Das deutsche Bürgertum und die AfD

Die rohen Seiten der Bourgeoisie

Ist die AfD eine bürgerliche Partei?

Ein beiläufig gesagter Satz bestimmt seit den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen die politische Grundsatzdebatte. Die MDR-Moderatorin Wiebke Binder wollte am Wahlabend von dem sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz wissen, warum die Union kein Bündnis mit der AfD in Betracht ziehe. »Eine stabile Zweierkoalition, eine bürgerliche, wäre ja theoretisch mit der AfD möglich«, bemerkte sie. In den politischen Feuilletons und den Parteizent­ralen wird seither eine aufschlussreiche Diskussion darüber geführt, ob die AfD eine »bürgerliche Partei« sei. Die Vehemenz, mit der diese Bezeichnung mit Blick auf die AfD zurückgewiesen wird, ist dabei bezeichnend.

Bürgerlichkeit ist ein von den politischen Parteien der Bundesrepublik verklärtes Ideal, als Selbstetikettierung soll der Begriff vorzugsweise der Union, der FDP und mittlerweile auch den Grünen vorbehalten bleiben. Die anfangs als »Professorenpartei« bezeichnete AfD gilt gegenwärtig als Antipode der »Bürgerlichkeit« in Deutschland. Dabei läge es angesichts der jahrelangen Diskussionen über »Wutbürger« und »besorgte Bürger« oder über die von dem Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer bereits 2011 diagnostizierte »rohe Bürgerlichkeit« nahe, die AfD präziser als das Verdrängte im Sozialcharakter des Bürgertums zu begreifen. Und dessen bisheriges Selbstverständnis wird gerade durch die jüngsten Wahlerfolge der Partei in Brandenburg und Sachsen herausgefordert.

Das inflationär verwendete Etikett »bürgerlich« beschreibt das Selbstbild von wirtschaftlich bessergestellten Staatsbürgern, die sich als tätige und eigenverantwortliche Individuen begreifen und derart ihren besonderen Anspruch auf die maßgebliche Gestaltung der politischen Verhältnisse erheben. Das »Bürgertum« war nie ein ­homogener Block und ist soziokulturell gespalten. Seine parlamentarische Vertretung findet es vorzugsweise in der als konservativ geltenden Union, der liberalen FDP oder neuerdings bei den Grünen. Nicht- oder gar antibürgerliche Kräfte sind rar und selbst die größten Antikommunisten würden den von der SPD und der Linkspartei geführten ­Berliner Senat kaum als »proletarische Koalition« titulieren.

 

Nicht nur aus taktischen Gründen beansprucht der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland deshalb den Begriff »bürgerlich« auch für seine Partei. »Bürgerlich sein heißt, seinen Unterhalt selbst zu verdienen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen«, schrieb er vorige Woche in einem Gastbeitrag in der Welt.

Gegründet wurde die AfD in einem erz­bürgerlichen Milieu, die Partei konnte schon früh neben Nichtwählern vor allem enttäuschte Liberale und Christdemokraten für sich gewinnen. Unter den Abgeordneten der AfD im Bundestag und in den Landtagen üben so viele selbständige Berufen aus, dass selbst die Union neidisch werden könnte. Die Empörung über die Abtretung politischer Entscheidungskom­petenzen an die EU teilen die Funktionäre der AfD mit »Eurokritikern« vor allem in der CSU und FDP. Die Führung der AfD rekrutiert sich aus Leuten, die sich nur wenig vom ehemaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, unterscheiden. »Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen«, sagte Maaßen im Sommer vor einem Ortsverband der Union. Alexander Gauland, einst Gründer des »Berliner Kreises« der CDU, hat längst die Konsequenz gezogen.

Den bürgerlichen Charakter der AfD wollen diejenigen nicht sehen, die in Abgrenzung von der Partei Bürgerlichkeit für sich beanspruchen. Dass aber das deutsche Bürgertum historisch alles andere als ein Hort der Demokratie und beispielsweise auch die »Westbindung« nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst umkämpft war, gerät dabei in Vergessenheit.

