Shira Abbo über die Lage Asylsuchender in Israel

»Anerkennungsquote von 0,48 Prozent«

Interview Von Till Schmidt

Shira Abbo, Sprecherin der Hotline for Refugees and Migrants, über die Lage von Asylsuchenden und Arbeitsmigranten in Israel.

Im September berichtete die israelische Zeitung »Haaretz«, dass Anwohner in Herzliya die Abschiebung einer nepalesischen Arbeitsmigrantin und ihrer in Israel geborenen Kinder verhindern konnten. Abschiebungen, aber auch Proteste dagegen, gibt es immer wieder in ­Israel. Wie ist dort derzeit die Lage für Flüchtlinge und nichtjüdische Migranten?
Wir befinden uns in einer Art Schwebezustand. Derzeit versucht der Staat, philippinische Immigranten und ihre Kinder, die teils auch hier geboren wurden, abzuschieben. Dagegen gibt es großen Protest, an dem sich auch die Hotline for Refugees and Migrants beteiligt. Immerhin werden seit März 2018 Asylsuchende nicht mehr im Internierungslager Holot festgehalten. Das heißt, die zurzeit in Israel lebenden Asylsuchenden befinden sich auf freiem Fuß. Vorher konnten sie in Holot zunächst auf unbestimmte Zeit, dann für zwei und schließlich für ein Jahr in ­Administrativhaft genommen werden. Dass das mittlerweile gar nicht mehr möglich ist, ist einer der großen Erfolge unserer Arbeit.

Wie viele Asylsuchende leben derzeit in Israel?
Zu Hochzeiten waren es 60 000, inzwischen sind es nur noch knapp 40 000 Menschen. Das sind etwa 0,5 Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung. Die meisten der Flüchtlinge sind Eritreer und Sudanesen. Sie verteilen sich auf das ganze Land. In Eilat ganz im Süden des Landes sowie in Bnei Brak und Petach Tikva im Zentrum gibt es viele Eritreer und Sudanesen. Etwa die Hälfte aber lebt in Tel Aviv.

Warum ist das so?
Tel Aviv ist natürlich nicht nur für ­Geflüchtete attraktiv. Zwar kann die Lebensqualität in anderen Städten durchaus höher sein, doch um in deren Genuss zu kommen, muss man schon sehr in die israelische Gesellschaft integriert sein. Das sind die Geflüchteten aber in der Regel nicht. In Tel Aviv hingegen können sie an bestehende Strukturen andocken. Hier gibt es ein bereits seit Jahren existierendes großes Milieu Geflüchteter, das sie unterstützen kann.
Arbeitgeber in Tel Aviv wissen zudem, dass sie von den Behörden rechtlich nicht dafür belangt werden, wenn sie Asylsuchende beschäftigen, obwohl in den Aufenthaltspapieren explizit »keine Arbeitserlaubnis« steht. Nicht zuletzt verfügt Tel Aviv über eine eigene Abteilung in der Stadtverwaltung, die ausschließlich für Migranten und Geflüchtete zuständig ist und etwa in den Bereichen Bildung, Kinder und Familien Unterstützung leistet. Das gibt es in anderen israelischen Städten nicht.

Das israelische Asylsystem existiert erst seit 2009. Damals war der Staat unerwartet mit Tausenden neu eingereister Asylsuchender konfrontiert und übernahm vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) anschließend die Verantwortung für die Asylverfahren. Was hat sich seither getan?
Das primäre Ziel besteht nach wie vor darin, möglichst viele Asylsuchende abzulehnen. Zwischen 2009 und 2017 sind nach der offiziellen Statistik des israelischen Rechnungshofes nur 52 Asylsuchende als Flüchtlinge anerkannt worden oder sie haben einen speziellen humanitären Status erhalten. Das sind die aktuellsten Zahlen, die wir haben. Bei einer Gesamtzahl von 10 836 Entscheidungen bedeutet dies eine Anerkennungsquote von 0,48 Prozent, was weit unter den Zahlen fast aller anderen OECD-Staaten liegt. Die übrigen Asylsuchenden warten schon seit Jahren auf eine Entscheidung in ihren Asylverfahren, doch es passiert nichts.

 

Die Asylsuchenden müssen also sehr lange warten?
In der Tat. Dazu kommt die permanente Unsicherheit. So mussten eritreische Asylsuchende bis vor kurzem alle zwei Monate ihr Visum erneuern lassen, sudanesische alle sechs Monate, sofern Darfur, die Nuba-Berge oder Blauer Nil als ihre Herkunftsregionen anerkannt wurden. Nun wurde immerhin beschlossen, diese Frist auf sechs Monate respektive ein Jahr auszuweiten. Zudem existiert eine spezielle Einkommensteuer für arbeitsberechtigte Asylsuchende, die als Pfand einbehalten und im Falle einer Ausreise aus Israel zurückbezahlt wird. Sie umfasst 20 Prozent des Nettogehalts und in Ausnahmefällen – für Frauen, ältere Menschen und Opfer von Menschenhandel – sechs Prozent. Dazu kommen noch spezielle Arbeitgeberanteile.

