Comic über Zwangsarbeit im Nationalsozialismus

Das Schicksal der Zwangsarbeiter

Der Comic »Valentin« von Jens Genehr zeigt das Leiden von Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus beim Bau eines U-Boot-Bunkers in Bremen.

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob Comics ein ernstzunehmendes Mittel zur Darstellung des Nationalsozialismus sein können. Dabei hat es bereits zahlreiche erfolgreiche und äußerst vielschichtige Arbeiten gegeben, die mit dem immer noch bisweilen unterstellten Schmuddelimage des Comics nichts zu tun haben. Dass Bildergeschichten dann plötzlich »Graphic Novel« oder in wissenschaftlichen Arbeiten gar »narrative Bildserien« genannt werden müssen, kann getrost als Ausdruck dessen gesehen werden, dass Comics für den bildungsbürgerlichen Geschmack und den Buchmarkt nach wie vor als irgendwie zu schlicht gelten. Spätestens seit den achtziger Jahren aber, seit dem Erscheinen von Art Spiegelmans »Maus«, mussten sich Kritiker ernsthafter mit dem Genre Comic auseinandersetzen.

Spiegelmans Comic war nicht die erste graphische Arbeit, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigte: Die illustrierte und gekürzte Fassung von Anna Seghers’ »Das siebte Kreuz« war bereits während des Zweiten Weltkriegs in den USA ein großer Erfolg. Auch wählten Internierte in den Lagern der Nationalsozialisten und ihrer Kollaborateure die Möglichkeit, in Comicstrips ihrem Leiden einen Ausdruck zu geben. Die Diskussion darüber, ob der Comic ein geeignetes Mittel darstellt, zeigt sich damit als eine, die der Realität nicht gerecht wird. Das Medium Comic ist schlicht eines von vielen möglichen.

Jens Genehrs Erstlingswerk »Valentin« ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie hilfreich ein Comic bei der Darstellung nationalsozialistischer Herrschaft an einem konkreten Ort sein kann. »Valentin« setzt sich vorrangig mit der Geschichte zweier realer Menschen auseinander, die beide auf der Baustelle eines gigantischen Projekts der Kriegsmarine eingesetzt waren. Raymond Portefaix wurde im Zuge einer Razzia 1944 wenige Wochen vor der Befreiung im französischen Murat gefangengenommen und zur Arbeit am U-Boot-Bunker Valentin im Bremer Norden gezwungen. Auf der anderen Seite steht Johann Seubert, Drogist, Kreisfilmberichterstatter und NSDAP-Mitglied aus einem benachbarten Bremer Stadtteil, der im Auftrag der Marinebauleitung die Baustelle filmisch und fotografisch dokumentierte.

Der U-Boot-Bunker Valentin war ein Projekt des totalen Krieges, bei dem ab Sommer 1943 bis März 1945 tausende Zwangsarbeiter zur Errichtung einer gegen Luftangriffe geschützten U-Boot-Werft eingesetzt waren. Karl Dönitz, der zum Großadmiral aufgestiegene »Befehlshaber der U-Boote«, hatte diese bereits im Spanischen Bürgerkrieg eingesetzt und angesichts wachsender Verluste im Seekrieg den bevorzugten Bau eines neuen U-Boot-Typs gefordert. Er setzte 1942, mitten im  Zweiten Weltkrieg, mit Unterstützung des Rüstungsministers Albert Speer die Errichtung des Bunkers als vorrangiges Bauprojekt der Kriegsmarine durch. Über 10 000 Menschen wurden in der vormals ländlichen Region an der Unterweser auf mehreren Baustellen zur Arbeit gezwungen. Sie wurden zur absoluten Verausgabung getrieben – auf der Bunkerbaustelle starben mehr als 1 300 Menschen während einer Bauzeit von lediglich 22 Monaten. Somit kann auch der Kriegsmarine eine Beteiligung an der systematischen Ausbeutung von Zwangsarbeitern nachgewiesen werden: In nächster Nähe zu den Bremer Stadtteilen Farge und Rekum, unweit der Baustelle, befanden sich ein KZ-Außenlager, ein Arbeitserziehungslager, mehrere Kriegsgefangenenlager und Unterkünfte für ­zivile Zwangsarbeiter. 

