Deutsche Parteien führen im EU-Wahlkampf vorwiegend innenpolitische Auseinander­setzungen

Friede, Freude, Europakuchen

In den Programmen der großen Parteien zur Europawahl finden sich viel hohle Rhetorik und eine Menge Widersprüche. Vor allem machen sie die Wahlen zum EU-Parlament zur Projektionsfläche innenpolitischer Auseinandersetzungen.

Der »Brexit«, US-Präsident Donald Trump, Wladimir Putins Trolle, »die Chinesen« und vor allem die Populisten – die Zeiten sind hart für die Europäische Union. Dementsprechend geht es nach Ansicht ihrer Fürsprecher bei den Wahlen zum Europaparlament an diesem Wochenende um alles.

Die SPD wirbt um die Stimmen derer, die »für den Frieden in Europa und in der ganzen Welt« sind. Dieser Frieden sei bedroht und nur die SPD mit ihrem Programm, das auf die Stärkung der EU zielt, könne ihn bewahren: durch die Einführung eines EU-Außenministers, eine Abkehr vom Konsensprinzip zugunsten einer effektiveren Entscheidungsfindung, durch die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee und – widersprüchlich, wie Sozialdemokraten nun mal sind – zugleich durch Abrüstung. Mit ihrem Namen einstehen muss dafür Katarina Barley, derzeit noch Bundesjustizministerin, die die SPD als Spitzenkandidatin in die Europawahl schickt.

Weil es keine transnationalen Wahllisten gibt, können die sogenannten Spitzenkandidaten nur in ihrem jeweiligen Herkunftsland gewählt werden.

Auch der »soziale Frieden« ist den Sozialdemokraten sehr wichtig. Schon auf Seite 19 ihres 76seitigen Wahlprogramms sagen sie dem Lohn- und Sozialdumping den Kampf an und fordern die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland auf zwölf Euro. Wie der Kampf gegen Sozialdumping in der Realität aussehen soll, machen Barley und der deutsche Arbeits- und Sozialminister, ihr Genosse Hubertus Heil, in einem Werbespot klar. Dieser wurde auf der Baustelle der Kopie der Potsdamer Garnisonkirche gedreht. An dem Ort, an dem das Gebäude wiedererstehen soll, in dem mit dem Händedruck von Hindenburg und Hitler 1933 das Ende der Weimarer Republik besiegelt wurde, gucken Barley und Heil unter Bauarbeiterhelmen hervor und erklären, wie sie gegen das Lohndumping ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter ­vorgehen.

Auch die Grünen wollen den Frieden bewahren, aber dazu noch die Demokratie und das Weltklima retten. Dafür wollen sie die EU »neu begründen«, nämlich »ökologisch, demokratisch und sozial«. Und dafür müsse die EU gestärkt werden. Auch die Linkspar­tei will nochmal von vorn anfangen und fordert einen »Neustart der Europäischen Union« in »einem solidarischen Internationalismus«. Diese neue EU wäre solidarisch, gerecht, ökologisch, friedlich und würde niemanden diskriminieren.

Die Christsozialen und -demokraten zelebrieren nach ihrem Zerwürfnis über Angela Merkels »Herrschaft des Unrechts« (Horst Seehofer) nun wieder Einigkeit und haben zum ersten Mal ein gemeinsames Programm zur Europawahl vorgelegt. Auch sie wollen das »Friedensprojekt Europa« verteidigen, das die deutschen, französischen und italienischen Staats- und Regierungschefs Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi einst »gegen erbitterten Widerstand« von Nationalisten und Sozialisten begründet hätten. Denn die »Populisten von links und rechts« bedrohten »die Ordnung des Westens«, der für eine offene Gesellschaft, liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft stehe. Unter anderem sollen Ökonomie und Ökologie »versöhnt« und der »Kindergeldtransfer ins Ausland« beendet werden.

Alle diese Programme spekulieren darauf, dass die meisten Wahlberechtigten nicht genau verstehen, wie die EU funktioniert. Die Europawahl dient ihnen als Projektionsfläche innenpoli­tischer Auseinandersetzungen. Denn ob es um die Schaffung des Amts eines EU-Außenministers oder gar einer EU-Armee geht, um die Höhe des deutschen Mindestlohns und den ­Kindergeldtransfer von Arbeitsmigranten: Das EU-Parlament ist nicht der Ort, an dem solche Entscheidungen getroffen werden, bestenfalls darf es ein ­wenig mitreden.

