Kiez Markthalle – keine Luxusfressmeile«.

Wo soll man nun stehen? Auf der Seite der saisonal und regional ­erzeugten Wochenmarktgurke für den solidarisch erhöhten Kilopreis für die Bauern? Oder auf der Seite der 70-Cent-Milsani-Vollmilch für die letzten Kreuzberger Geringverdiener mit Uralt-Mietvertrag in ­einer Gegend, in der 40 Quadratmeter kalt durchschnittlich 800 Euro kosten? Wenn der Aldi geht, werden die Altkunden woanders kaufen. Sie dürfen sich, nach Ansicht der Eigentümer der Markthalle, »im Umkreis von zwei Kilometern« nach anderen Discountern umschauen. Wer bleibt, verliert. Es ist kompliziert, dieser Tage links zu sein.