Die Fotografien von Boris Mikhailov sind in Berlin zu sehen

Keine Schönheit ohne Hässlichkeit

Der Fotograf Boris Mikhailov dokumentierte die Sowjetunion vor und nach ihrem Zusammenbruch

1931 war es endgültig vorbei mit der Avantgarde in der Sowjetunion. Der Dichter Wladimir Majakowskij, nach anfänglichem Ruhm von den Literaturfunktionären geschmäht, hatte sich im Jahr zuvor durch einen Schuss ins Herz selbst gerichtet. Kasimir Malewitsch malte anstelle von abstrakten schwarzen Quadraten wieder figurativ. Und Alexander Rodtschenko, der berühmte Fotograf, der in seinen Bildern die Symmetrie immer wieder auf die Probe stellte, wurde aus der Oktober-Gruppe, einer Künstlervereinigung, geworfen, was einem Berufsverbot gleichkam. Grund war der Vorwurf des »Formalismus«; ganz besonders stark traf die stalinistische Kritik eine Aufnahme mit dem Titel »Trompetender Pionier«, die ebenjenen Pionier während eines Aufmarsches mit seinem Instrument am Mund zeigte, fotografiert aus einer extremen Untersicht. Dieses Foto, ästhetischer Inbegriff der Moderne, galt als bürgerlich und dekadent; gefragt war der »sozialistische Realismus«, also glückliche Arbeiter, dargestellt in dezenten Farben, am besten in der Frontalansicht.

Im Hintergrund blitzt das eine oder andere Mal ein Adidas- oder Lucky-Strike-Logo auf – post­sozialistischer Realismus.

Die Fotografie fristet von da an ein Nischendasein in der Sowjetunion, öffentlich zu fotografieren war verpönt, an vielen Orten war es wegen Spionageverdachts verboten. So wurde die Fotografie in die eigenen vier Wände verbannt, ähnlich wie die Sexualität – der Sozialismus war ­offiziell eine prüde Veranstaltung. Einem, dem das einerseits zugute kam und dem es andererseits eine Menge Ärger brachte, war Boris Mikhailov. Der als Ingenieur arbeitende Hobbyfotograf machte in den Sechzigern erotische Aufnahmen seiner Frau Vita. Als dem KGB diese Bilder in die Hände fielen, verlor er seine Anstellung und konzentrierte sich von da an ganz und gar auf die Fotografie. Während er in Schwarzarbeit als Fotograf tätig war, machte er jahrzehntelang nebenher auch Aufnahmen für sich, die er in mehreren Serien zusammenfasste. Der Ruhm kam später: Bis 1990 wurde keine einzige Ausstellung von ihm in der Sowjetunion gezeigt. In der Ber­liner Fotogalerie C / O wird derzeit anlässlich des 80. Geburtstags des Fotografen ein leider viel zu kleiner Einblick in seine Arbeit gegeben.

Im zu spärlich beleuchteten ersten Raum der Ausstellung mit dem Titel »Before Sleep/ After Drinking« trifft man auf einen Teil der »Case History«, also Krankheitsgeschichten, eine Serie aus ursprünglich circa 400 Fotos, die Mikhailov in der zweiten Hälfte der Neunziger in seiner ukrainischen Heimatstadt Charkiw fotografierte. Die Bilder, bei ihrer Erstveröffentlichung ein Skandal, zeigen vornehmlich Obdachlose. Gezeichnet sind ihre Körper und Gesichter von der Armut und der Kälte, sie sind Opfer der postsowjetischen Zeit. Unzählige kleine Abzüge reihen sich aneinander, doch ein unangenehmer Voyeurismus, wie ihn manche vermuten oder auch anprangern, ist nicht spürbar.

Stattdessen sind die abgebildeten Menschen zum Teil so stark in Pose gesetzt, dass sie eher wie Schauspieler wirken als wie Menschen von der Straße: Sie tragen Lippenstift auf, Jungs rauchen Zigaretten, es wird in die Kamera geschaut, geradezu mit ihr gespielt. Denkt man an die berühmte Foto­reportage von Walker Evans, der in den dreißiger Jahren in den verarmten Südstaaten der USA fotografierte, was vom Prinzip her Mikhailovs Projekt entspricht, fallen schnell Unterschiede auf: Mikhailovs Bilder sind trotz des Elends witzig, seine Protagonisten sind merkwürdig heiter und schneiden Grimassen. Fast nie ist hier jemand allein zu sehen. Man möchte die Bilder schön nennen, auch wenn das in diesem Zusammenhang ein befremdliches Wort ist: Man sieht Freundschaften, glückliche Kinder, sich helfende Menschen. Und im Hintergrund blitzt das eine oder andere Mal ein Adidas- oder Lucky-Strike-Logo auf – postsozialistischer Realismus.

