Soziologe Diego Alejandro Restrepo Osorio über Gewalt gegen politische Aktivisten in Kolumbien

»300 ermordete Aktivisten seit 2016«

Interview Von Madlen Haarbach

Diego Alejandro Restrepo Osorio, Soziologe, über neue bewaffnete Gruppen und Gewalt gegen politische Aktivisten in Kolumbien.

Am 27. Oktober sollen in Kolumbien Kommunalwahlen stattfinden. In den vergangenen Wochen wurden mehrere Kandidatinnen und Kan­didaten ermordet oder bedroht. Wie viele Tote gab es genau?
Es wurden bereits sieben Kandidatinnen und Kandidaten ermordet. Elf Vorkandidaten wurden getötet, zwei sind verschwunden, mehr als 100 wurden bedroht. Dieser Wahlprozess hat gezeigt, dass es in Kolumbien eine Tendenz gibt, Gewalt als Mittel im Wahlkampf zu betrachten. Das ist tragisch. Es gibt die Vermutung, dass manche Kandidaten selbst andere Bewerber bedrohen oder ermorden lassen. Das ist auch ein Ausdruck der Unfähigkeit des Staats, die Sicherheit derjenigen zu garantieren, die politisch tätig sind.

In den vergangenen Monaten wurden auch vermehrt politische Aktivistinnen und Aktivisten ermordet, kürzlich verkündeten ehemalige Anführer der Guerilla Farc ihre Rückkehr zum bewaffneten Kampf. Wie bewerten Sie die derzeitige Situation in Kolumbien?
Wir beobachten zurzeit eine neue ­Eskalation der Gewalt, die durch das Erstarken und die Präsenz illegaler ­bewaffneter Gruppen geprägt ist. So hat etwa die Nationale Befreiungs­armee (Ejército de Liberación Nacional, ELN), die so etwas wie die letzte Guerilla des Landes ist, ihren Einfluss in ­ihren traditionellen Verbreitungsgebieten gefestigt. Neben dem ELN gibt es eine Gruppe, die in der Tradition paramilitärischer Organisationen steht, die sogenannten Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen (Autodefensas Gaitanistas de Colombia, AGC), die wir auch unter dem Namen »Clan del Golfo« kennen. Dabei handelt es sich um einen Zweig des organisierten Verbrechens, der seine Präsenz in der jüngsten Zeit stark ausgeweitet hat.

Was sind die Gründe für die Drohungen, Angriffe und Morde?
Wir haben seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den Farc 2016 ungefähr 300 ermordete Aktivistinnen und Aktivisten registriert. Die Orte, an denen sich diese Gewalt konzentriert, liegen in denselben Regionen, die auch in der Vergangenheit besonders stark vom Binnenkonflikt ­betroffen waren. Die Opfer eint, dass sie sich der Umsetzung des Friedens­abkommens widmeten, etwa der Substitution des Kokaanbaus und -vertriebs durch legale Wirtschaftsformen. Viele dieser Menschen kämpfen auch für das Recht auf Land und den Schutz der Umwelt. Das heißt, sie stellen sich ­beispielsweise großen internationalen Bergbauvorhaben entgegen.

Welche Rolle spielen ehemalige ­Rebellen der Guerilla Farc, die sich bereits seit Beginn des Friedens­prozesses abgespalten haben?
Wir wissen von 23 Splittergruppen, die aus ehemaligen Farc-Kämpfern be­stehen. Diese Gruppen verbindet kaum etwas. Aber sie nutzen die politischen Ansichten der ehemaligen Guerilla Farc, um ihre Anwesenheit und Vorherrschaft in einigen Gebieten zu legitimieren. Zurzeit sind diese Gruppen in etwa 85 Gemeinden aktiv. Zum Vergleich: Vor der Konzentration der Farc-Rebellen in den Übergangszonen, die nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens erfolgte, waren die Farc in etwa 300 Gemeinden aktiv. Wir gehen davon aus, dass diese 23 Gruppen dabei sind, kriminell zu werden, und weniger politisch motiviert sind.

 

Im Zusammenhang mit diesen Gruppen wird oft von »Dissidenten« gesprochen.
Hier muss ich erst einmal klarstellen, dass es sich nicht um Dissidenten im eigentlichen Sinne handelt. Das heißt, es handelt sich nicht um eine politische Abspaltung der ursprünglichen Guerilla Farc. Wir beobachten, dass ­diese Gruppen zwar einige soziale und politische Forderungen formulieren, aber wenn man sich ihre konkreten Aktionen ansieht, stellt man fest, dass sie nicht versuchen, den Staat zu destabilisieren – was ja eine aufständische Gruppe auszeichnen würde. Im Gegenteil: Sie konzentrieren sich in erster ­Linie auf den Drogenhandel und die Erpressung von Schutzgeldern. Aus ­unserer Sicht sind ihre Interessen in erster Linie ökonomischer Natur – also kapitalistisch.

Ende August kündigte eine Gruppe ehemaliger Farc-Anführer rund um die ehemalige Nummer zwei der Guerilla, Iván Márquez, ihre Rückkehr zum bewaffneten Kampf an. Im Gegensatz zu den erwähnten Splittergruppen begründet Márquez diesen Schritt politisch. Was bedeutet das für den Friedensprozess?
Dabei handelt es sich um einen kleinen Teil der ehemaligen Guerilla Farc, der immer schon Vorbehalte gegen die Verwirklichung des Friedensabkommens hatte, besonders auch gegen die Regierungen von Juan Manuel Santos und mittlerweile Iván Duque, die bestimmte Abmachungen aus dem Abkommen wiederholt missachtet haben. Aber die Ankündigung von Márquez wird nicht dazu führen, dass sich eine einheitliche Gruppe bildet. Was wir sehen, sind vielmehr Anführer ohne Guerilla. Es fehlt einfach auch ein gesellschaftlicher Kontext, der dafür geeignet wäre, die Gewalt als politisches Mittel zu ­legitimieren.

