Kritik an der Historikerin Joan Wallach Scott für ihre Haltung zu Kritik an Israel

Taschenspielertrick der Kritikabwehr

Zu Recht kritisiert die Historikerin Joan Wallach Scott den »affective turn« an US-amerikanischen Universitäten. Das von Scott gewählte Fallbeispiel aber enthüllt ein krudes Denken.

Die Forderung nach »Freedom of speech« hat sich im Verlauf der gegen­wärtigen US-amerikanischen »campus wars« von einem ehemals von Linken gebrauchten Schlagwort zu einem der Konservativen bis Rechten gewandelt. Der Intellektuellendarsteller Jordan Peterson und seine von Kenntnis der Materie ungetrübte Warnung vor einem »postmodernen Kulturmarxismus«, mit dem junge Menschen in Anstalten höherer Bildung angeblich indoktriniert werden, ist dafür, trotz seiner unfreiwilligen Komik, vermutlich kein allzu schlechtes Beispiel, auch wenn er kanadischer Staatsbürger ist. Sein Vorwurf und der vieler anderer lautet: Die freie Meinungsäußerung an Universitäten werde von weltfremden Ideologen (im Alltagssinne des Wortes) unterdrückt. Pikant sind angesichts dieser Selbstinszenierung als Märtyrer der freien Rede Petersons vor kurzem bekannt gewordenen Verleumdungsklagen gegen Akademiker, die ihn polemisch kritisiert hatten.

Scott betont zu Recht, dass kritisches Denken eine disziplinierte und im emphatischen Sinne intolerante Praxis ist – oder es ist kein kritisches Denken.

Stehen US-amerikanische Konservative schon seit jeher im Ruf, gerne auf der Klaviatur des Antiintellektualismus zu spielen, so dürften auch Verschiebungen in der Sozialstruktur und den Wählermilieus in den USA eine gewichtige Rolle spielen. Wählten bis zu den sechziger Jahren weiße Amerikaner mit College-Abschluss noch überwiegend die Republikaner, und diejenigen ohne diesen Abschluss die Demokraten, so hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgekehrt. Diese diploma divide, die das weiße Amerika politisch spaltet, konnte man am Wahlergebnis von 2016 deutlich ab­lesen.

In besonders schlechtem Ruf stehen die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten, denen, je nach Standpunkt, seit ehedem das schlechte – oder eben allzu gute – Image anhängt, kein unmittelbar verwertbares Wissen zu produzieren. Die His­torikerin Joan Wallach Scott hat das zum Anlass genommen, eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen mit sowohl grundsätzlichen als auch biographisch gefärbten Überlegungen zu veröffentlichen, die nuanciert, aber deutlich Einspruch gegen diese populäre Ansicht einlegen.

Scott legt in ihrem Buch »Knowledge, Power, and Academic Freedom« großen Wert auf die Feststellung, dass die eigentlich triviale Unterscheidung zwischen free speech und akademischer Freiheit unter den Bedingungen des neoliberalen Umbaus höherer Bildung nivelliert wird. Akademische Freiheit, so Scott, hat nichts mit einem Supermarkt der Befindlichkeiten zu tun, in dem der Kunde König ist, sondern beruht vielmehr auf der sozialen Kontrolle durch Lehrende, Fakultät und Wissenschaftsgemeinschaft, welche gleich­zeitig die paradoxe Voraussetzung für die relative Autonomie der Universität von äußeren Einflüssen ist. Mündige Autonomie setzt ein gewisses Maß an Heteronomie voraus, ein spätestens seit Kant bekanntes Pro­blem, das vor dem Hintergrund der egenwärtigen Konjunktur eines neu-alten Antiintellektualismus allerdings offenbar wieder artikuliert werden muss.

 

Scott betont zu Recht, dass kritisches Denken eine disziplinierte und im emphatischen Sinne intolerante Praxis ist – oder es ist kein kritisches Denken. Das schreibt sie durchaus auch Studenten, die ihr politisch nahestehen, ins Stammbuch, wenn sie bestimmte Formen des campus activism kritisiert. Es klingt wie ein Nachhall auf Adornos Lob des Elfenbeinturms in einem Spiegel-Interview 1969, »daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft«, wenn Scott die Impulsivität und oft diffuse Empörung von studentischen Aktivisten ihr Plädoyer für intellektuelle, methodische und strategische Strenge entgegenhält.