Sensationsgeilheit kommt hier nicht auf. Auch die Bilder selbst, ihre Farben, die Komposition, Mikhailovs Gespür für Licht, das alles zusammen ist vielschichtig und deswegen auch sensibler als das, was man gemeinhin von Fotografen erwartet, die wie Mikhailov ihren armen Modellen Geld geben, damit sie Porträt stehen. Die ganze sanfte Empathie, die man Mikhailovs Bildern anmerkt, wird jedoch vom Ausstellungshaus desavouiert: Ekel stellt sich ein, wenn man durch einen kleinen Gang in den nächsten Raum läuft und in diesem Gang einem die dort auf Regalen stehenden präparierten Eingeweide auffallen, eine Leihgabe aus der Sammlung des Medizinhistorischen Museums der Charité in Berlin, die vom Pathologen Rudolf Virchow begründet wurde. Die Därme, Gehirne und Mägen, die ganz selbstverständlich in die Ausstellung integriert wurden, sind von Krankheiten wie Krebs oder Syphilis zerfressen. Ist die erste Irritation überwunden, setzt der Ärger darüber ein, dass die Kuratoren sich hier anscheinend einen schlechten Scherz erlauben: im großen Raum die »Krankheitsgeschichten« von Mikhailov, hier nun die »Krankheitsbilder« mit dem Titel »Virchows wirkliche Bilder«, als wollte man den Besuchern das Angebot machen, in die kranken Körper der Menschen hineinzuschauen, mit denen sie noch einen Moment vorher mitgefühlt haben. Diese wilde Assoziation ist eine Geschmacklosigkeit.

Boris Mikhailov war nie ein gewöhnlicher Fotograf. Von Anfang an kolorierte er manche Abzüge nach oder collagierte sie, bei den Aufnahmen experimentierte er mit Belichtung und Beleuchtung und auch die Abzüge tragen seine deutliche Handschrift. Einblick darin gibt die ausgestellte Serie »Diary«, die zwar erst 2015 fertiggestellt wurde, für die Mikhailov aber in sein Archiv bis in die Sechziger ­zurückgriff. Hinter einfachem Glas gerahmt hängen dort DIN-A4-Blätter, auf ihnen kleine Abzüge, manche mit Sätzen in kyrillischer Schrift. Oft wurde Mikhailov als Fotograf ­beschrieben, der eine Chronik der postsowjetischen Zeit angefertigt habe, was zweifelsfrei stimmt. Doch war er auch ein Chronist der Sowjetzeit selbst. Aufmärsche, Aktfotos, Alltag und immer wieder Selbst­bilder prägen Mikhailovs Tagebuch. Auch in einer anderen in der Ausstellung gezeigten Arbeit, »I am not I«, sieht man Mikhailov, der aussieht wie eine Mischung aus Luis Buñuel und Salvador Dalí, selbst posieren, mit einem Dildo, der Provokation wegen.

»Diary« ist einer Gruppe von Künstlern aus seiner Heimatstadt gewidmet, die Ende der fünfziger Jahren, wie der Fotograf schreibt, die Beatles liebten, zu Rock ’n’ Roll tanzten und die westliche Freiheit ersehnten. Wie er weiter schreibt, wurden mehrere Mitglieder der Gruppe wegen des Vorwurfs der »Pornographie« eingesperrt, ein Vorwurf, der Mikhailov selbst ereilte und der gerne erhoben wurde, um die Opposition zu unterdrücken. Mikhailovs Manie mit nackten Körpern lässt sich wohl am besten so verstehen: Er wehrte sich mit seinen Bildern dagegen, dass man zu Sowjetzeiten nicht alles zeigen durfte. In einer Filmdokumentation, die am Ende der Schau zu sehen ist, erhebt er das Verbot sogar zum Motor seines Schaffens. Aber nicht nur das: Dass er immer wieder das Hässliche zeigte, erklärt er mit dem einfachen Argument, ohne Hässlichkeit gebe es keine Schönheit. So wird das Dokumentieren von Durchschnitts- oder gar ausgestoßenen Menschen mitsamt ihrem kläglichen Lebensumfeld immer wieder zwingend auch zu ­einer Frage der Ästhetik.

Dass die C / O nur einen kleinen Einblick in das Œuvre gibt, ist schade. Man vermisst die »Rote Serie«, von 1968 bis 75 aufgenommen, für die, wie der Titel schon sagt, Mikhailov manisch die Farbe Rot fotografierte, rote Gebäude, Farben, Kleidung, ­einerseits als Farbe des Kommunismus, andererseits als eine Farbe, die auf fotografischem Film besonders stark zutage tritt.

 

Die Ausstellung »Boris Mikhailov. Before Sleep/After Drinking« ist noch bis zum 1.Juni in der C/O Berlin zu sehen.