Das heißt, aus Ihrer Sicht handelt es sich bei der Bewegung von Iván Márquez in erster Linie um eine ­politische, obwohl einigen seiner Mitstreiter, etwa dem ehemaligen Farc-Kommandanten Jesús Santrich, ebenfalls Verbindungen zum Drogenhandel vorgeworfen werden?
Ja. Diese Personen, die sich vom Friedensvertrag losgesagt haben, den sie selbst unterzeichnet hatten, haben eine individuelle Entscheidung getroffen. Es gibt Punkte, wie ihre Verwicklungen in den Drogenhandel, über die wir zu wenig wissen. Aber unabhängig davon haben sie einen Schritt angekündigt, der den Friedensprozess erschwert: Personen, die in Kuba den Friedensvertrag mitverhandelt haben, haben den schwierigen Weg der Friedensschaffung ­verlassen. Aber wir glauben, dass die ­Bewegung eher einen politisch-argumentativen Charakter hat als einen praktischen. Für Letzteres gibt es bislang keine Anzeichen.

 

Márquez und seine Mitstreiter begründeten ihre Rückkehr zu den Waffen damit, dass der kolumbianische Staat den Friedensprozess nicht umsetze. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf?
Es gibt eine Art Doppelzüngigkeit des kolumbianischen Präsidenten Iván Duque: sein Reden bei Treffen der internationalen Gemeinschaft und das nach diesen Treffen. Während er bei internationalen Auftritten von seiner Verpflichtung auf alle Punkte des Friedensabkommens spricht, konzentriert er sich hierzulande fast ausschließlich auf die Reintegration der ehemaligen Guerilleros. Dabei haben die Inhalte des Friedensabkommens zu 90 Prozent gar nichts mit jenen Personen zu tun, die direkt am Konflikt beteiligt waren. Es geht vielmehr um eine ­Reihe von Reformen, die die strukturellen Ursachen des bewaffneten internen Konfliktes lösen sollten. Da geht es etwa um die Landverteilung und eine Lösung für die Drogenproblematik. Beide Probleme fördern den Krieg. In beiden Bereichen gibt es kaum Fortschritte. Man entwarf etwa eine Landreform, die gemeinsam mit den ­Gemeinden die Regionen entwickeln sollte, die am meisten vom Krieg ­betroffen waren. Diese Reform weckte enorme Erwartungen bei der örtlichen Bevölkerung. Es gibt aber bis heute kein Geld für ihre Umsetzung. Außerdem wurde eine Behörde, die die ­Sicherheit von ehemaligen Kämpfern und Aktivisten verantworten sollte, nie realisiert.

Der kolumbianische Präsident Iván Duque beschuldigt die venezola­nische Regierung unter Präsident Nicólas Maduro, Verbindungen zu den abtrünnigen Farc-Gruppen zu unterhalten. Duque präsentierte kürzlich auch vor den Vereinten ­Nationen einen Bericht, der diese Verbindungen zeigen soll. Wie bewerten Sie das?
Das Dokument, mit dem Duque die Verbindungen zu Venezuela belegen will, ist nicht öffentlich. Zu diesem Bericht gab es mehrere Skandale, etwa um ein Foto, das den ELN mit Kindern zeigen soll (dem ELN wurde daraufhin vorgeworfen, die Schulkinder rekrutieren zu wollen, Anm. d. Red.). Duque sagte, das Foto sei in Venezuela auf­genommen worden. Ein kolumbianisches Medium, El Colombiano, hatte das Foto allerdings bereits vor einigen Jahren veröffentlicht und erklärt, die Fotos stammten aus dem Cauca (eine Region im Südosten Kolumbiens, Anm. d. Red.). Es gibt also offenbar Unstimmigkeiten zwischen dem, was Duque sagt, und der Realität in diesem Land. Aber um Genaueres sagen zu können, müssten wir den ganzen Bericht kennen. Wir wissen allerdings, dass es Verbindungen zwischen den illegalen Gruppen in der Grenzregion gibt, die Grenze ist durchlässig. Die Gruppen bewegen sich die ganze Zeit zwischen Kolumbien und Venezuela hin und her.

Die Farc-Partei, die sich nach dem Friedensprozess gegründet hat, tritt am 27. Oktober bei den Kommu­nalwahlen an. Wie stehen Ihre Chancen?
Nicht sehr gut. Die Farc-Partei hatte viele Probleme. Eines davon sind die Vorbehalte, die viele Menschen ihr gegenüber haben – wegen des Schadens, den die Farc angerichtet haben, und der Gewalt. Die Bewegung muss stark um ihre ­Legitimation in den Augen der Bevölkerung kämpfen. Es gab auch einige interne Krisen, Abspaltungen, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Abkehr von Iván Márquez fanden. Wir glauben nicht, dass die Partei bei den Wahlen große Chancen auf Posten hat. Die Farc haben es auch nicht geschafft, sich als Partei zu konsolidieren, ihre Basis zu vereinen, also die ehemaligen Kämpfer in den Übergangszonen. Die Aus­sichten für die Partei sind sehr schlecht.