Kommt die »freiwillige Ausreise« denn für Asylsuchende in  Frage?
Sehr, sehr selten. Und die von der Regierung geplanten Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten wie Ruanda und Uganda sind vergangenes Jahr zum Glück vor dem Obersten Gericht gescheitert, auch dank der großen öffentlichen Proteste von NGOs und der Zivilgesellschaft. Dass alle Israelis etwas gegen Geflüchtete hätten, ist ein Klischee, das im Ausland gerne kolportiert wird. Damals gingen in Tel Aviv über 20 000 Menschen auf die Straße, um gegen die Abschiebepläne der Regierung zu demonstrieren. Das hat uns sehr beeindruckt.

In welchen Bereichen arbeiten die Asylsuchenden?
Auch wenn es hier Ausnahmen gibt, ist deren Arbeit in der Regel schmutzig, erniedrigend und gefährlich. Die Asylsuchenden arbeiten vor allem im Rei­nigungssektor, auf den in Israel sehr gefährlichen Baustellen oder in der Gastronomie.

Wie steht es um den Zugang zur Gesundheitsversorgung?
Ebenfalls problematisch, weil sich der rechtliche Anspruch auf Leistungen nur auf das Allernötigste beschränkt. Da sehr viele Asylsuchende traumatische Erfahrungen im Herkunftsland oder auf dem Weg nach Israel machen mussten, wäre psychologische Hilfe eigentlich ein enorm wichtiges Thema. Es gibt Organisationen wie Assaf (Hilfsorganisation für Asylsuchende und Geflüchtete in Israel, Anm. d. Red.) oder die Gesher-Klinik in Yafo nahe Tel Aviv, die psychologische Hilfe für Asylsuchende und undokumentierte Migranten anbietet. Die Klinik ist allerdings chronisch unterfinanziert und verfügt nicht über ausreichend Personal. Insgesamt wird die sehr schwierige psychische Situation der Geflüchteten viel zu wenig beachtet.

Welche Perspektiven haben die ­Kinder der Geflüchteten, die ja teils auch in Israel geboren und aufgewachsen sind?
Es ist großartig, dass in Israel unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Recht auf Bildung besteht. Das umfasst die Grundschule und die weiterführende Schule. Dadurch haben viele Kinder Asylsuchender gute Bildungsperspektiven. Einige Kinder Asylsuchender können auch studieren. Das ist wegen der Studiengebühren allerdings in der Regel nur über private Stipendien möglich, die von wohlhabenden Spendern finanziert werden. Den für Män­ner und Frauen obligatorischen Militärdienst in der Armee dürfen die Kinder von Asylsuchenden nicht leisten, auch wenn viele, und gerade die, die als unbegleitete Minderjährige gekommen sind, es eigentlich kaum erwarten können, endlich den »israelischen Traum« zu leben, also ein normales ­Leben wie die Israelis zu führen, in dem der Militärdienst eine wichtige Rolle spielt. 

 

Für welche weiteren Punkte setzt sich Ihre Organisation derzeit ein?
Unter anderem dafür, dass die Entscheider in den Asylverfahren bessere Informationen über die Herkunftsländer erhalten. Außerdem sollten sich die Asylverfahren enorm beschleunigen. Bisher existiert kein Zeitlimit. Die Verfahren können deshalb schier endlos in die Länge gezogen werden, weshalb die Flüchtlinge seit Jahren in der Luft hängen. Einige kongolesische Asylsuche leben sogar schon seit den neunziger Jahren in Israel.
Daneben versuchen wir zu erreichen, dass mit asylsuchenden LGBTI sensibler umgegangen wird. Wir betreuen immer wieder Fälle, in denen deutlich wird, dass die Sachbearbeiter ihren Entscheidungen vollkommen undifferenzierte Vorstellungen von Homosexualität zugrunde legen. So wurde kürzlich der Asylantrag eines Nigerianers abgelehnt, nur weil er die Namen von bisherigen Sexualpartnern und einschlägigen Gay-Clubs in Nigeria nicht nennen sowie die Pride-Flagge nicht identifizieren konnte. Hier erwarten wir mehr Verständnis für die spezifische Situation des Antragstellenden, denn in Nigeria ist Homosexualität gesellschaftlich tabuisiert und wird vom Staat verfolgt, teils auch mit der Todesstrafe (in den Bundesstaaten, in denen die Sharia gilt, Anm. d. Red.).

Was hat die Hotline seit ihrer Gründung 1998 erreicht?
Wir waren 2018 stark daran beteiligt, Abschiebepläne zu verhindern, die kongolesische, eritreeische und sudanesische Geflüchtete betrafen. Dazu kommt die erwähnte Reduzierung der maximalen Dauer der Administrativhaft im Internierungszentrum Holot, die wir vor Gericht erstritten haben. Auch das Zustandekommen von zwei Gesetzen gegen Menschenhandel in den Jahren 2000 und 2006 zählt zu unseren großen Erfolgen. Freiwillig gibt der Staat nichts, für alles müssen wir uns in schweißtreibenden Kämpfen einsetzen.