Der Attentäter von Wächtersbach ­lebte in einem rassistischen Milieu

Wenn niemand die Rassisten stoppt

Das Milieu, in dem sich der Attentäter von Wächtersbach bewegte, hatte mit dessen extrem rechter Gesinnung kein Problem. Viele wollen das nicht wahrhaben.

Etwa 250 Menschen demonstrierten am Samstag in Wächtersbach, einer Kleinstadt zwischen Frankfurt am Main und Fulda im hessischen Main-Kinzig-Kreis, gegen Rassismus. Aufgerufen hatten migrantische Gruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet; aber auch einige Bewohner des Orts beteiligten sich daran.

Fünf Tage zuvor hatte Roland K. in der Wächtersbacher Industriestraße auf einen Mann aus Eritrea geschossen und ihn schwer verletzt. Das Opfer konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden. Wenige Stunden später wurde K. tot in seinem Auto gefunden. Er hatte sich selbst getötet.
Schnell wurde klar, dass es sich um einen rassistischen Mordversuch handelte. K. hatte sein Opfer nur wegen dessen Hautfarbe ausgesucht. Hinweise auf eine extrem rechte Gesinnung des Täters sehen die Ermittlungsbehörden dennoch nicht. So teilte der für die Ermittlungen verantwortliche Oberstaatsanwalt mit, es gebe bislang keine belastbaren Erkenntnisse darüber, »dass Kontakte in die rechtsnationale oder rechtsextreme Szene bestanden«. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung korrigierte sogar einen ­Artikel und entschuldigte sich dafür, dass sie Roland K. in der rechten Szene verortet hatte. Dabei war zu diesem Zeitpunkt längst bekannt, dass es in Wächtersbach und Umgebung ein entsprechendes Umfeld gab, in dem der Täter mit seinen rassistischen Ansichten nicht auffiel.

K. hatte die Tat in seiner Stammkneipe, dem Martinseck in einer Nachbargemeinde von Wächtersbach, mit den Worten angekündigt, dass er jetzt »einen Halbschwarzen« abknallen werde. Nach der Tat kam er in die Kneipe zurück, trank zwei Bier und prahlte mit seiner Tat. Keinen der Anwesenden schien das besonders zu stören. Verwunderlich ist das nicht. Roland K. war als »Asylantenhasser« bekannt, wie ein Bekannter von ihm dem Hessischen Rundfunk sagte. Er suchte sich ein Milieu aus, in dem er mit seinem Rassismus keinen Anstoß erregte. Aktivitäten in sozialen Medien lassen vermuten, dass auch der Wirt des Martinsecks, Dirk R., eine extrem rechte Gesinnung hat. Auf Facebook hatte er sich beispielsweise positiv über die »Reichsbürger«-Bewegung und über die neonazistische NPD geäußert. So teilte er unter anderem einen Text mit der Überschrift »Es gibt nur ein Deutschland und da ist für BRD kein Platz«.

Unklar ist noch, ob K. das Datum für seine Tat bewusst aussuchte. Genau acht Jahre zuvor, am 22. Juli 2011, hatte der norwegische Neonazi Anders Breivik 77 Menschen in Oslo und auf der Insel Utøya ermordet. Am 22. Juli 2016 erschoss der Rassist David Sonboly neun Menschen in einem Münchner Einkaufszentrum. In einem vor der Tat verfassten Manifest benannte Sonboly Breivik als eines seiner Vorbilder. »Es darf nicht zugelassen werden, dass der 22. Juli zu einem Symboltag wird, an dem Rechtsterroristen Gewalttaten verüben«, twitterte die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Hessischen Landtag, Janine Wissler, nach dem Wächtersbacher Mordanschlag. Ob Roland K. ebenfalls bewusst am 22. Juli ein blutiges Fanal setzen wollte, wird vielleicht klarer, wenn die Ermittlungsbehörden den Abschiedsbrief des Täters freigeben, der derzeit noch ausgewertet wird.
Der Mordversuch hat Ausmerksamkeit auf die auch bundesweit relevante extrem rechte Szene in Wächtersbach und Umgebung gerichtet. So soll Carsten M. aus der Nachbargemeinde Linsengericht zu den Mitbegründern der rassistischen Gruppe Aryans zählen, einer Organisation gewaltbereiter Neonazis. Ihre Mitglieder treten mit Sweatshirts auf, auf denen neben dem Gruppennamen auch die Aufforderung »Support Your Race« steht. Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt seit März 2018 gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der Aryans wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129a des Strafgesetzbuchs.

