Über das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus

Antizionismus und Antisemitismus

Der Antizionismus hat eine lange Geschichte, die im Judentum selbst beginnt. Nicht immer ist er Ausdruck von Antisemitismus. Die Gefährlichkeit des linken Antizionismus ist dennoch nicht zu unterschätzen.

I
Antizionismus floriert heutzutage in vielen Teilen der Linken, und die Standardantwort vieler jüdischer Organisationen und der meisten Juden, die ich kenne, ist, ihn die neueste Version des Antisemitismus zu nennen. Aber der Antizionismus ist ein Thema für sich; er kommt in vielen Varianten vor, und welche davon antisemitisch sind – das ist die Frage, um die es mir hier gehen soll. Ich verstehe unter Zionismus den Glauben an die Rechtmäßigkeit der Existenz eines jüdischen Staates – nicht mehr. Der Antizionismus leugnet diese Rechtmäßigkeit. In diesem ­Zusammenhang geht es mir um den linken Antizionismus in den USA und Europa.

Die meisten Formen des Antizionismus kamen erstmals unter Juden auf. Die wahrscheinlich älteste betrachtet den Zionismus als eine jüdische Häresie. Nach der orthodoxen Lehre soll die Rückkehr der Juden nach Zion und die Errichtung eines Staats die Aufgabe des Messias sein. Bis zu dessen Kommen müssen Juden ihr Exil annehmen, sich den heidnischen Herrschern unterwerfen und auf die göttliche Erlösung warten. Politisches Handeln ist eine Anmaßung des Vorrechts Gottes. Zionistische Autoren hassten die Passivität, die diese Lehre hervorbrachte, mit solcher Leidenschaft, dass die orthodoxen Juden sie als Antisemiten bezeichneten. Die Orthodoxen selbst hätten diesen Begriff jedoch nie für ihre eigene Ablehnung des zionistischen Projekts verwendet.

Es gibt eine linke Variante des Wartens auf den Messias, die man als das Warten auf die Revolution bezeichnen könnte. Juden (und anderen Minderheiten) wurde oft gesagt, dass alle ihre Probleme nur durch den Sieg des Proletariats gelöst werden könnten. Viele Juden sahen darin einen Ausdruck von Feindseligkeit, eine Weigerung, die Dringlichkeit ihrer Situation zu erkennen. Aber ich sehe hier keinen Antisemitismus, sondern nur ideologische Rigidität und mangelnde Empathie.

Die zweite jüdische Version des Antizionismus proklamierten erstmals die Gründer des Reformjudentums im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Es gebe kein jüdisches Volk, so behaupteten sie, nur eine Glaubensgemeinschaft – Männer und Frauen der mosaischen Weltanschauung. Juden könnten gute Deutsche (oder gute Bürger ­eines jeden Staates) sein, da sie keine Nation wie die anderen Nationen seien und keinen eigenen Staat anstrebten. Der Zionismus wurde von diesen guten Deutschen als Bedrohung wahrgenommen, da er suggerierte, dass ihre Loyalität anderswo liege.

 

Viele Linke haben diese Verleugnung der jüdischen Nationalität übernommen. Sie behaupten, dass ein jüdischer Staat ein religiöser Staat sei, so etwas wie eine katholische oder lutherische oder muslimische staatspolitische Formation, die kein Linker unterstützen könne. Aber die Reformjuden nahmen diese Position ein in dem Wissen, dass die meisten ihrer Mitjuden sie nicht teilten. Wenn die Nation ein tägliches Referendum ist, wie Ernest Renan sagte, haben die Juden Osteuropas in großer Mehrheit jeden Tag für sie ­gestimmt. Sie suchten nicht alle nach einer Heimat in Israel, aber auch die linken Bundisten, die auf Autonomie im zaristischen Reich hofften, waren jüdische Nationalisten.

Die frühen Reformer wollten die Richtung und den Charakter der jüdischen Geschichte ändern; sie waren sich dieser Geschichte bewusst. Linke, die gegen die Juden als Nationalität argumentieren, sind meist ignorant. Sie sind jedoch nicht die Opfer dessen, was katholische Theologen »unbesiegbare Unwissenheit« nennen. Also besteht Anlass zur Sorge, dass sie das, was sie nicht wissen, nicht wissen wollen.

