Frauen im Schach

Damengambit

Beim Schach spielt körperliche Kraft keine Rolle. Trotzdem hat es noch nie eine Frau zur Weltmeisterin gebracht, kaum eine Spielerin kann in Top-Turnieren mithalten. Warum?

Der World Cup of Chess der Fédération Internationale des Échecs (Fide) ­endete vergangenen Freitag mit einer kleinen Überraschung: Teimour »Wonderboy« Radjabov (32) konnte sich gegen den Favoriten »King« Ding Liren (26) durchsetzen. Der Sieg Radjabovs ist umso erstaunlicher, als er in der Kategorie Blitz gelang, die als Lirens Stärke gilt und in der er ­sogar den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen (28) schlagen konnte. Beim Blitzschach müssen die Züge innerhalb kurzer Zeit erfolgen, was das Format sehr unterhaltsam für das Publikum macht, da hier sogar Profis kleinere Patzer begehen.

Die Psychologen Hank Rothgerber and Katie Wolsiefer konnten 2013 nachweisen, dass bereits sechsjährige Mädchen glauben, Jungs seien besser im Schach – was schnell zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Radjabov hat sich mit dem Turniersieg einen Platz im Candidates Tournament 2020 gesichert und darf – sofern er annimmt – um das Recht spielen, den Weltmeister herauszufordern. Liren ist wegen seiner ELO-Ranglistenwertung ohnehin für das Turnier qualifiziert, ebenso Fabiano Caruana (27), der 2018 Carlsen unterlag. Auch wenn längst nicht alle Plätze feststehen, kann davon ausgegangen werden, dass die acht Kandidaten, die um den Weltmeistertitel konkurrieren werden, allesamt Männer sein werden. Ähnlich verhielt es sich beim jüngsten Fide World Cup, wo sich unter den 128 Spielern nur eine einzige Frau befand, obwohl Frauen die Teilnahme prinzipiell offensteht. Auch auf der ELO-Rangliste sind die ersten 85 Plätze von Männern belegt, ehe die derzeit beste Schachspielerin Hou Yifan (25) aufgelistet wird. Von 1 680 Profis, die den Titel Großmeister tragen dürfen, sind gerade einmal 37 weiblich.

Warum scheint das professionelle Schachspiel eine Männerdomäne zu sein, so dass für Frauen eigene, wesentlich schlechter dotierte Turniere und eigene Ranglisten erstellt werden? Wie immer bei solchen Fragen gibt es Erklärungen, die vor Sexismus strotzen. Bobby Fischer, der wie kaum ein anderer zur Popularisierung des Schachspiels in den westlichen Ländern beigetragen hat und immer noch häufig klischeehaft als zwischen Genie und Wahnsinn schwankend dargestellt wird, schwadronierte 1961 in einem Interview: »Sie sind schwach, alle Frauen. Sie sind dumm im Vergleich zu Männern. Sie sollten kein Schach spielen, wissen Sie. Sie sind wie Anfänger. Sie verlieren jedes einzelne Spiel gegen einen Mann.«

1991 wurde Judit Polgár mit 15 Jahren und vier Monaten der bislang jüngste Mensch mit Großmeistertitel und schlug damit Fischers Rekord, der zu dieser Zeit sich schon zum paranoid-antisemitischen Wrack auf der Flucht vor der US-amerikanischen Strafverfolgung entwickelt hatte. Nicht einmal drei Jahre später spielte Polgár gegen den damaligen Weltmeister Garri Kasparow. Die ersten beiden Spiele gewann sie, im fünften Spiel dominierte Kasparow, der jedoch einen Springer bewegte, die Figur für den Bruchteil einer ­Sekunde losließ und schließlich auf ein anderes Feld setzte – ein Verstoß gegen die Turnierregeln, der eigentlich zur Niederlage in der Partie hätte führen müssen. Die 17jährige Polgár meldete den Vorfall nicht, nach eigener Auskunft einerseits aus Respekt vor dem Weltmeister und andererseits aus Angst, überstimmt zu ­werden. Sie konfrontierte ihn jedoch in einer Hotelbar. Kasparow beschwerte sich später in einem Interview: »Sie sagte öffentlich, dass ich gemogelt habe. Ich denke, dass ein Mädchen ihres Alters erst einmal Manieren lernen sollte, bevor sie solche Statements abgibt.« Bereits 1989 hatte Kasparow in einem Interview mit dem Playboy deutlich gemacht, was er von Frauen im Schach hielt: »Manche Menschen möchten es nicht gern hören, aber Schach passt nicht zu Frauen.«