An einem Hindernislauf, der unter dem Titel »Strong Viking Run« am 16. September 2018 in Wächtersbach stattfand, nahm auch der Dortmunder Neonazi Sven Kahlin teil. Er ist auch nach Verbüßung einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Totschlags – er hatte 2005 den Punk und Familienvater Thomas Schulz erstochen – weiterhin fest ins neonazistischen Milieu eingebunden.
Seit mehreren Jahren wird der ehemalige Landrat des Rhein-Kinzig-Kreises, Erich Pipa (SPD), mit Drohbriefen terrorisiert, weil er sich im Herbst 2015 für die Unterstützung von Flüchtlingen ausgesprochen hatte. »Das Boot ist noch lange nicht voll«, sagte Pipa damals. Er wird auch nach seiner Pensionierung weiter von Rechtsextremen bedroht. Vor wenigen Monaten sei bei ihm privat erneut ein Drohschreiben eingegangen, berichtet Pipa. »Das Übliche«, sagt der 71jährige über den Brief. Unter anderem sei ihm angekündigt worden: »Wir kriegen Dich doch noch.« Größere Aufmerksamkeit bekamen die Drohungen gegen Pipa, nachdem der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) Anfang Juni von einem Neonazi erschossen worden war. Auch Lübcke hatte jahrelang Drohungen von extremen Rechten erhalten. »Die Gefährdungslage des ehemaligen Landrats wird vor dem Hintergrund des Falls Lübcke erneut überprüft«, teilte die Oberstaatsanwaltschaft dem Hessischen Rundfunk mit. Es wird also überlegt, ob Pipa wieder besonderen Schutz benötigt.

Doch nicht nur Pipa wird in Wächtersbach bedroht. »Wenn man sich hier engagiert, muss man schon mal mit rechten Drohbriefen rechnen«, sagt auch Stephan Siemon von der Wächtersbacher Buchhandlung »Dichtung und Wahrheit« der Jungle World. Auch ihm sei schon mehr als einmal ein solcher Drohbrief unter die Tür seines Ladens geschoben worden. Doch einschüchtern lässt sich Siemon, der sich als »kleines Kerlchen mit einem starken Kopf« beschreibt, davon nicht. Der Buchhändler gehört zum Unterstützerkreis für Geflüchtete in Wächtersbach. »Wir haben hier eine dezentrale Unterbringung. Die Menschen leben unter uns«, lobt Siemon den offiziellen Umfang mit den Migranten in den Stadt.
Auch der schwerverletzte Mann aus Eritrea gehört zu der Gruppe. Siemon hatte bereits zwei Tage nach dem Mordversuch am Ort der Tat eine Kundgebung unter dem Motto »Wächtersbach gegen Rassismus« mitorganisiert. Dazu hatten auch zahlreiche Parteien und Verbände aus der Umgebung ­aufgerufen.

Die Demonstration am Samstag hingegen wurde ohne jegliche Unterstützung von Parteien organisiert. Einen Tag danach erinnert in der kleinen Stadt mit den vielen Fachwerkhäusern nichts an den Mordanschlag und die antirassistischen Proteste der vergangenen Tage. Alle Aufkleber und Plakate wurden sofort gründlich entfernt. Nur in der Nähe des Schlossgartens steht ein Gedenkstein – er erinnert an »die Opfer von Flucht und Vertreibung«. Damit sind allerdings Menschen mit deutschem Pass gemeint, die nach 1945 ihre osteuropäischen Heimatländer verlassen mussten. Viele von ihnen waren begeisterte Nazis, haben sich in der Nachkriegszeit in der BRD in rechtslastigen, oft revanchistischen Verbänden organisiert und wurden von Politikern von CDU, CSU und anderen Parteien hofiert. Ihr Gedenkort wird in Wächtersbach noch immer mit frischen Blumen bedacht.