Wenn sie interessiert wären, könnten sie etwas über die grundlegende Verflechtung von Religion und Nation in der jüdischen Geschichte erfahren – und über ihre Gründe. Man kann Religion nicht von Politik trennen, keine »Mauer« zwischen Kirche oder Synagoge und Staat errichten, wenn man keinen Staat hat. Der Zionismus war von Anfang an bestrebt, mit der Entflechtung zu beginnen und einen Zustand zu schaffen, in dem der Säkularismus erfolgreich sein konnte. Es gibt heutzutage jüdische Fanatiker in Israel, die sich dieser Anstrengung widersetzen – ebenso wie es hinduistische Nationalisten und muslimische Fanatiker gibt, die sich ähnlichen Bemühungen in ihren eigenen Staaten widersetzen. Man würde erwarten, dass Linke den Säkularismus überall verteidigen – was von ihnen verlangen würde, den Wert des ursprünglichen zionistischen Projekts anzuerkennen.

Ich möchte nicht behaupten, es sei ­antisemitisch, wenn jemand fälschlicherweise annimmt, dass das Juden­tum eine rein religiöse Angelegenheit sei. Aber die Weigerung, anzuerkennen, dass eine große Anzahl von Juden nicht religiös ist, erscheint etwas seltsam. Man nennt sie nicht »abgefallene Juden« (so wie man ungläubige Katholiken »abgefallen« nennt), sie sind einfach Juden. Die Annahme, dass es keine jüdische Nation gebe, zu der die Gläubigen und auch die Ungläubigen gehören, ist leicht zu korrigieren. Dass sie sich dennoch hält, muss einen Grund haben. Sie ermöglicht Linken, die so viele nationale Befreiungsbewegungen unterstützt haben, zu leugnen, dass der Zionismus eine solche Bewegung ist: Das könne nicht sein, weil es keine jüdische Nation gebe. Es ist also ein ­bequemes Argument – aber das ist kein guter Grund, es vorzubringen.

 

Die dritte Version des jüdischen Antizionismus nimmt sowohl religiöse als auch politische Formen an. Das religiöse Argument dient auch als Erklärung für die langen Jahre der Diaspora: Die Juden sind aus dieser Sicht zu gut für die Staatlichkeit; die Politik der Souveränität erfordert eine Härte und ­Brutalität, die besser für die heidnischen Nationen geeignet sind. Die Juden, ­geprägt vom sinaiischen Bund und von einer langen Geschichte der Enteignung und Verfolgung, sollten nicht versuchen, die Heiden nachzuahmen. Man könnte dies als philosemitische ehre bezeichnen; die einzige Schwierigkeit ist, dass sie keine empirische Grundlage hat. Schon vor 1948 überlebten die Juden als Nation in meist feindseliger Umgebung, indem sie alle ­notwendigen politischen Mittel einsetzten, oft mit großem Geschick.

Die politische Version dieses Arguments ist nicht viel besser: Sie besagt, dass die Jahre der Staatenlosigkeit die Juden zu den ersten Kosmopoliten gemacht hätten. Sie seien in der Tat eine Nation, aber eine postwestfälische. Vor allen anderen hätten sie den Nationalstaat überwunden. Der Zionismus gilt hier als eine Regression vom Universalismus der Diaspora.

Aber die zionistische Errungenschaft, der Staat Israel, ist eine endgültige Widerlegung dieser Darstellung des Judentums. Sie offenbart Weltoffenheit als Programm einiger Juden, nicht als Beschreibung aller Juden. Und ­warum sollte dies ein Programm nur oder vor allem für die Juden sein? Selbst wenn einige Juden Kosmopoliten sein wollen – ein Licht für die Nationen oder, besser gesagt, ein Licht gegen die Nationen –, warum bestehen so viele nichtjüdische Linke darauf, dass alle Juden diese Rolle übernehmen, anstatt sie für sich in Anspruch zu nehmen? Ich kann mir bessere Kandidaten für eine postwestfälische Politik vorstellen. Sollen doch die Franzosen den Nationalstaat überwinden; schließlich haben sie das ganze Geschäft mit der levée en masse von 1793, der Marseillaise, der ersten Nationalhymne, der Tricolore, der ersten Nationalflagge, und all den revolutionären Schwüren begonnen. Oder die Deutschen, oder die Dänen, oder die Polen, oder die Chinesen.