Ähnlich ist die Situation bei den ­sogenannten Spitzenkandidaten, mit deren Ernennung Mechanismen na­tionaler Parlamentswahlen auf die EU-Ebene übertragen werden sollen. Weil es keine transnationalen Wahllisten gibt, können die Kandidaten nur in ihrem jeweiligen Herkunftsland gewählt werden. Während unklar bleibt, was, außer dem ersten Listenplatz, Katarina Barley den Titel »Spitzenkandidatin« eingebracht hat, haben CDU und CSU den Vorteil, in Deutschland mit einem echten Spitzenkandidaten anzutreten. Der CSU-Politiker Manfred ­Weber will EU-Kommissionspräsident und damit Nachfolger des Luxemburgers Jean-Claude Juncker werden. Weber ist für diesen Posten von der Europäische Volkspartei (EVP) nominiert, dem Zusammenschluss der Konservativen und Christdemokraten im Europaparlament. Der sozialdemokratische Kandidat für diesen Posten, Frans Timmermans, ist Niederländer und kann nur in den Niederlanden gewählt werden.

Doch auch wenn es danach aussieht, dass die EVP nach der Wahl die stärkste Fraktion stellen wird – ob Weber tatsächlich Kommissionspräsident wird, ist fraglich. Denn der Kommissionspräsident wird zwar vom EU-Parlament gewählt, doch nur auf Vorschlag des Europäischen Rats, der Versammlung der Staats- und Regierungschefs der EU. Und dieser ist nach dem Lissabonner Vertrag, der faktisch die Verfassung der EU darstellt, nicht an das Ergebnis der Wahlen zum EU-Parlament gebunden, sondern muss dieses nur »berücksichtigen«. Der Rat könnte beispielsweise auch einen anderen Kandidaten aus den Reihen der EVP vorschlagen. Einen, der kein Deutscher ist – denn ein deutscher Kommissionspräsident würde die hegemoniale Position Deutschlands in der EU stärken – eine Position, die selbst so gute »Freunde« wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nicht einfach so hinnehmen wollen, von osteuropäischen Störenfrieden wie Viktor Orbán ganz abgesehen.

Dass Weber seine geringen Erfolgsaussichten bewusst sind, demonstrierte er mit seiner Haltung zur Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Anfang Mai sagte er der polnischen Zeitung Polska Times, dass die Erdgastrasse von Russland nach Deutschland unter Umgehung der mittelosteuropäischen Staaten nicht im Interesse der EU sei und er als Kommissionspräsident alle Rechtsmittel anwenden werde, um das Projekt zu verhindern. Damit stellte er sich gegen die Bundesregierung, die den Bau der Pipeline gegen den Widerstand der östlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs vorantreibt (Jungle World 14/2019). Dass Weber tatsächlich das etwa zehn Milliarden Euro teure Projekt, das bereits Ende dieses Jahres fertiggestellt sein soll, aufhält, ist nicht zu erwarten. Stattdessen dürfte es sich bei seiner Ansage um den verzweifelten Versuch handeln, klarzumachen, dass er nicht primär der Kandidat Deutschlands ist, sondern der der gesamten EVP. Ob er damit Erfolg haben wird, bleibt zweifelhaft.

Und was macht die AfD, auf die sich alle anderen Parteiprogramme negativ beziehen? 2014 zog sie als Anti-Euro-Partei wirtschaftsliberaler Professoren mit sieben Abgeordneten ins EU-Par­lament ein. Ein halbes Jahrzehnt später hat sie einen Großteil des Wegs vom Rechtspopulismus zum völkisch-nationalistischen Rechtsextremismus zurückgelegt. In einem 90sekündigen Videoclip spricht sie sich gegen die EU-Bürokratie und für ein »Europa der Vaterländer«, gegen die Transferunion und für die Rückkehr zu nationalen Währungen, gegen Sharia, Massen­einwanderung und Gendermainstreaming aus. Im Bundestag beantragte sie, das EU-Budget zu kürzen.

Der Austritt aus der EU ist nicht das zentrale europapolitische Ziel der AfD. Deren Führung dürfte ziemlich klar sein, dass die ökonomische und politische Verflechtung der EU Grundlage und Bedingung der deutschen Machtposition in Europa und darüber hinaus ist.