2002 besiegte Polgár in einem Turnier Garri Kasparow und wurde ­damit die erste Frau, die einen amtierenden Weltmeister schlug. Mittlerweile hat Kasparow seine Haltung verändert und hält auch eine Weltmeisterin für denkbar, seine frühere Einstellung ist aber für Teile der Schachwelt weiterhin typisch. Als beispielsweise Anna Rudolf 2007 beim Vandoeuvre Open gegen Christian Bauer gewann, warfen verschiedene Teilnehmer ihr vor, betrogen zu haben – mit einem in ihrem Lippenstift versteckten Computer, der ihr die besten Züge vorausberechnet habe. So abstrus der Vorwurf auch klang, das Gerücht schaffte es sogar in die New York Times und hielt sich hartnäckig, auch nachdem Schachanalytiker rekonstruiert hatten, dass ­Rudolf zwar brillant gespielt, aber keineswegs optimale Züge gemacht hatte.

 

Die Journalistin Hanna Schank hat einige Ursachen für die nachrangige Stellung von Frauen in der Schachwelt zusammengetragen, wobei sie sich unter anderem auf die umstrit­tene historische Studie »Birth of the Chess Queen« von Marilyn Yalom bezieht. Diese Autorin interessiert sich in ihrer Untersuchung vor ­allem für die Figur der Königin, insbesondere für deren im Vergleich immense Bewegungsfreiheit. Sie schlussfolgert, dass die Königin, vormals eher eine schwache Figur (ursprünglich ein Minister oder Berater), in Spanien unter der Herrschaft Isabella I. zu ihrer heutigen Stärke gefunden habe, mit einer Regeländerung, die schließlich von den Jüdinnen und ­Juden, die aus Spanien vertrieben wurden, in die Welt getragen worden sei. Die Frau auf dem Schachbrett, die alle anderen Figuren übertrifft, symbolisiere das geschlechtertypische Interesse am Spiel; Schach sei lange Zeit ein sehr beliebter Zeitvertreib für Frauen gewesen, bis es sich zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert zum kompetitiven Denksport gewandelt habe, so ­Yalom. Gespielt worden sei dann vorrangig in Cafés und Kneipen, also an Orten, zu denen Frauen zu dieser Zeit der Zutritt zumeist verwehrt blieb.

Zugleich kamen Ansichten von der natürlichen Unterlegenheit der Frauen im Schach auf, die auch heutzutage noch in pseudowissenschaft­lichen Studien reproduziert werden: Schank zitiert etwa eine Untersuchung von Robert Howard, der 2014 herausgefunden haben wollte, dass Männer grundsätzlich besser im Schach sind, weil sie eine innere Veranlagung dazu haben. Zu diesem Ergebnis konnte Howard allerdings nur gelangen, indem er zunächst ­einige unhaltbare Behauptungen aufstellte, etwa dass es den Effekt der gläsernen Decke nicht gebe oder dass Schachturniere, weil sie formal Frauen offenstehen, auch wirklich von ihnen frequentiert würden.

Dabei beginnt eine professionelle Schachkarriere sehr jung und er­fordert häufige Reisen zu Turnieren, was viele Eltern ihren Töchtern nicht erlauben. Es gibt erheblich weniger Schachtrainerinnen als -trainer und weniger Mädchen haben die Gelegenheit, Unterricht zu erhalten. Zudem wirkt die verbreitete Vorstellung von der Unterlegenheit von Frauen im Schach häufig: Eine Studie der Universität Padua von 2008 ergab, dass Mädchen im Durchschnitt wesentlich schlechter abschneiden, als es ihr Ranking vermuten ließe, wenn ihnen gesagt werde, dass sie gegen einen Jungen spielen. 2013 konnten die Psychologen Hank Rothgerber and Katie Wolsiefer nach­weisen, dass bereits sechsjährige Mädchen glauben, Jungs seien besser im Schach – was schnell zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Aber so muss es nicht bleiben: Spielerinnen wie Judit Polgár, Hou Yifan oder Anna Rudolf strafen die ­Erzählung, Frauen seien von Natur aus schlechter im Schach, seit Jahrzehnten Lügen. Und pädagogische Mittel wie die Frühförderung dürften das Ressentiment eines Tages aus der Welt schaffen. Dann wird auch eine Frau um den Titel spielen.