Antisemitismus in Deutschland

Wo man nichts gegen Juden hat

Nach dem Anschlag von Halle wird wieder über Ballerspiele und Internetforen diskutiert. Dabei ist das Problem ein anderes: die Alltäglichkeit des Antisemitismus in Deutschland.

In der Woche nach dem antisemitischen Terroranschlag von Halle ist vielen ­Medienberichten und Stellungnahmen von Politikern immer noch eine ge­wisse Erleichterung darüber anzumerken, dass deutscher Hass auf Juden anscheinend bloß in abgelegenen Ecken des Internets stattfindet. Dabei muss niemand eigens Imageboards wie 4chan besuchen oder Egoshooter spielen, um fanatisch zu werden oder einen Kreis Gleichgesinnter zu finden. Antisemitische Memes, judenfeindliche Postings, Gruppen, in denen mit Karikaturen aus dem »Stürmer« versehene Gewaltphantasien unwidersprochen geduldet, vielfach geliked und nicht gelöscht werden, sowie Live-Übertragungen von Morden und Terroranschlägen sind nichts, was ausschließlich in Imageboards und Gamercommunities vorkommt.

Rechtsextreme brachten schnell die Verschwörungstheorie auf, der Attentäter von Halle könne unmöglich Deutscher sein.

Für viele Medienkonsumenten, die sich derzeit über die Beschreibungen der Zustände bei 4chan, Kohlchan und anderen Internetseiten gruseln, sind solche ­Inhalte nur einen Klick von Urlaubsfotos und lustigen Statusmeldungen entfernt: Bei Facebook, wo der Täter von Christchurch im März die Ermordung von 51 Menschen streamte, ist der Versuch nach wie vor fast aussichtslos, anti­semitische Postings, Bilder und Vernichtungsphantasien ­löschen zu lassen, bei Twitter werden Beschwerden meist damit beantwortet, dass gemeldete Beiträge lediglich für User mit deutscher IP nicht mehr sichtbar sind.

Gamification des Terrors? Die Probleme heißen Antisemitismus und Rassismus, nicht Computerspiele.

Bild:
picture alliance/Jochen Tack

Auch dass der Täter von Halle, Stephan B., seinen Judenhass auf einer der einschlägigen Plattformen erlernte, ist nicht gesichert. Seine Mutter sagte vier Stunden nach der Tat dem Spiegel über ihn: »Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?« In dem Artikel, immerhin die Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins, auf dessen Umschlag ein Davidsstern und die Worte »Nie wieder? Das Attentat von Halle und der alltägliche Judenhass in Deutschland« prangen, bleibt diese Äußerung der Mutter unkommentiert; es gibt keinen Verweis darauf, dass es sich dabei um eine klassische anti­semitische Verschwörungstheorie handelt; keine Anmerkung, dass Judenhass sich in vielen Fällen hinter dem Antizionismus, der Rede über den ­angeblichen weltweiten Einfluss von Juden oder sogenannter Israel-Kritik verbirgt. 

 

Es wäre vielleicht zu viel verlangt von einer Publikation, die erst kürzlich die Bemühungen deutscher Juden, die antisemitische BDS-Bewegung politisch zu ächten, in einem zweiseitigen Artikel zu frevelhaftem jüdischen Lobbyismus aufblies, inklusive unbewiesenem Geraune über eine mögliche Mossad-Beteiligung; und die knapp drei Wochen später ein Heft aus der Reihe »Geschichte« zum Thema »Jüdisches Leben in Deutschland« ausgerechnet mit einem alten Klischeebild armer Ostjuden und nicht etwa mit jungen, selbstbewussten oder berühmten Juden illustrierte. Dass eine Grundschullehrerin, die Ethik unterrichtet, zur Verteidigung ihres Sohnes ein antisemitisches Klischee bemüht und ganz selbstverständlich eine rhetorische Frage anhängt, derzufolge ja praktisch jeder so denke, ist vermutlich nicht auf den Schock angesichts der verübten Morde zurückzuführen. Derart selbstverständlich wird Judenhass online wie offline normalerweise von Menschen als Mehrheitsmeinung geschildert, in deren Umfeld antisemitische Äußerungen toleriert oder ganz selbstverständlich getätigt werden. 

»Keiner hier« habe je was gegen Juden, schrieb die jüdische Schriftstellerin ­Ramona Ambs dazu, »niemand will Antisemit sein. Man hat nur was gegen ­Eliten, gegen intellektuelle Besserwisser, gegen Kindermörder, gegen Israel, gegen Gemauschel in Hinterzimmern, gegen Kindsverstümmler, gegen Holocaustkeulen, gegen Lügenpresse, gegen Erinnerungswahn, gegen Gutmenschen, gegen Umvolkung, gegen Meinungsdiktatur und so weiter. Was können diese armen wohlmeinenden Menschen dafür, dass hinter all diesen Problemen die Juden stecken?« 

