Die Regierungsbildung in Israel gestaltet sich auch nach den Neuwahlen schwierig

Unorthodoxe Lösung gefragt

In Israel gestaltet sich auch nach den jüngsten Parlamentswahlen am 17. September, nur fünf Monate nach den vorigen Wahlen, die Regierungs­bildung sehr schwierig. Ein wichtiger Streitpunkt ist die Rolle der Orthodoxen.

Das Ergebnis ähnelt dem der Wahlen gut fünf Monate zuvor, nur dass die beiden führenden Kräfte diesmal einige Mandate eingebüßt haben. Bei den ­israelischen Parlamentswahlen am 17. September kamen sowohl das oppositionelle Bündnis Blau-Weiß als auch der bislang die Regierung führende Likud auf rund ein Viertel der Stimmen; Blau-Weiß erhielt 33 von 120 Sitzen der Knesset, dem israelischen Parlament, zwei weniger als im April; der Likud 31 Sitze, sieben weniger als im April.

Am 9. April hatten in Israel vorgezogene Parlamentswahlen stattgefunden, die auch als Abstimmung über den unter Korruptionsverdacht stehenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu gewertet wurden. Um eine weitere Amtszeit Netanyahus zu verhindern, hatte sich vor der Wahl das Bündnis Blau-Weiß formiert, unter Führung des ehemaligen Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Benny Gantz. Neben dessen Partei Hosen L‘Yisrael gehören dem Bündnis die Partei Yesh Atid unter Yair Lapid sowie die Partei Telem des ehemaligen Generalstabschefs der israelischen Streitkräfte Moshe Ya’alon an. Mit Gabi Ashkenazi schloss sich dem Bündnis zudem ein dritter ehemaliger Generalstabschef an.

Netanyahu brandmarkte Blau-Weiß unermüdlich als »links« und verdächtigt das Bündnis, mit den arabischen Parteien koalieren zu wollen. Warnungen vor Linken und Arabern wirken erfahrungsgemäß gut bei weiten Teilen der Wählerschaft des Likud.

Bei der Wahl im April lag der Likud gleichauf mit Blau-Weiß. Da rechte und orthodoxe Parteien insgesamt aber 65 von 120 Mandaten erhielten, beauftragte Präsident Reuven Rivlin den amtierenden Ministerpräsidenten Netanyahu mit der Bildung einer neuen Regierung. Im Mai berichtete Haaretz, Netanyahu sei während der Koalitionsverhandlungen für umfassende Reformen eingetreten, die es der Knesset und den Ministern ermöglicht hätten, Entscheidungen des Obersten Gerichts zu ignorieren – beispielsweise eine mögliche Aufhebung der Immunität Netanyahus. Eine Regierungskoalition kam allerdings wegen der Differenzen zwischen den orthodoxen Partnern des Likud und Avigdor Liebermans säkularer, nationalistischer Partei Yisrael Beiteinu nicht zustande. Lieberman, ein langjähriger Vertrauter Netanyahus, fordert die Wehrpflicht auch für Orthodoxe.
Da das Parlament für seine Auflösung votierte, bevor der Präsident einen anderen Abgeordneten mit der Regierungsbildung beauftragen konnte, kam es am 17. September erneut zu Wahlen. Das setzt Netanyahu gehörig unter Zeitdruck. Nach ­einer Anhörung Anfang Oktober soll Generalstaats­anwalt Avichai Mandelblit Ende dieses Jahres in drei Korruptionsfällen endgültig entscheiden, ob er gegen Netanyahu ­Anklage erhebt. Es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass es in keinem der Fälle zur Anklage kommt.

Während des Wahlkampfs warf Netanyahu der Presse, der Opposition, der Polizei und der Staatsanwaltschaft vor, eine »Hexenjagd« auf ihn zu betreiben, und verunglimpfte kritische Berichterstattung über ihn als fake news. Trotz der Panikmache vor Linken, Arabern und kritischen Medien, die er auf seinen Kanälen in den sozialen Medien bis zur Schließung der Wahllokale in den schrillsten Tönen betrieb, konnte er nicht das erhoffte Ergebnis erzielen. Der Likud bekam zusammen mit den ihm verbundenen Parteien Kulanu und Zehut 300 000 Stimmen und acht Mandate weniger, als die drei Parteien im April auf sich vereinigen konnten.

Auch 51 Prozent der Wähler des Likud lehnen eine Beteiligung von orthodoxen Parteien an der Regierung ab.

Wenn jede Partei an ihren Kernforderungen festhält, ist eine Regierungsbildung kaum möglich. Der Likud, die orthodoxen Parteien und das Bündnis Neue Rechte kämen zusammen auf 55 Mandate. Blau-Weiß käme zusammen mit der Arbeitspartei und Meretz auf nur 44 Mandate. Würde der Mitte-links-Block auch von den arabischen Parteien unterstützt, käme er auf mehr Mandate. Tatsächlich empfahl Ayman Odeh, der Vorsitzende der Vereinten Liste, eines Zusammenschlusses von vier arabischen Parteien, Gantz als Ministerpräsidenten. Erstmals seit 1992 sprachen sich arabische Parteien damit für einen zionistischen Politiker als Regierungschef aus; damals war es Yitzhak Rabin. Eine Koalition unter Beteiligung der Vereinten Liste ist derweil für Blau-Weiß nicht denkbar und wird auch von den meisten arabischen Israelis abgelehnt. Balad, eine der Parteien der Vereinten Liste, die drei der 13 arabischen Abgeordneten stellt, stellte sich allerdings gegen die Empfehlung von Odeh für »General Gantz«. Wie die Vereinte Liste in einem Brief an Rivlin schrieb, empfehle sie Gantz nur mit zehn ihrer 13 Mandate.