In diesem Zusammenhang warnt Scott vor einem »affective turn« in der höheren Bildung, der sich gerade vollziehe und der um die Forderungen von Studierenden nach emotionaler »Sicherheit« kreist, die für Scott wiederum ein Einfallstor für sachfremde Einflussnahme und Entpolitisierung darstellt. Dieser Affektdiskurs werde flankiert von einer neuen Emphase von Höflichkeit und Anstand (»civility«), deren oft historisch rassistische und antisemitische Semantik Scott knapp, aber instruktiv skizziert. »Civility«, so Scott, gehöre als Norm insofern zum »affective turn«, als es gelte, nur ja zu vermeiden, dass jemand von politischen oder wissenschaftlichen Ideen verletzt werden könnte. Scotts Befund wird durchaus auch von Beispielen außerhalb der Universität bestätigt. So produziert etwa der demokratische Präsidentschaftskandidat Tim Ryan ein besonders peinliches Dokument »protestantischer Etikette« unter dem Vorzeichen von »civility«: Dem Kongressabgeordneten aus Ohio ist es nicht zu dumm, Aufkleber mit dem Slogan »You don’t have to yell« unters Volk zu bringen, eine allzu höflich vorgebrachte Spitze gegen seinen Mitbewerber Bernie Sanders, dessen Rhetorik schon häufiger von Konkurrenten beanstandet wurde.

So sehr man ihrer Diagnose hier folgen möchte, so irritierend ist Scotts Fallbeispiel. Im August 2014 hätte der Politik- und Literaturwissenschaftler Steven Salaita eine Stelle an der University of Illinois antreten sollen. Dazu kam es nicht, da die Berufungskommission, nach der scharfen Kritik an einigen Tweets Salai­tas anlässlich des Gaza-Konflikts von 2014 Zweifel an seiner Eignung für die Lehre hatte. In Scotts Nach­erzählung handelte es sich hier um den Versuch, einen aufrecht empörten Nachwuchswissenschaftler mit wissenschaftsfremden Mitteln mundtot zu machen, und sie zieht Parallelen zur McCarthy-Ära.

 

Dass Salaita sich bei seinen »heftigen Invektiven« (Scott) auf Twitter unter anderem recht unverhohlen der Ritualmordlegende bediente, erfährt man leider nicht. Im Versuch, einen cordon sanitaire gegen das antiintellektuelle Außen zu errichten, verweigert sie die Überprüfung der Vorwürfe, die ohne Umschweife einfach als Rufmordkampagne gegen Kritiker Israels behandelt werden. Der britische Soziologe David Hirsh hat für diesen populären Taschenspielertrick der Kritikabwehr den Ausdruck »Livingston formulation« geprägt, nach dem ehemaligen Londoner Bürgermeister, der sich besonders prominent in dieser Disziplin hervorgetan hat. Antisemitismus werde in diesem Modus als eine subjektive Empfindung und nicht als ein objektives soziales Phänomen behandelt, über das man rational diskutieren kann – und auch muss.

In genau dieses Horn stößt Scott, wenn sie einen Diskursmechanismus ausgemacht haben will, der die Äquivalenzreihe Kritik an Israel gleich Antisemitismus gleich »incivility« zugrunde liegt, ein Meschanismus, der als Waffe gegen kritische Wissenschaftler verwendet werde. Ihr Argument wird hier zirkulär: Sie suggeriert, dass es sich nur um einen Affekt handeln kann, wenn Kritik an Israel als antisemitisch bezeichnet wird, um die unheilvoll entpolitisierende ­Wirkung des »affective turn« zu demonstrieren. Über die wissenschaftliche Frage, ob und wann Kritik an Israel nicht durchaus auch objektiv antisemitisch sein kann, verliert sie kein Wort.

Die bittere Ironie dieser impliziten Gleichsetzung einer bestimmten Art von Kritik mit Zensur ist freilich, dass dies sehr dem gewollten Missverständnis ähnelt, mit dem auch ihre Kontrahenten in der Debatte gerne hausieren gehen: Man darf ja heute gar nichts mehr sagen …

Joan Wallach Scott: Knowledge, Power, and Academic Freedom. Columbia University Press, New York 2019, 171 Seiten, circa 25 Euro