 

II
Hier ist der Haken an der Sache: Die häufigste linke Version des Antizionismus stammt, so sagen ihre Protagonisten, aus einer starken Opposition gegen den Nationalismus und den Nationalstaat. Schon früh in der Geschichte der Linken war dies ein plausibles und weit gefasstes Argument, das von vielen Juden vertreten wurde. Rosa Luxemburg zum Beispiel schrieb mit gleichem Abscheu über Polen, Ukrainer, Litauer, Tschechen, Juden und »zehn neue Nationen des Kaukasus« als »verrottende Leichen, die aus hundertjäh­rigen Gräbern aufsteigen« und den »leidenschaftlichen Drang verspüren, Staaten zu bilden«. Das Einzige, was an Luxemburgs Abscheu bewundernswert bleibt, ist dessen Universalismus. Aber genau das ist das Merkmal, das bei vielen zeitgenössischen Linken fehlt.

Es gab viele Möglichkeiten, Luxemburgs Vorstellungen zu verwirklichen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachen die britischen, französischen und sowjetischen Reiche zusammen und es entstanden mehr Nationalstaaten, als es bis dahin in der gesamten Weltgeschichte gegeben hatte. Ein paar Linke träumten davon, die alten Reiche in demokratische Föderationen zu verwandeln, aber die meisten unterstützten so ziemlich alle postimperialen Schöpfungen – im sowjetischen Fall vielleicht mit weniger Begeisterung. Man denke an die verpassten Chancen, sich der Nationalstaatlichkeit zu widersetzen!

Warum zum Beispiel den vietnamesischen Nationalismus unterstützen, wenn die offensichtlich richtige ­Forderung in Hinblick auf Vietnam, Laos und Kambodscha, die drei Teile des französischen Indochina, ein multinationaler Staat gewesen waren? Warum haben die Linken nicht die Aufnahme Algeriens als Provinz Frankreichs gefordert, in der die Bürger alle von der Französischen Revolution verkündeten Rechte genießen? Der ­algerische Front de Libération Nationale (FLN), für den sich die internatio­nale Linke einsetzte, schuf stattdessen einen Nationalstaat, der es versäumt hat, diese Rechte zu verwirklichen. Ich erinnere mich, wie enthusiastisch die Linke angesichts des damaligen Burma von U Nu war, das ein Paradebeispiel dafür ist, was am Nationalismus falsch ist. Burma hätte eine Provinz Indiens werden sollen, die Buddhisten, Hindus und Muslime in einem Staat zusammenbringt, aber niemand auf der Linken setzte sich dafür ein. Die Briten beherrschten den Sudan als »anglo-ägyptischen Sudan«, und sicherlich hätten die beiden vom anglo-imperialistischen System befreiten afrikanischen Länder in einem Staat vereint werden sollen. Warum waren die Linken nicht gegen die sudanesische Befreiung? Oder gegen die Trennung Eritreas von Äthiopien? Warum haben sie nicht einen baltischen Staat anstelle des nationalistischen Dreigestirns Lettland, ­Litauen und Estland gefordert?

Man könnte viele ähnliche Fragen stellen, es gibt nur eine einzige Antwort auf alle. Der Nationalstaat war in all diesen Fällen die Wahl der Bevölkerung, die demokratische Option, auch wenn sie nicht zur Demokratie führte. So hatten die Linken recht, die Vietnamesen, die Algerier und all die anderen zu unterstützen.

Aber wieso nicht auch die Juden? Und warum trifft nun, da es einen jüdischen Staat gibt und er ganz wie alle ­anderen Staaten ist, ihn diese sonderbare Version von Luxemburgs Abscheu?

