Mord an Walter Lübcke

Auch Nazis mähen ihren Rasen

Stephan E., der Tatverdächtige im Mordfall Lübcke, gehörte zur Generation Rostock und Hoyerswerda. Dass er in den vergangenen Jahren unaufällig lebte, besagt wenig.

Der Mann stand auf der Todesliste des NSU und zog 2015 hasserfüllte Kommentare und Morddrohungen auf sich, weil er sich für eine humane Flüchtlingspolitik ausgesprochen hatte. Wie und wann der am 2. Juni erschossene Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf die Liste der bis 2011 im Verborgenen mordenden neonazistischen Terrorgruppe NSU gelangte, ist bisher nicht bekannt.

Lange dauerte es nach der Verhaftung von Stephan E. nicht, bis leicht relo­tiuseske Reportagen über das Leben und das Wohnumfeld des Tatverdächtigen erschienen, der regelmäßig seinen Rasen mähte und in den vergangenen Jahren auch sonst ein relativ unauffälliges Leben führte. Diese Beschreibungen warfen in vielen Internetforen die Frage auf, wie es denn sein könne, dass jemand, der zehn Jahre lang nicht ­öffentlich als Nazi auftrat, plötzlich loszieht und zum Mörder wird.

Der antifaschistischen Recherche­plattform Exif zufolge umfasst Combat 18 in Deutschland zwar nur etwa 50 Mitglieder, diese seien jedoch gut organisiert.

Die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König (Linkspartei) findet das allerdings nicht verwunderlich. Im Gespräch mit der Jungle World meint sie: »Ein überzeugter Nazi zu sein, hat nichts mit öffentlichem Auftreten zu tun. Selbst wenn E. wirklich zehn Jahre lang nicht an Demonstrationen teilnahm oder zu einschlägigen Konzerten ging, ändert das ja nichts an der Ideologie, der er anhing.« Einen Mord planen könne man überdies auch, »wenn man gleichzeitig regelmäßig daheim den Rasen mäht, das schließt sich nun wirklich nicht aus«.

Die Generation des Tatverdächtigen habe in den neunziger Jahren gelernt, dass Gewalt wie in Hoyerswerda, Mölln oder Rostock dazu führt, dass Politiker Forderungen der Rechtsextremen wie den »Asylstopp« erfüllen. Es sei nicht ungewöhnlich, dass sich extreme Rechte zeitweise zurückziehen. »Das haben wir unter anderem bei den Leuten vom damaligen Thüringer Heimatsschutz auch so gesehen«, sagt König. Viele seien öffentlich nicht mehr in Erscheinung getreten, Väter oder Mütter geworden und hätten Karriere gemacht. »2015 tauchten sie plötzlich wieder auf, nun als Mittvierziger, von denen manche sogar eigene Firmen betreiben, und organisieren flüchtlingsfeindliche Demos oder sind als ›besorgte Bürger‹ dabei.«

In Chemnitz habe sich nicht zuletzt die Polizei sehr gewundert, wo plötzlich »die ganzen alten Hools und Nazis herkamen – nur weil jemand eine Familie hat und darauf achtet, dass seine Mülltonnen immer ordentlich auf dem Bürgersteig stehen, heißt das eben noch lange nicht, dass er kein Nazi mehr ist«.

Im Fall des mutmaßlichen Mörders Stephan E. gebe es zudem einige Belege dafür, dass er Kontakte zur rechtsextremen Terrorgruppe Combat 18 unterhielt – ob E. kürzlich auf einem Combat-18-Konzert war oder nur verwechselt wurde, steht derzeit allerdings noch nicht zweifelsfrei fest.
Dass E. möglicherweise als lone wolf handelte, würde zur Strategie des 2012 gegründeten deutschen Ablegers von Combat 18 passen. Dessen Mitglieder werden dazu angehalten, in kleinen Zellen autonom Waffendepots anzulegen und Terroranschläge zu planen.

Der antifaschistischen Rechercheplattform Exif zufolge umfasst Combat 18 in Deutschland zwar nur etwa 50 Mitglieder, diese seien jedoch gut organisiert. Combat 18 gilt als der bewaffnete Arm des im Jahr 2000 verbotenen Neonazinetzwerks »Blood & Honour«, dessen Chemnitzer Mitglieder die untergetauchten NSU-Mitglieder Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt logistisch unterstützt hatten. Die Terrorgruppe bereitet sich auf den in Europa vermeintlich bevorstehenden »Rassenkrieg« unter anderem mit Schießübungen vor. Am 24. September 2017 waren Autos deutscher Mitglieder von Combat 18 aus Tschechien kommend von der Spezialeinheit GSG 9 der Bundespolizei durchsucht worden, dabei wurde Munition beschlagnahmt. Ziel der Reise war ein Schießtraining im Grenzort Cheb gewesen. Auch in Bulgarien wurden Schießübungen von Combat 18 bekannt.

Einer der zwölf im September 2017 angehaltenen Neonazis war Stanley R., der bereits die 2015 verbotene Gruppe Sturm 18 mitgegründet hatte und im Landkreis Kassel wohnt. In seiner Tasche sollen die Beamten scharfe Munition gefunden haben, wie das ARD-Magazin »Panorama« berichtete. R. soll Leiter des deutschen Ablegers von Combat 18 sein und den Kasseler Stephan E. kennen – beide nahmen 2002 an einer NPD-Wahlkampfveranstaltung teil.

Die Exif-Recherchen werden von Rechtsextremen natürlich in Zweifel gezogen. In rechten Kreisen wird derzeit emsig an einer Verschwörungstheorie gebastelt, wonach E. im Grunde niemals ein Neonazi war und der Verfassungsschutz den Mord an Lübcke begangen habe. Einschlägige Blogs haben dazu nicht sehr faktenreiche, dafür aber lange Artikel verfasst, die E. entweder als gänzlich unschuldig oder als mordlustigen V-Mann beschreiben.

Die Strategie ist klar: Es sollen auch beim bürgerlichen Publikum Zweifel an der offiziellen Darstellung geweckt und damit der Fokus der Öffentlichkeit von militanten Neonazis und vor allem Combat 18 abgelenkt werden. Auch die Hetzkommentare, deren Ziel Lübcke und andere Politiker und Prominente, die sich für Flüchtlinge einsetzen, waren und sind, sollen als harmlose freie Meinungsäußerungen dargestellt werden, die lediglich dem Frustabbau dienten und keinesfalls als Gewaltaufrufe zu verstehen seien.