Steffen Hess über die Chancen und Risiken der Digitalisierung ländlicher Regionen

»Digitalisierung ist kein Selbstzweck«

Steffen Hess, Softwareentwickler, über Chancen und Risiken der Digitalisierung ländlicher Regionen.

Die Bildungs- und Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) sagte im vergangenen Jahr, 5G sei nicht an jeder Milchkanne nötig. Stimmen Sie ihrer Aussage zu?
Wir bearbeiten bei uns vor allem Projekte zur Digitalisierung des ländlichen Raums, und natürlich ist dabei auch die Infrastruktur eine wesentliche Basiskomponente, die es zu berücksichtigen gilt. Um den ländlichen Raum zu entwickeln, ist digitale Infrastruktur notwendig. Es braucht jedoch eine sinnvolle Bedarfsanalyse. Es kann sein, dass man dabei am Ende entscheidet, dass jeder landwirtschaftliche Betrieb eine adäquate digitale Anbindung benötigt.

Warum ist die Digitalisierung im ländlichen Raum von der Politik bisher so vernachlässigt worden?
Dieses Thema war bis vor fünf Jahren nicht auf der Liste von politischen ­Förderprogrammen. Durch das Projekt »Digitale Dörfer«, das wir damals mit der rheinland-pfälzischen Landesregierung begonnen haben, haben wir für das Thema der Digitalisierung des ländlichen Raums sensibilisiert. Inzwischen hat die Politik verstanden, dass dazu nicht nur Infrastruktur gehört, sondern vor allem auch Themen wie die Dienstentwicklung nach Bottom-up-Prinzip und die Aufklärung der Bevölkerung über den Umgang mit Daten eine große Rolle spielen.

Kann die digitale Infrastruktur die analoge ersetzen?
Das sind zwei verschiedene Prozesse, die aber an vielen Stellen Schnittpunkte haben. Beim Fachärztemangel kann beispielsweise digitale Technologie genutzt werden, um diesen Mangel für die ­Einwohner weniger beschwerlich zu machen. Es ist aber zum Beispiel nicht so, dass die Busse von alleine gefahren kommen, wenn man überall das Breitbandnetz ausbaut.

Welchen Beitrag kann das Projekt »Digitale Dörfer« zur Digitalisierung des ländlichen Raums leisten?
Unser Beitrag besteht vor allem darin, dass wir auf das Thema aufmerksam machen und uns vernetzen. Dadurch können wir anderen zeigen, wie man die digitale Zukunft ländlicher Regionen gestalten kann. Unser Fokus liegt darauf, mit den Menschen vor Ort Dienste nach ihren Bedürfnissen zu entwickeln. Dabei ist auch die Aufklärung der Einwohner enorm wichtig. Es ist notwendig, Bürgerinnen und Bürger in puncto ­Datenschutz weiterzubilden und ihnen diese Thematik in einer Sprache zu ­erklären, die alle verstehen. Dadurch sollen Menschen sensibler mit ihren Daten umgehen und besser verstehen, was damit genau passiert. Es soll sie aber auch dazu ermutigen, Lösungen mit zu entwerfen. Wir haben jetzt noch die Chance, die Digitalisierung mitzugestalten. Da sind die Bürger, die Politik und die Wirtschaft gleichermaßen gefordert. Das Schlimmste, was aus unserer Sicht passieren kann, wenn wir uns nicht an diesem Prozess beteiligen, ist, dass wir uns am Ende davon dominieren lassen, was der Markt anbietet.

 

Was bedeutet es für Menschen in ländlichen Regionen, digital abgehängt zu sein?
Ein Zugang zu digitalen Diensten ist inzwischen ein wichtiger Faktor für Teilhabe geworden. Jedoch ist Teilhabe auch immer etwas, was vor Ort im direkten Kontakt passieren muss.

Was nützen Ihre Apps eigentlich in Regionen, in denen kein Breitbandnetz vorhanden ist?
Unsere Lösungen funktionieren auch mit sehr wenig Bandbreite. Wenn sich eine Region schwer tut, in Infrastrukturausbau zu investieren, kann man, indem man digitale Dienste in eine Region bringt, den Druck erhöhen, auch die ­digitale Infrastruktur auszubauen. Am Ende sollte man aber nicht in Lage geraten, daß indem man zwar überall für Infrastruktur gesorgt, aber noch nicht über sinnvolle Dienste nachgedacht hat.