 

III
Die üblichen Antworten auf diese Fra­­ge sind erstens, dass die Gründung des Staats Israel die Vertreibung von 700 000 Palästinensern erforderlich gemacht habe. Israel sei ein »Kolonialstaat«. Die unmittelbare Geschichte spricht für sich. In den zwanziger und dreißiger Jahren gab es keine Vertreibung palästinensischer Araber; trotz zionistischer Kolonisierung wuchs die arabische Bevölkerung nicht nur wegen der Geburtenrate, sondern auch wegen der Einwanderung, vor allem aus Syrien (die erste britische Volkszählung 1922 ergab eine arabische Bevölkerung von 660 267; die Zahl für 1940 lag bei 1 068 433). Es gab keine Vertreibung während des Zweiten Weltkriegs, als sich die jüdische Einwanderung verlangsamte. Und der Staat Israel wurde ausgerufen, zuerst von der Uno 1947 und dann 1948 in Tel Aviv, bevor die großangelegte Vertreibung begann – also kann die Idee, dass die Staatlichkeit eine Vertreibung erfordert habe, nicht richtig sein. Es war die Invasion des neuen Staats durch fünf arabische Armeen, die sowohl zur Flucht vieler ­palästinensischer Araber (Juden flohen icht, weil sie keine Möglichkeit hatten zu fliehen) als auch zur Vertreibung vieler anderer (Juden wurden nicht vertrieben, weil die arabischen Armeen den Krieg verloren) führte. Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen wird heftig diskutiert; sie war in beiden Fällen groß. Doch ohne den Krieg gäbe es nichts zu diskutieren – nur sehr wenige Flüchtlinge wären heute in Lagern. Die sogenannte Nakba war eine Tragödie, für deren Herstellung zwei Seiten, zwei politische Bewegungen und Soldaten beider Seiten nötig waren.

Und was ist mit den Fluchtbewegungen und Vertreibungen, die anderswo stattgefunden haben, vor allem, als die modernen Staaten Türkei und Pakistan gegründet wurden? Eigenartigerweise habe ich noch nie gehört, dass die Legitimität jener Staaten von linken ­Autoren in Frage gestellt worden wäre, auch wenn die Politik ihrer Regierungen kritisiert wird, so wie es sich gehört.

Aber Israel unterdrücke die Palästinenser sowohl in Israel selbst als auch im besetzten Westjordanland, so der zweite oft genannte Grund für den Antizionismus. Ich werde nicht auf die giftigeren Formen dieser Kritik eingehen – dass Israel Nazideutschland ähnele, ein einzigartig böser Staat, ein Kindermörderstaat sei –, die in der Tat die Topoi des klassischen Antisemitismus wiederaufgreifen oder aktualisieren.

 

Aber es gibt viel zu kritisieren: Meine zionistischen Freunde in Israel kämpfen seit Jahren für volle Gleichberechtigung zu Hause und gegen die Grausamkeiten der Besatzung und den Fanatismus der Siedlerbewegung. Die heftige Opposition gegen die Politik der derzeitigen israelischen Regierung (Stand April 2019, ohne Verbesserung in Sicht) erscheint mir gerechtfertigt, je heftiger, desto besser. Ich werde eine Liste der Dinge aufstellen, die gesagt werden müssen, da ich als Verteidiger des Zionismus anerkannt werden möchte, aber nicht als Apologet dessen, was die Leute, die sich selbst Zionisten nennen, heutzutage in Israel tun – und auch gestern getan haben (Verfechter des palästinensischen Nati­onalismus könnten erwägen, eine ähnliche Liste der Pathologien der palästinensischen Politik vorzulegen):