Am Montag dieser Woche wurde das Interview mit der Mutter des Täters in der Spiegel-TV-Sendung »Der Mörder und seine Mutter« ausgestrahlt, im Off-Kommentar des Beitrags wird ihre Äußerung als antisemitisch bezeichnet. Weiter gibt sie an, dass ihr Sohn sich als weißer Mann verunglimpft gefühlt habe – im Livestream hatte er sich unter anderem als Gegner des Feminismus bezeichnet, der für Verschwörungstheoretiker eine jüdische Erfindung mit dem ominösen Ziel des Bevölkerungsaustauschs darstellt. Der Pflichtverteidiger des Täters berichtet in dem Beitrag, dass sein Mandant »recht früh die Frage gestellt« habe, ob »ich Jude sei«. Als der Rechtsanwalt wahrheitsgemäß verneinte habe, habe Stephan B. gesagt, »er hätte mich dann aber auch nicht als Verteidiger abgelehnt«. Das passt zum Weltbild des Terroristen, denn ­jemand, der Juden für die heimlichen Machthaber der Welt hält, wird in seinem Wahn wohl ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass ein jüdischer und daher seiner Meinung nach immens mächtiger Anwalt ihm das beste Ergebnis im anstehenden Prozess verschaffen kann.

 

Stephan B. ließ über sein Motiv keine Zweifel. In Zeiten, da Menschen alles, was ihnen nicht in den Kram passt, kurzerhand zu fake news erklären, heißt das allerdings nichts. Beginnt man mit der Suche nach dem vollständigen ­Namen des Täters, ergänzt die Suchmaschine die meistbenutzten Zusatzwörter, in diesem Fall automatisch »Iran«. Rechtsextreme brachten nämlich schnell die Verschwörungstheorie auf, der Mann könne unmöglich Deutscher sein. Er sei bestimmt, so wie David S., der 2016 in München bei einem rassistischen Anschlag zehn Menschen ermordet hatte, in Wirklichkeit Iraner, begann einer der verwickelten Versuche, die Verantwortung für die Morde ausländischen Bösewichten zuzuschieben. Verbreitet wurde das über soziale Medien wie Twitter. In Nazi-Chats hatten sich User bereits kurz nach der Tat darüber ausgelassen, dass es sich um eine False-Flag-Aktion handeln müsse, die einen Erfolg der AfD bei den anstehenden Landtagswahlen in Thüringen verhindern solle. Als Beleg galt den Neonazis auch die zufällige Aufnahme ­eines Kameramanns, der Stephan B. von einem Fenster seiner Wohnung aus gefilmt hatte, nachdem er Schüsse gehört hatte. Dass in dem Video an ­einer Laterne am Straßenrand ein AfD-Plakat zu sehen war, wollten viele Rechtsextreme nicht einfach der Wahlwerbungsfreudigkeit der Partei zuschreiben, sondern als Beleg für ein großes Komplott sehen. 

Auch beim deutschen Imageboard Kohlchan, wo der Täter entgegen ­ersten Berichten seine Tat weder angekündigt noch den Link zum Live­stream veröffentlicht hatte, übte man sich in Verschwörungstheorien, wonach der Mossad, die Juden selbst oder der deutsche Staat hinter den Morden steckten. Es gab allerdings auch Widerspruch. »Immer wird von Volkszorn geschwafelt und wenn mal einer was macht, heißt es wieder Falschflagge«, bemängelte ein User, während ein anderer sein Posting mit »Heil Hitler« ­begann und schrieb, er wolle das Manifest und das Video von »unserem Helden« verbreiten, sobald er es irgendwo finde. Kohlchan war allerdings bald nicht mehr unter der herkömmlichen URL aufrufbar, vermutlich aus Angst der Betreiber vor Strafverfolgung. Stattdessen fand sich bis Montagabend dieser Woche an der Stelle lediglich eine auf Englisch formulierte Klage über die Falschmeldung diverser ­Zeitungen, denen man die publizistische Unabhängigkeit absprach, indem man »independent journalists« in Anführungszeichen setzte. 

Auf Kiwifarms, einem internationalen, der Alt-Right-Bewegung nahestehenden Board, gab es kaum User, die Stephan B. zu ihrem großen Helden ­erklärten. Das dürfte nicht nur daran liegen, dass er wegen der Videobilder nicht einwandfrei funktionierender Waffen als peinlicher Versager gilt, sondern auch daran, dass man sich dort projüdisch gibt, weil man Juden für Verbündete im Kampf gegen den verhassten Islam hält. 

Den zahlreichen Vereinnahmungsversuchen von Rechtsextremen hatte unter anderem das Berliner Büro des American Jewish Committee (AJC) nach den Anschlägen von Halle eine klare Absage erteilt. Auf Twitter schrieb das AJC Berlin, es wolle »an dieser ­Stelle nochmal eines öffentlich in Richtung der AfD klarstellen«, von deren Abgeordneten es in den vergangenen Tagen öfter »getaggt und retweetet« worden sei: »Wir haben euch nichts zu sagen und sind weder an eurer Unterstützung noch an euren hohlen Bekenntnissen gegen Antisemitismus interessiert. Ihr seid Teil des Problems, nicht der Lösung. Euch und uns verbindet nichts.«