Welche technischen und gesellschaftlichen Hindernisse bringt es mit sich, die Strategie einer »smart city« auf den ländlichen Raum zu übertragen?
Im ländlichen Raum hat man teilweise andere Strukturen und Bedürfnisse, die man beachten muss. Dort geht es beispielsweise darum, Mobilität herzustellen, wohingegen es beim »smart city«-Ansatz ja darum geht, Mobilität zu verringern.

Bei den Apps, die von Ihnen in den Modellregionen getestet werden, handelt es sich um Formen digitaler Nachbarschaftshilfe. Vernetzen sich die Menschen nicht auch ohne Apps?
Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe sind in ländlichen Regionen verbreiteter als im urbanen Raum. Grundsätzlich wird es aber immer schwieriger, diese Strukturen aufrechtzuerhalten. Die klassischen Dorftreffpunkte, an denen man sich austauscht und sich gegenseitig hilft, verschwinden zusehends, weswegen wir den Ansatz verfolgen, eine ­digitale Lösung als Werkzeug einzusetzen, um Menschen, die den gleichen Bedarf oder ähnliche Interessen haben, zusammenzubringen. Eine App muss dann dazu führen, dass sich Menschen wieder besser analog treffen können. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Ich kann nicht eine App in ein Dorf werfen und davon ausgehen, dass dort dann alles digital wird.

Wie stellen Sie sicher, dass die Technologie den Menschen dient und nicht umgekehrt?
Indem wir die Lösungen für Probleme oder Bedürfnisse, die die Menschen in unseren Pilotdörfern selbst formuliert haben, mit den Menschen vor Ort zusammen erarbeiten. Dadurch haben wir ein Modell geschaffen, das weder auf Werbung noch auf dem Verkauf von Daten basiert. Wir haben uns bewusst gegen die klassischen digitalen Geschäftsmodelle anderer Anbieter entschieden. Damit unterscheidet sich ­unsere Lösung stark von dem, was am Markt sonst angeboten wird.

 

Stehen denn gar keine wirtschaftlichen Interessen hinter dem Projekt »Digitale Dörfer«?
Von unserer Seite aus nicht. Wir sind als gemeinnütziger Verein organisiert. Beim derzeitigen Modell entscheidet sich eine Region, dass sie einen bestimmten digitalen Dienst möchte und dann dazu einen Beitrag leistet. Das geschieht aber nicht aus einer Gewinnerzielungsabsicht. Wir versuchen, dabei zwischen den zentralen Institutionen und Akteuren, Politik und Verwaltung, Bewohnern und Vereinen und den ­Unternehmen vor Ort zu vermitteln, um gemeinsam eine Strategie zu ent­wickeln, wie man die Region als ganze voranbringen kann. Gerade die Unternehmen im ländlichen Raum haben häufig Probleme, qualifizierte Arbeitskräfte zu akquirieren. Sie haben auch ein Interesse daran, dass die Region ­attraktiver wird. Unsere digitalen Lösungen können dabei eine Stellschraube sein. Deswegen haben wir im Moment viele Regionen, die unsere Dienste nutzen und das durch Sponsoring eines lokalen Unternehmens finanzieren.

Birgt die digitale Vernetzung Ihrer Meinung nach auch Potentiale ­politischer Einflussnahme für die Bevölkerung?
Die Projekte, die wir machen, sind ­immer auch Projekte sozialer Innovation. Natürlich gibt es Werkzeuge wie beispielsweise die App Dorffunk, die in gewisser Weise eine politische Einflussnahme und auch Mitbestimmung der Menschen ermöglicht. Das funktioniert dort sehr gut, wo die lokale Verwaltung und die Einwohner an einem Strang ziehen.

Könnte die App Dorffunk in einer Region, in der 30 bis 40 Prozent der Menschen AfD wählen, einen rechtsextremen Resonanzraum ­erzeugen?
Grundsätzlich stellen wir Technologie bereit, die sehr klare Nutzungsbedingungen hat. Jedoch ist zunächst offen, wer die Dienste nutzt.

Kann denn dann ausgeschlossen werden, dass im Dorffunk rassistische Filterbubbles entstehen?
Es ist in der App nicht erlaubt, persönliche Daten von Dritten zu verwenden oder sich verletzend und diffamierend zu äußern. Im Dorffunk kann grundsätzlich jeder Nutzer auch eigene Beiträge schreiben. Die anderen Nutzer können Beiträge melden, die ihrer Meinung nach gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen. Wir machen jede Woche einen Vergleich des Umgangstons im Dorffunk mit klassischen sozialen Netzwerken. Dadurch, dass dieser aufgrund des dörflichen Rahmens weniger anonym ist, ist der Umgangston wesentlich netter als bei Twitter oder Facebook.