  1. Die arabischen Bürger Israels sind in vielen Bereichen des täglichen Lebens diskriminiert, insbesondere im Wohnungsbau und bei der Bereitstellung staatlicher Mittel für Bildung und Infrastruktur.
  2. Mit dem jüngsten Nationalstaatsgesetz zeigte die Knesset den arabischen Bürgern den Mittelfinger. Obwohl das Gesetz keine rechtlichen Konsequenzen hat, kündigt es eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse an.
  3. Das Westjordanland ist ein Ort aggressiver Besiedlung, von Beschlagnahme von Land und Wasser und gesetzloser Militärherrschaft.
  4. Siedlerschläger handeln täglich gewaltsam gegen Palästinenser, ohne von der israelischen Polizei oder Armee wirksam daran gehindert zu ­werden.
  5. Die gegenwärtige Regierung verwendet antiarabische Aufstachelung als Methode der Herrschaft und zielt auf einen einzigen Staat ab, der bald von einer jüdischen Minderheit dominiert werden dürfte (ich werde später auf »einen Staat« zurückkommen).

Eine solche Kritik hat nichts mit Antizionismus oder Antisemitismus zu tun. Es geht um die Politik von Regierungen, aber Regierungen regieren Staaten nur; sie verkörpern sie nicht. Regierungen kommen und gehen – zumindest ist zu hoffen, dass sie es tun –, während Staaten um der Männer und Frauen willen Bestand haben, deren Leben sie schützen. Die Kritik an den Regierungen Israels darf also nicht die Ablehnung der Existenz dieses Staates beinhalten. Die Brutalität der Franzosen in Algerien erforderte heftige Kritik, aber keiner der Kritiker, an die ich mich erinnere, war gegen die französische Staatlichkeit. Die brutale Behandlung von Muslimen im Westen Chinas erfordert zurzeit scharfe Kritik, aber niemand fordert die Abschaffung des chinesischen Staats.

Einige Linke behaupten, dass die langen Jahre der Besatzung und der rechte Nationalismus der Regierung Netanyahu den »wesentlichen Charakter« des jü­dischen Staates offenbarten. Das dürfte den Männern und Frauen auf der linken Seite, die vor langer Zeit, vor allem von feministischen Schriftstellerinnen, gelernt haben, auf essentialistische Argumente zu verzichten, unan­genehm sein. Zeigt die lange Geschichte der Intervention in Mittelamerika den wesentlichen Charakter der Vereinigten Staaten? Haben Staaten wirklich ein Wesen?

 

Viele Linke unterstützen heutzutage einfach den palästinensischen Nationalismus, ohne sich um sein »Wesen« zu sorgen oder gar über das Programm der Nationalisten nachzudenken, die oft ausdrücklich fordern: »vom Jordan bis zum Meer«. Es gibt zionistische Juden, die die gleiche Forderung mit gleicher Leidenschaft stellen. Sicherlich sollten sich Linke gegen beide wenden – mit einer ähnlich entschlossenen Opposition.
Diejenigen Linken, die »einen Staat« mit gleichen Rechten für Juden und Palästinenser fordern, würden wahrscheinlich sagen, dass sie genau das tun. Es handelt sich um ein Programm, das eine beständige Abscheu vor dem Nationalismus und dem Nationalstaat widerzuspiegeln scheint – zumindest in diesem einen Fall konsequent.

Aber »ein Staat« bedeutet die Beseitigung eines Staats, des bestehenden jüdischen Staates, und wie genau werden die one-staters das erreichen? Wie wollen sie den jüdischen Staat und die nationale Bewegung, die ihn hervorgebracht hat, besiegen – oder alternativ, wie wollen sie den palästinensischen Nationalismus besiegen? Wie würde der neue Staat aussehen? Und wer würde über dessen Einwanderungspolitik entscheiden? Was wäre letztlich, wenn der neue Staat – das wahrscheinlichste Ergebnis – so ähnlich wie der Libanon aussähe? Angesichts der jüngsten Geschichte des Nahen Ostens und der Geschichte Israels und der palästinensischen Gebiete sind das friedliche Zusammenleben und die Gleichberechtigung unter einer Regierung eine sehr schöne Vorstellung, aber dennoch bloße Phantasie.

