Hunderttausende in Nordostsyrien auf der Flucht

Die Vertreibung hat begonnen

Kurden, Yeziden, Christen und Aleviten fliehen aus Nordsyrien vor der türkischen Armee und deren islamistischen Verbündeten.

Am vergangenen Sonntagnachmittag verließ ein langer Konvoi die seit Beginn der türkischen Angriffe in Nordsyrien umkämpfte Stadt Serê Kaniyê. Kämpferinnen und Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Zivilisten und Verletzte verließen die Stadt und nahmen auch ihre Toten mit. Um 18 Uhr Ortszeit bestätigten die SDF, dass sie die Stadt verlassen hätten, »als Teil des Waffenstillstandsabkommens«. Aus dem Symbol des Widerstands wurde damit für viele Kurden ein Symbol der Niederlage. Die türkische Armee hatte die Stadt zuvor heftig bombardiert; mittlerweile geht auch Amnesty International davon aus, dass dabei international geächtete Waffen wie weißer Phosphor eingesetzt wurden. Die Stadt wäre wohl nur unter schweren Verlusten einige weitere Tage zu halten gewesen.

Offenbar hatten die SDF in dieser Situation entschieden, guten Willen zu zeigen und, anstatt sinnlos weiterzukämpfen, sich den katastrophalen Waffenstillstandsbedingungen zu unterwerfen, die ein US-Unterhändler mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Donnerstag ausgehandelt hatten. Am vorigen Donnerstagabend hatten die SDF noch betont, dass sie zwar den Waffenstillstand akzeptierten, allerdings nicht aus der von der Türkei geforderten über 30 Kilometer breiten »Sicherheitszone« abziehen würden, die sämtliche bedeutenden kurdischen Städte in Syrien umfasst.

Ob weitere Städte geräumt werden, bleibt fraglich, zumal die Türkei zwar den reibungslosen Abzug der Kämpfer und Zivilisten aus Serê Kaniyê ermöglicht hat, sich andernorts aber nicht an den von ihr diktierten Waffenstillstand hält.

Für zumindest zwei Städte, die schon am 13. Oktober eingenommene mehrheitlich arabische Grenzstadt Tell Abyad und das mehrheitlich kurdische Serê Kaniyê, kam die Einigung der SDF mit Russland und der syrischen Regierungsarmee zu spät. Diese sichert seit dem 16. Oktober Manbij und die Region westlich des Euphrat sowie die türkisch-syrische Grenze bei Kobanê, vermied aber eine direkte Konfrontation mit der türkischen Armee bei Tell ­Abyad und Serê Kaniyê.

Das von Russland vermittelte Abkommen zwischen den SDF und der syrischen Armee sieht vor, dass diese ­lediglich die Grenze zur Türkei sichert, jedoch nicht die Städte selbst. Die zivilen Angelegenheiten bleiben bis auf weiteres in den Händen der Selbstverwaltung. Die Grenze zum Irak mit dem Grenzübergang nach Irakisch-Kurdistan bei Semalka bleibt unter Kontrolle der SDF. Das ermöglicht es auch Journalisten, weiterhin ohne syrisches Visum in das Gebiet zu gelangen.

 

Aus den umkämpften Grenzregionen sind in den vergangenen Tagen über 200 000 Zivilistinnen und Zivilisten geflohen. Die meisten suchen vorerst Schutz in den weiter südlich gelegenen, von den SDF kontrollierten Gebieten. Einige Tausend sind allerdings auch schon in der Autonomieregion Kurdistan im Irak eingetroffen, wo man sich auf noch mehr Flüchtlinge vorbereitet.

Auch eine Rückkehr des sogenannten Islamischen Staats gilt dort als ernstzunehmende Gefahr. Immerhin konnten vor einer Woche 800 Frauen und Kinder von IS-Angehörigen durch eine gemeinsame Aktion lokaler IS-Schläferzellen mit der türkischen Luftwaffe aus dem Lager Ain Issa befreit werden. Viel gefährlicher sind die männlichen Kämpfer, die bereits durch gezielte Angriffe auf Gefängnisse in kurdischen Städten freikommen konnten. Im großen Gefangenenlager al-Hol (siehe Interview oben) finden fast täglich Aufstands- und Ausbruchsversuche statt, derer die SDF nur noch mit Mühe Herr werden. Am Dienstag vermeldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte die Rückkehr eines lokalen Emirs des IS mit 150 Bewaffneten nach Tell Abyad.

Mit dem Fall der Städte Tell Abyad und Serê Kaniyê wurden nicht nur kurdische – und im Falle Tell Abyads auch arabische – Zivilisten vertrieben, sondern auch aramäisch- und armenischsprachige Christen. Beide Städte beherbergen christliche Gemeinden. In Tell Abyad waren die dortigen armenischen Christen bereits 2013 vor dem IS geflohen, der ihre Kirche niederbrannte. 2015 wurde diese nach der Befreiung der Stadt durch die Kurden wiederaufgebaut. Nun mussten die Nachkommen der Überlebenden des Genozids von 1915 vor der türkischen Armee fliehen. Das gleiche Schicksal erlitten die letzten armenischen und syrisch-orthodoxen Christen dieser Stadt am Sonntag. In der Umgebung von Serê Kaniyê befinden sich zudem die nach der türkischen Besetzung Afrins 2018 noch verbliebenen letzten yezidischen Dörfer Syriens. Auch deren Bewohner sind mittlerweile fast alle geflohen. Zu groß ist die Angst der religiösen Minderheiten vor den islamistischen Verbündeten der Türkei.

Diese haben in Tell Abyad bereits damit begonnen, die Häuser der geflohenen Christen zu kennzeichnen und zu beschlagnahmen. In Afrin hatten sie vorgemacht, was zurzeit auch in Tell Abyad und Serê Kaniyê droht: Allein 17 yezi­dische Tempel wurden dort seit 2018 zerstört und geschändet; Friedhöfe der Aleviten und Yeziden und christliche Kirchen wurden zerstört; verbliebene Angehörige der religiösen Minderheiten fürchten um ihr Leben, viele wurden entführt. All dies droht auch den verbliebenen Minderheiten im Nordosten Syriens.