Gantz käme also nur auf 54 wohlgesinnte Abgeordnete, einen weniger als ein rechtes Bündnis für Netanyahu.
Lieberman, dessen Partei acht Mandate erringen konnte, ist nicht gewillt, diese einzusetzen, um einer Seite zur Mehrheit zu verhelfen, und pocht seinerseits auf eine Einheitsregierung von Blau-Weiß, Likud und Yisrael Beiteinu, ohne die Beteiligung von Arabern und Orthodoxen. Einer solchen Koalition, die rechnerisch auch ohne Lieberman möglich wäre, steht im Weg, dass der Likud, die Neue Rechte und die orthodoxen Parteien sich kurz nach der Wahl darauf verständigt haben, nur gemeinsam und unter der Führung ­Netanyahus zu agieren. Sich dem anzuschließen, würde allem widersprechen, wofür Blau-Weiß bislang steht.

 

Im Mittelpunkt des Wahlkampfs stand neben dem »Referendum« über Netanyahu die Frage nach der Rolle der Religion im Staat. Viele Wählerinnen und Wähler von Blau-Weiß wünschen, dass Rabbiner im Bildungssystem sowie bei geschäftlichen und zivilrechtlichen Belangen nichts mehr zu sagen haben. Für Angelegenheiten wie Eheschließungen, Bestattungen und Konversionen sind in Israel die Religionsgemeinschaften zuständig, für Jüdinnen und Juden also das Oberrabbinat. Wegen der Orthodoxen sind am Sabbat der öffentliche Nahverkehr und der Handel an vielen Orten eingeschränkt. Sie nutzten in den vergangenen Jahrzehnten ihren überproportional großen Einfluss, um ein Netzwerk von Schulen zu betreiben, in denen oft nur wenig Mathematik oder Englisch unterrichtet wird, und haben jede gesetzgeberische Bemühung blockiert, Religionsschüler zum Wehrdienst zu verpflichten.

90 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Blau-Weiß lehnen eine Beteiligung von orthodoxen Parteien an der Regierung ab. Heikel für Netanyahu ist, dass das auch für 51 Prozent der Wählerinnen und Wähler des Likud gilt.

Um den Konflikt über das Gesetz zum Wehrdienst zu verstehen, muss man bis zu den Sozialprotesten 2011 zurückgehen, die sich zunächst gegen die hohen Lebenshaltungskosten in ­Israel richteten. Der Unmut über die Belastungen für die arbeitende israelische Bevölkerung verlagerte sich mit der Zeit. Beanstandet wurde schließlich auch die ungleiche Lastenverteilung zwischen der säkularen und der orthodoxen Bevölkerung, da deren Ange­hörige viele Sozialleistungen und Subventionen erhalten und keinen Wehrdienst leisten müssen. Yair Lapid, der sich vehement für ein Ende der Privi­legien der Orthodoxen einsetzte, sprach säkularen Israelis aus der Seele. Hauptstreitpunkt in der Auseinandersetzung war der Wehrdienst. Seit der Staatsgründung waren Orthodoxe und arabische Israelis vom Armeedienst frei­gestellt. Das Tal-Gesetz, das diese Ausnahmeregel bestätigte, wurde 2002 für fünf Jahre verabschiedet und 2007 für fünf Jahre verlängert, doch der Oberste Gerichtshof erklärte das Gesetz 2012 für rechtswidrig.

Eine vom Komitee für gerechte Lastenverteilung erarbeitete Quotenregelung für die Rekrutierung von Studenten an Religionsschulen führte 2014 zu heftigen Demonstrationen. Bei den größten Protesten versammelten sich mehr als eine halbe Million Orthodoxe. Nachdem die Regelungen durch Verwässerung und Aufschiebung praktisch außer Kraft gesetzt worden waren, schritt das Oberste Gericht 2017 ein und verpflichtete die Regierung, ein Gesetz zu erlassen, das den Wehrdienst für Orthodoxe abschließend regelt. Das damals von Lieberman geführte Verteidigungsministerium erarbeitete ein Gesetz, das dem Verteidigungsausschuss vorgelegt wurde. Die Diskussion darüber im April verursachte so viel Streit, dass die Regierungsbildung scheiterte.

Lieberman verlangt die Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes ohne weitere Zugeständnisse an die Orthodoxen, die ihrerseits zur Bedingung für eine Koalition machen, dass das Torastudium als Ersatz für den Wehrdienst anerkannt wird. Zu den Forderungen Liebermans, dem darin ein großer Teil der säkularen israelischen Bevölkerung zustimmt, gehörte, dass öffentlicher Nahverkehr und Handel am Sabbat weiterlaufen und die Schulen der Orthodoxen gewisse Bildungsstandards einhalten.

Eine Abgeordnete der Arbeitspartei, Merav Michaeli, kommentierte nach der Wahl, dass linke Parteien die Macht der Orthodoxen schon lange kritisiert hätten, es aber offensichtlich Wirkung zeige, wenn ein rechter Politiker dieses Problem anspricht. Die Zersplitterung in kompromiss­unwillige politische Lager spiegelt die Zersplitterung der Gesellschaft, die sich an den Ergebnissen in einzelnen Wahlbezirken ablesen lässt. Da es nicht gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen kann, wird die Bildung einer Regierung noch sehr schwierig werden.