Zweifellos wäre es besser, einen Staat hinzuzufügen, als einen abzuschaffen, und beiden nationalen Bewegungen zu erlauben, die von ihnen angestrebte Souveränität zu erlangen beziehungsweise zu behalten. Die Zweistaatenlösung kann auch Phantasie sein; es gibt bedeutende politische Kräfte auf beiden Seiten, die sich dagegen einsetzen. Aber es gibt auch hier Realismus. Es ist bekannt, wie man Nationalstaaten schafft; es gibt viel Erfahrung, auf die man aufbauen kann. Niemand weiß ingegen, wie die ideale politische Gemeinschaft entstehen soll, die die one-stater angeblich wollen. Und die Art von Staat, den sie wahrscheinlich schaffen würden, wäre nicht wünschenswert.

Die Schaffung von Nationalstaaten – das ist etwas, das Linke während der ­gesamten postkolonialen Periode verteidigt haben. Jugoslawien ist die offensichtliche Ausnahme, wo viele Linke gegen die Schaffung von sieben neuen Nationalstaaten waren und das tyrannische Regime bevorzugten, das einst alle sieben Nationen zusammenhielt. Eine weitere Inkonsistenz: Wenn Tyrannei die Alternative zur nationalen Befreiung ist, sollten und werden Linke sich meist für die Befreiung entscheiden. Und die Wahl ist gut, denn es gibt viele Indizien dafür, dass Nationen Staaten brauchen – oft, um sich vor der Unterdrückung durch andere zu schützen. Das kann man der Geschichte der Juden – oder der Armenier, oder der Kurden, oder der Kosovo-Albaner, oder der Palästinenser – entnehmen. Umfragen deuten darauf hin, dass die große Mehrheit in jeder dieser Nationen einen eigenen Staat will. Und wenn die anderen vier, warum nicht die Juden?

 

IV
Warum nicht der Zionismus? Weil die Juden keine Nation sind; weil sie weltoffener sein sollten als alle anderen; weil der zionistische Staat einige schreckliche Regierungen hatte; weil niemand einen Staat haben sollte (auch wenn es fast alle tun). Jede dieser Behauptungen kann geltend gemacht und begründet werden, aber die Art und Weise, wie sie heutzutage vorgebracht werden, erregt Verdacht. Es ist nicht nur möglich, sondern manchmal sogar wahrscheinlich, dass die Menschen, die sie vorbringen, auch glauben, dass Juden den Sklavenhandel betrieben hätten, dass die zionistische Lobby die US-amerikanische Außenpolitik kontrolliere (wie die ­demokratische Abgeordnete Ilhan Omar behauptet hat), dass Juden gegenüber jedem Land außer Israel, in dem sie leben, illoyal seien, und dass jüdische Bankiers das internationale Finanzsystem kontrollierten. Es gibt zu viele Menschen, die an diese Dinge glauben – sowohl in der Linken als auch in der Rechten. Sie sind Antisemiten oder Weggefährten von Antisemiten, und ihr Antizionismus ist wahrscheinlich eng mit ihrem Antisemitismus verbunden – obwohl es inzwischen pro­israelische Antisemiten gibt, beispielsweise unter den amerikanischen Evangelikalen und osteuropäischen Rechtsnationalisten.

Linke müssen gegen andere Linken, die diese Ansichten vertreten, besonders kritisch sein. Es mag durchaus wahr sein, dass der rechte Antisemitismus die größere Gefahr für das jüdische Wohlergehen darstellt, aber die linke Variante sollte nicht unterschätzt werden.

Ich bin mir sicher, dass viele linke Antizionisten keines der klassischen ­antisemitischen Märchen glauben. Vielleicht sind sie absichtlich ignorant, wenn es um das jüdische Volk geht, vielleicht sind sie besonders auf den jüdischen Staat fokussiert; vielleicht mögen sie einfach keine Juden (wie George Carey, der ehemalige Erzbischof von Canterbury, über Jeremy Corbyn sagte). Vielleicht. Aber wenn es um linke Debatten über Israel geht, ist der Zionismus das Hauptthema, über das man sprechen sollte. Aus all den Gründen, die ich genannt habe, ist der Antizionismus selbst der Fehler. Ob man nun ein Antisemit, ein Philosemit oder in dieser Frage gleichgültig ist: Er ist eine sehr schlechte Politik.

Übersetzung: Carl Melchers