 

In 15 Kapiteln erzählt und illustriert Jens Genehr, der ehrenamtlich Führungen durch den Bunker leitet, vorrangig die Geschichten der Beteiligten. Der Comic widmet sich den Schicksalen der Zwangsarbeiter und verdeutlicht soziale Zusammenhänge zwischen den Beteiligten. Genehr arbeitet wie ein Historiker, bereitet vorhandenes Quellenmaterial auf, interpretiert und füllt zaghaft die Lücken der bruchstückhaften Erinnerungen. Die Entscheidung für Portefaix und Seubert als Protagonisten des Comic liegt nahe, da ihre Erinnerungen beziehungsweise Fotografien zwei zentrale Quellen für die Geschichte des Bunkers Valentin sind – die eine aus der Opfer- und die andere aus der Täterperspektive.

Die Erinnerungen, die Portefaix niederschrieb, sind von unschätz­barem Wert, weil sie ihn als Opfer zur Sprache kommen lassen und so seine Gewalterfahrungen nicht aus­geklammerten, sondern in den Mittelpunkt rücken. Ganz anders ist es bei Johann Seubert, der den Blick des Überwachenden und des Analytikers eines Bauprozesses besaß, und dabei Bilder anfertigte, auf denen man die Baustelle zwar sieht, die lebensgefährliche Bedingungen aber kaum nachvollziehbar werden. Raymond Portefaix, Überlebender von Besatzung, Verschleppung, Konzentrationslager, Zwangsarbeit und Todesmarsch, erzählt die Geschichten, die Seubert nicht erfassen wollte. So ­fotografierte Letzterer zwar den Eingang zum KZ, lässt dabei aber die Betrachter darüber im Unklaren, wo und wie die Gefangenen wirklich untergebracht waren. Portefaix berichtete hingegen viel detaillierter über die Umstände, die dort herrschten.

Dieser Widerspruch zwischen den beiden Zeitzeugen spiegelt sich auch in den einzelnen Episoden des Comics wider: Die saubere, ordentliche und inszenierte Seite der Täter und Mitwisser auf der einen, der Alltag voller Dreck, Gewalt, Erschöpfung und Angst auf der Seite der Opfer. Hier setzt die Interpretation des Autors und Illustrators ein. Weil lediglich ein verschwommenes Selbstportrait von Seubert überliefert ist, werden er und andere zur Projektionsfläche: Die Darstellung des Fotografen als womanizer ist ebenso ­fiktiv wie das arrogante Gebaren der Ingenieure auf der Baustelle. Aufgrund solcher Erweiterungen des historisch Belegbaren werden im Comic für die Figuren lediglich Namenskürzel verwendet.
Untersucht man Seuberts Fotos auf ihre ästhetische Konzeption hin, erlaubt dies, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Fotografen zu ziehen: Zum einen verleiht Seubert den Planern sowie der Baustelle selbst auf den Fotos Individualität und Größe, zum anderen lässt er die Zwangsarbeiter vor der Kulisse des Bunkers verschwimmen. Sein Menschenbild drückt sich direkt in seinen Bildern aus. Neben den knapp 1 000 Fotografien Seuberts und den Erinnerungen Portefaixs verarbeitet Genehr zahlreiche andere Quellen und verdichtet diese zu einer Geschichte, die auch die Folgen der Kriegsereignisse für die Protagonisten miteinbezieht. Während sich der Ingenieur Erich Lackner, ehemaliger Leiter der Bunkerbaustelle und seit 1932 in der SA, noch in den achtziger Jahren als erfolgreicher Unternehmer mit seiner Arbeit am Bunker brüstete und vehement den Zusammenhang seiner Tätigkeit mit der Zwangsarbeit leugnete, suchten andere (wie zu dieser Zeit Art Spiegelman in seiner Familie) den Kontakt zu Opfern und fanden den ­Pariser Anwalt Raymond Portefaix, der sich jahrelang die Frage stellte, warum ausgerechnet er im Gegensatz zu vielen anderen die Grausamkeiten der Nationalsozialisten überlebt hatte.

U-Boote wurden in Bremen-Farge nie gebaut: In den letzten Kriegs­wochen wurde der noch nicht fertig gestellte Bunker Valentin von Bomben der Royal Air Force irreparabel zerstört.

Jens Genehr: Valentin. Golden Press, ­Bremen 2019, 240 Seiten, 32 Euro.