Brasiliens Weg in den Faschismus

»Die Demokratie ist implodiert«

Interview Von Niklas Franzen

Márcia Tiburi, Schriftstellerin und Philosophin, über Brasiliens Weg in den Faschismus und ihre Verfolgung als Kritikerin des Autoritarismus.

Vor einem Jahr, im Oktober 2018, wurde der Rechtsextreme Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Sie beschäftigen sich mit Kritischer Theorie. Hilft das, das heutige Brasilien zu verstehen?
1950 erschienen die »Studien zum autoritären Charakter«. Dort entwirft Adorno neun Komponenten zur Messung der Neigung zum Faschismus – die F-Skala. Alle Punkte passen, um Brasilien unter Bolsonaro zu charakterisieren. Auch die »Dialektik der Aufklärung« hilft zu verstehen, was derzeit in Brasilien passiert. Gerade das Ka­pitel zur Kulturindustrie ist sehr aufschlussreich. Die technologischen Möglichkeiten haben sich verändert. Bei Adorno ging es vor allem um Radio und Kino. Heutzutage steht das Internet im Vordergrund – und neue, scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation.
Viele Menschen meinen, dass es übertrieben sei, in Brasilien von Faschismus zu sprechen. Es gebe ja immer noch ein Parlament und freie Wahlen.
Ich glaube, dass diese Menschen einfach die Realität verdrängen. Bolsonaro ist ein Faschist, eine autoritäre Persönlichkeit, manisch, ignorant, ohne jegliche Intelligenz. Aber in einem Punkt ist er sehr clever: Er weiß, dass der Hassdiskurs die Massen bewegt. Der Autoritarismus in Brasilien kam durch Wahlen an die Macht – und auf demokratischem Weg wird nun die Demokratie abgebaut. Man kann sagen: Die Demokratie in Brasilien ist implodiert.

Befindet sich Brasilien also in einer Diktatur?
Ja, in einer informellen Diktatur unter digitalen Voraussetzungen. Anders gesagt: eine Diktatur in Zeiten des Internets. In früheren Diktaturen war es das Fernsehen, das steuerte und den Menschen das Gehirn wusch.

Wie erklären Sie sich den Erfolg von Bolsonaro?
Bolsonaro hat mit seinen Aussagen, die viele einfach nur für lächerlich hielten, einen Schleier erzeugt, der den aufkommenden Faschismus in Brasilien verdeckte. Je absurder und verrückter seine Thesen waren, desto mehr profitierte er davon. Das ist heutzutage eine Taktik von Rechten weltweit. Bekannt wurde diese Art der Politik durch Silvio Berlusconi in Italien – deshalb spreche ich auch von einer Berlusconisierung der Politik.

Ist »lächerlich« wirklich das richtige Wort, um die Aussagen von Bolsonaro zu charakterisieren?
Zu Anfang ja. Da hat man sich eher fremdgeschämt. Und lange Zeit wurde Bolsonaro nicht ernst genommen. Für viele war er nur ein Dummkopf und Spinner. Dass er die Wahl gewinnen würde, war unvorstellbar für die klügsten Analysten unseres Landes. Doch die Absurdität wurde das Mittel, eine uninformierte Bevölkerung zu erreichen, und hat Bolsonaro am Ende zum Sieg verholfen.

 

Bolsonaro hat nach neun Monaten im Amt die schlechtesten Umfragewerte aller gewählten Präsidenten des Landes. Sehen Sie ein Umdenken bei den Brasilianerinnen und Brasilianern?
Es stimmt, dass viele Brasilianer nicht mehr hinter ihm stehen. Einige schämen sich nun – knapp ein Jahr nach der Wahl – sogar, ihn gewählt zu haben. Aber es gibt viele Brasilianer, die ihn weiterhin unterstützen und bei jedem seiner barbarischen Akte Beifall klatschen.

Wird die Bevölkerung manipuliert? Oder steckt der Hang zum Autoritarismus tief in ihr?
Die Gehirnwäsche funktioniert in Brasilien sehr gut und der Hassdiskurs fällt auf fruchtbaren Boden. Die Bildung ist rudimentär, außerdem dominiert das Fernsehen seit jeher Körper und Geist. Das Medienmonopol des Konzerns Globo hat sowohl den Putsch von 1964 (als rechte Generäle den demokratisch gewählten Präsidenten João Goulart stürzten, Anm. d. Red.) unterstützt, als auch den Putsch von 2016 (als Präsidentin Dilma Rousseff in einem fragwürdigen Verfahren des Amtes enthoben wurde, Anm. d. Red.).
Wenn du keine Bücher zu Hause und kaum Bildung genossen hast, glaubst du auch den Lügen der Rechten. So kann man erklären, dass viele Brasilianer zum Beispiel die absurde Falschbehauptung glaubten, dass der die Arbeiterpartei (PT) Babyflaschen mit kleinen Gummipenissen als Sauger an Kindergärten verteilt habe (dies wurde über soziale Medien verbreitet, nicht im Fernsehen, Anm. d. Red.). Der Mechanismus der Reflexion, der Analyse, des Nachdenkens wurde während der Wahl in Brasilien fast vollständig ausschaltet – und das geht leider auch nach der Wahl weiter.