Wer unter »Bürgerlichkeit« in erster Linie einen Benimmkanon, einen Habitus oder eine Frage der Garderobe versteht, kommt wie die Neue Zürcher Zeitung vor allem zu dem Befund, dass die »Kommunikation der AfD« an eine »vollgeschmierte Klowand« erinnere. Was nicht völlig falsch ist: Alexander Gauland mag ein beflissener Liebhaber des feinen englischen Konservatismus sein, seine Rede vom Nationalsozialismus als »Vogelschiss« in der 1 000jährigen deutschen Geschichte übertönte aber sogar den völkischen Lautsprecher Björn Höcke. Die Parteiversammlungen der AfD haben wenig mit dem gepflegten Stil von Debattierclubs gemeinsam.

 

Gerade unter Gauland wurde die AfD zur Partei des »Volkszorns«. Solange der Vorsitzende »Halb-, Viertel- und Neonazis in der AfD« dulde, könne sie keine »bürgerliche Partei« sein, antwortete Ulf Poschardt in der Welt auf Gaulands Beitrag. Dass historisch ge­sehen die Gegensätze zwischen Nationalsozialisten und Teilen des Bürgertums rasch überwunden wurden, wird so verdrängt. Gaulands politische Allianz mit Björn Höckes »Flügel« zeigt, welche Bündnisse zwischen Nationalkonservativen und völkischen Rechten heutzutage möglich sind.

Herausgefordert und konterkarriert wird das Selbstbild der AfD als bürger­liche Partei derzeit auf einer weniger beachteten Ebene. Denn die spätestens seit 2016 zu verzeichnende Wahlzustimmung für die einstige Honoratiorenpartei gerade bei Lohnabhängigen und Arbeitslosen zeigt, dass die AfD nicht nur bei jenen auf Zustimmung hoffen kann, die sich als ihres eigenen Glückes Schmied gefallen. Wenn Gauland zurzeit mit Sentenzen wie »Bürgerlich denken heißt, in Rangordnungen zu denken« an die Öffentlichkeit drängt, muss er solche Positionen im »ent­bürgerlichten Osten« besonders begründen. Sozialpolitisch gibt es beispielsweise Diskrepanzen zwischen dem überwiegend wirtschaftsliberalen Programm der Gesamtpartei und dem Konzept der »Produktivitätsrente«, mit dem die AfD unter Björn Höcke für die Landtagswahlen am 27. Oktober in Thüringen wirbt. Das Rentenkonzept trägt der Situation Rechnung, dass sich der Leistungsfetisch an der Wirklichkeit blamiert und wegen der Vielzahl »gebrochener Erwerbsbiographien« Rentner mit 45 Beitragsjahren kein Regelfall sind. Seinen national-sozialen Charakter erhält das Konzept durch die verbindung mit einer »Staatsbürgerrente«, die nur deutschen Staatsbürgern ausgezahlt werden soll.

Gauland äußert Sätze wie: »Eine bür­gerliche Partei will das Eigentum schützen und die freie Wirtschaft ver­tei­digen«, die jene Beschäftigten verhöhnen, die unter den inzwischen auch von der AfD beklagten Bedingungen des von der »freien Wirtschaft« erzeug­ten Niedriglohnsektors arbeiten müssen. Zurzeit gelingt der AfD eine in sich widersprüchliche Ansage: Die Partei erreicht mit dem »bürgerlichen« Lob des Eigentums die sich als geschröpfte Steuerzahler verstehenden Selbstän­digen, die nicht für das Elend anderer zahlen wollen, zugleich aber auch die Niedriglöhner und staatlich alimentierten Transferleistungsempfänger, die kaum zur Selbstbestimmung in Gaulands Sinn qua Leistung, Einkommen oder gar Eigentum in der Lage sind.