Zivilisten in Lebensgefahr

Die Mauer muss weg

Kommentar Von Jörn Schulz

Die Kämpfe in der syrischen Provinz Idlib zwingen Hunderttausende zur Flucht. Doch der Weg in sicheres Gebiet ist versperrt. Erdoğan hat die türkische Grenze abgeriegelt – mit tatkräftiger Hilfe der EU.

US-Präsident Donald Trump wäre stolz, wenn er so etwas vorweisen könnte: eine 764 Kilometer lange Grenzmauer aus von Stacheldraht gekrönten Betonmodulen, ausgestattet mit moderner Überwachungstechnologie und sogar ferngesteuerten Waffensystemen. Was ihm bislang verwehrt blieb, hat sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan geschafft. Die Mauer an der Grenze zu Syrien wurde im vergangenen Jahr fertiggestellt – mit tatkräftiger Hilfe der EU, die Überwachungstechnologie lieferte, Panzerwagen finanzierte, die nun an der Grenze patrouillieren, und Erdoğan drei Milliarden Euro zahlte, damit er Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindert.

Der syrische Bürgerkrieg langweilt das internationale Publikum längst, Berichte über russische Luftangriffe sind Routinemeldungen geworden.

Die Mauer könnte nun vor der ersten großen Bewährungsprobe stehen. Die russisch-iranisch-syrischen Angriffe auf die Provinz ­Idlib haben nach Angaben der Vereinten Nationen bereits 300 000 Menschen in die Flucht getrieben. In der vergangenen Woche riefen syrische Aktivisten zu einem Marsch zur Grenze und einem Sit-in auf. Entweder, so ihre Forderung, soll die Migration nach Europa ermöglicht werden oder die »internationale Gemeinschaft« möge sich bequemen, endlich etwas gegen die Angriffe zu unternehmen. Noch ist die Zahl der am Grenzübergang Atmeh Protestierenden nicht sehr groß, doch das könnte sich ändern.

In der Provinz Idlib leben etwa drei Millionen Menschen. Es war absehbar, dass der im September vorigen Jahres zwischen Russland und der Türkei vereinbarte Waffenstillstand nicht lange halten würde. Der deutsche Außenminister Heiko Maas aber mahnt unverdrossen zum Dialog. »Die Türkei wird morgen zusammen mit Russland und dem Iran ein Treffen haben, um darüber zur reden«, sagte er in der ARD. Man habe »die Vertreter der Türkei noch einmal ermuntert, dieses Treffen zu nutzen, auf die anderen einzuwirken, eben nicht mit großen Bombardements dieses humanitäre ­Desaster in Idlib anzurichten«. Trump hat immerhin seine fürchterlichste Waffe eingesetzt, den Tweet: »Die Welt schaut diesem Blutbad zu.« Doch nicht einmal das stimmt. »Die Welt« schaut weg, der syrische Bürgerkrieg langweilt das internationale Publikum längst, die Berichte über russische Luftangriffe sind Routinemeldungen geworden wie die über Bombenanschläge der Taliban.

Die USA und die EU haben sich de facto aus der Syrien-Politik verabschiedet.

Der US-Präsident fordert: »Stopp!« Unternehmen aber will der Commander in Chief offenbar nichts, vielmehr soll der Abzug von US-Truppen fortgesetzt werden, obwohl die Syria Study Group des US-Kongresses im Mai eindringlich vor den Folgen warnte: Ein voreiliger Rückzug und ein Ende der Unterstützung für die Syrian ­Democratic Forces werde ein Wiederaufleben des »Islamischen Staats« erleichtern. Der Bericht stellt zudem fest, dass Bashar al-Assad »kompromissunwillig ist und das gesamte Syrien zurück­gewinnen will« und Israel iranische Aktivitäten »eindämmen, aber nicht verhindern« könne.

Die USA und die EU haben sich de facto aus der Syrien-Politik verabschiedet. Russische Bomben und iranische Milizen verschaffen dem Regime Assads nun eine Überlegenheit gegenüber der Türkei. Erdoğans ehrgeizige Pläne, sich mittels der Unterstützung von Milizen im syrischen Bürgerkrieg zum Repräsentanten der Sunniten aufzuschwingen und den türkischen Einfluss in der Region auszubauen, sind gescheitert. Er kämpft nun um verbliebene Einflusszonen.

Ein klarer militärischer Sieg des syrischen Regimes ist jedoch nicht zu erwarten, vielmehr spricht derzeit alles dafür, dass Syrien, wie Afghanistan und Somalia, zum Schauplatz eines jahrzehnte­langen Kriegs wird. Die Kontrolle des Regimes über die zurückeroberten Gebiete ist schwach, trotz – oder auch wegen – der Menschenrechtsverletzungen und des Bruchs von Vereinbarungen, die mit besiegten Rebellengruppen getroffen wurden. Ende Mai berichtete das UN Human Rights Office über »Hinrichtungen, willkürliche Inhaftierungen, erzwungenes Verschwinden, Plünderung und Beschlagnahme von Eigentum« in der Provinz Dara’a, zudem sei die elementare Versorgung mangelhaft. In Dara’a hatten 2011 die zunächst friedlichen Proteste gegen das Regime begonnen. Im März dieses Jahres protestierten Hunderte Einwohner Dara’as ­gegen die Wiedererrichtung einer Assad-Statue, mit der die Repräsentanten des Regimes deutlich machten, wo die Prioritäten beim Wiederaufbau liegen und dass eine Lockerung der diktatorischen Herrschaft nicht auf dem Programm steht.

Abgesehen von den Gebieten unter Kontrolle der kurdischen YPG und der von ihnen dominierten Syrian Democratic Forces wird der Bodenkrieg überwiegend zwischen islamistischen Milizen ausgetragen. Die sunnitischen Islamisten sind keineswegs Repräsentanten der sunnitischen Mehrheit. Da die al-Qaida nahestehenden Gruppen sich derzeit jedoch beim Terror gegen die Zivilbevölkerung zurückhalten, dürften sie von der Eskalation der konfessionellen Spaltung profitieren, die der wachsende iranische Einfluss mit sich bringt. In Idlib werden sie sich wahrscheinlich nicht halten können, doch kann als sicher gelten, dass es zumindest im Grenzgebiet zum Irak zu einem Wiederaufleben des sunnitischen Jihadismus kommt, sei es unter Führung von al-Qaida oder eines erneuerten »Islamischen Staats«.

5,6 Millionen Syrerinnen und Syrer sind aus dem Land geflohen, sechs Millionen sind Binnenflüchtlinge – insgesamt etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Die Voraussetzungen für eine Rückkehr der Flüchtlinge sind nicht gegeben, und daran dürfte sich in abseh­barer Zeit nichts ändern – dies stellt auch die Syria Study Group klar. Jenseits einer militärischen Intervention gäbe es die Möglichkeit, die ausländischen Invasoren, vor allem Russland, aber auch den Iran, durch ökonomische Sanktionen unter Druck zu setzen. Wer dazu nicht bereit ist, sollte wenigstens der Zivilbevölkerung die Flucht ermöglichen und eine Perspektive für ein besseres Leben bieten. Dies könnte dazu beitragen, dem Krieg eine wichtige Grundlage zu entziehen: Menschen, die man beherrschen, rekrutieren und ausbeuten kann. Allerdings würde dann wohl Assad eine Mauer um sein Herrschaftsgebiet errichten lassen.