Wohin steuert Brasilien?
Ich hoffe, dass dieser schreckliche Winter vorbeigeht. Viele Aktivisten, Angehörige von Minderheiten und schwarze Jugendliche sind bereits getötet worden – und viele weitere werden sterben. Meine Hoffnung ist, dass sich breiter Widerstand bildet und auch von außen Druck aufgebaut wird. Wir brauchen eine demokratische Internationale. Aber ich bin nicht sehr optimistisch. Ich sehe die Gefahr, dass wir auf den Totalitarismus zusteuern.

Wann sind Sie zum Feindbild der Rechten geworden?
Ich war den Faschisten schon länger ein Dorn im Auge. Aber mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff 2016 wurden die Angriffe heftiger. In dieser Zeit habe ich mein Buch »Como conversar com um fascista« (Wie man mit einem Faschisten spricht) veröffentlicht. Dort habe ich bereits vor dem Aufstieg des Faschismus in Brasilien gewarnt. Rechte – auch Bolsonaro – nutzten seit 2013 das wachsende Chaos im Land immer stärker für ihre Zwecke. Niemand glaubte damals jedoch, dass Bolsonaro Präsident werden würde.

 

Sie aber schon?
Ja, 2017 habe ich ein weiteres Buch geschrieben, in dem ich auf die Gefahr hinwies, die von Personen wie Bolsonaro ausgeht. Und ich habe vorhergesagt: Bolsonaro wird Präsident von Brasilien. Mit diesen Aussagen stand ich ziemlich lange allein da, niemand hat mich ernst genommen.

Wie wurden Sie Ziel einer rechten Hetzkampagne?
Ich war schon länger eine Person des öffentlichen Lebens: Ich habe Fernsehinterviews gegeben, Veranstaltungen gemacht, an Universitäten unterrichtet. Ich wurde als feministische Schriftstellerin bekannt, die den Putsch von 2016 immer scharf kritisiert hat. Je mehr Ansehen ich besaß, desto mehr stand ich im Fokus von rechten Kräften.

Was ist Ihnen konkret passiert?
Bei einem Radiointerview tauchte plötzlich ein prominenter Rechter im Studio auf – ohne dass der Journalist mir vorher Bescheid gesagt hätte. Ich verließ daraufhin das Studio und noch am selben Tag brach ein shitstorm an Falschbehauptungen über mich los. Als ich auf Lesereise mit meinem neuen feministischen Buch ging, waren bei jeder Veranstaltung Rechte anwesend, um zu stören und zu provozieren. Bei einer Lesung tauchte ein bewaffneter Mann auf. Bei einer anderen Veranstaltung prügelten Faschisten auf die Besucher ein. Danach habe ich gemerkt: Es geht nicht mehr nur um meine Sicherheit.

 

Als Bolsonaro kandidierte, wurden die Angriffe häufiger?
Ja. Ich ließ mich für den PT als Gouverneurskandidatin von Rio de Janeiro zur Wahl aufstellen. Danach gab es nicht nur Falschbehauptungen von rechts – sondern auch von linken, PT-kritischen Parteien wie dem PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit). Sie haben zum Beispiel behauptet, dass ich Bolsonaro unterstützen würde – was natürlich völliger Unsinn war. Als Bolsonaro dann tatsächlich die Wahl gewann, wusste ich, dass ich nicht bleiben kann. Ich hätte mein Leben und das der Menschen um mich herum riskiert. Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis über City of Aslyum, eine Organisation für bedrohte Schriftsteller in den USA, erhalten und im Dezember Brasilien verlassen.

Welche persönlichen Auswirkungen hatte das auf Sie?
Ich versuche, immer so rational wie möglich zu sein und die Situation nicht emotional an mich heranzulassen, denn die Drohungen sind eine politische Strategie. Es ist eine Strategie, unsere Glaubwürdigkeit zu zerstören. Was gerade in Brasilien passiert, ist ein Krieg gegen die Intelligenz und gegen die, die denken. Sobald man eine Gefahr für den Status quo darstellt, läuft man in Brasilien Gefahr, zur Zielscheibe zu werden.

Sie leben mittlerweile im Ausland. Was denken Sie über die dauernden schlechten Nachrichten aus Brasilien?
Ich betrachte das als Philosophin und versuche zu verstehen, welche Prozesse dahinterstehen. Ich habe das Glück, zu schreiben. Meine Lieblingsphilosoph Adorno, der zur Nazizeit im US-Exil war, schrieb: Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen. Ich lebe in meiner Arbeit und in meinen Büchern. Ich habe kei­ne feste Adresse, wohne in Hotels, reise herum, schlafe bei Freunden. Bald werde ich hoffentlich für längere Zeit nach Frankreich gehen.

Werden Sie nach Brasilien zurückkehren?
Ich würde gerne zurückgehen, aber ich habe dort keine Arbeit mehr, kann nicht einfach auf die Straße gehen, keinen Unterricht geben und keine Veranstaltungen besuchen. Ich würde mein Leben aufs Spiel setzen. Nein, solange sich nichts ändert, kann ich nicht zurück nach Brasilien.