Das Politikum »­Sesamstraße«

Das Monster als Revolutionär

Als vor 50 Jahren die erste Folge der »Sesame Street« lief, wurde die Sendung in den USA sofort zum Politikum. Auch in Deutschland versuchten Konservative, die Ausstrahlung der Sesamstraße zu verhindern.

Er ist nervös, an einem Dienstag im April 2002 muss er vor dem US-Kongress aussagen – als erstes Monster überhaupt. Da gilt es, Vorurteile auszuräumen. »Elmo ist in einer Musik­sendung, nicht in einer Gang. Nein. Elmo ist in keiner Gang«, sagte Mr. Elmo Monster laut Aufzeichnungen des US-Repräsentantenhauses.

Der Bayerische Rundfunk weigerte sich, die Sesamstraße auszustrahlen. Der Österreichische Rundfunk sah in der Serie eine Bedrohung der herrschenden Ordnung.

Bei der Anhörung vor einem Unterausschuss für Bildungspolitik war Mr. Elmo Monster als Zeuge eines Musikverbands geladen, der Mittelkürzungen für musikalische Bildung verhindern wollte. Das rote Monster – seit 1972 konstant gebliebenes Alter: dreieinhalb Jahre – hat sein Sprachverständnis zu einem guten Teil durch die Musik erworben, durch den berühmten ABC-Song. Auch beim Rechnen helfe die Musik, sagt der kleine pelzige Zeuge mit der Falsettstimme. Und, so der Subtext seiner Aussage, Bildung verhindere auch manch kriminelle Karriere. Tatsächlich zeigt eine Studie der amerikanischen Universität Maryland und des Wellesley College, dass Kinder, die regelmäßig die »Sesamstraße« sehen, später besser in der Schule sind. Besonders profitieren Jungen sowie Kinder aus afroamerikanischen Familien oder sozialen Brennpunkten von der Fernsehsendung.

Dass Elmo kein Gang-Mitglied ist, hätte Anfang der siegziger Jahre möglicherweise auch Verantwortliche beim Bayerischen Rundfunk (BR) interessieren sollen. Dieser weigerte sich, die deutsche Version der »Sesamstraße« im bayerischen Dritten Programm zu ­senden, während der NDR und der WDR im Januar 1973 damit begannen. Grover und andere Monster-Charaktere seien »Gewalttätige und Unzufriedene mit den Visagen von Ungeheuern«, urteilte der damalige Leiter der Projektgruppe Erziehungswissenschaft beim BR, ­Harald Hohenacker. Dem BR-Fernseh­direktor waren die Straßenzüge »zu amerikanisch«. Auch der Saarländische, der Süddeutsche und der Südwestfunk strahlten erst mit etwa einem halben Jahr Verzug und Nachbesserungen die für den deutschen Markt adaptierte Sendung aus. Der Österreichische Rundfunk (ORF) sah in der »Sesamstraße« eine Bedrohung der herrschenden Ordnung und zeigte die Sendung nie.

 

Eine möglicherweise zutreffende Anaylse. Denn der vielleicht radikalste Charakterzug der »Sesamstraße« war schon immer ihr sozialer Anspruch. Von Anfang an zielte die Sendung auf Kinder armer Familien in städtischen Milieus – diejenigen, die in Straßen zwischen Mülltonnen spielten. Die Show startete nach den Aufständen in überwiegend von Afroamerikanern bewohnten Armenvierteln Washingtons, Baltimores, Clevelands und Chicagos, ein Jahr nach der Ermordung von Martin Luther King. Chester Pierce, ein Harvard-Professor, der die Black Psychiatrists of America gegründet hatte, war einer der Berater der Sendung. Im Jahr 1969, fünf Jahre nach der Verabschiedung des Civil Rights Act und ein Jahr, nachdem Captain Kirk Lieutenant Uhura in »Star Trek« geküsst hatte, war es gewagt, wenn nicht radikal, afroamerikanische mit weißen Charakteren gleichzustellen – und nicht mehr bloß als Entertainer oder Bedienstete zuzulassen. Im Bundesstaat Mississippi wurde die Sendung daher 1970 sogar für einige ­Wochen aus dem Fernsehprogramm verbannt.

»Es ist nicht einfach, grün zu sein«, erklärt Frosch Kermit entmutigt und beklagt die Farbe seiner Haut. Er würde es vorziehen, zum Beispiel rot oder goldfarben zu sein. Bald merkt er jedoch, dass es auch schön ist, grün zu sein: »Es ist die Farbe des Frühlings. Ich glaube, es ist das, was ich sein will.«

Die »Sesamstraße« war in gewisser Weise revolutionär in ihrer Pädagogik. Die Show kennzeichnet einen Wendepunkt im Denken von Kinderpsychologen und Erziehern – zu einer Zeit, als Experten gerade den Glauben aufgaben, dass kognitive Fähigkeiten vollständig vererbt seien. Noch heute sorgt der Sesame Workshop als Nachfolger des Children’s Television Workshop dafür, dass sich die Serie samt ihren vielen Ablegern die Originalität bewahrt. Eine eigene Forschungsabteilung bereitet erwiesenermaßen korrekte Informationen pädagogisch passend auf.

Die Produzentin Joan Ganz Cooney ist eine derjenigen, die der »Sesamstraße« von Anfang an zum Erfolg verhalfen. Am 30. November 2019 wird sie 90 Jahre alt. Natürlich haben auch die Jim Henson Company und ihre Muppets der Serie zu ihrem weltweiten Erfolg verholfen. Immer wieder kamen reale Prominente als Gäste in die Sendung, darunter Johnny Cash, Alice Cooper und Michelle Obama. Neben den menschlichen Bewohnern wie Gordon Robinson, dem afroamerikanischen Lehrer, der von Beginn die Sendung prägte, und dessen Ehefrau Susan, der Krankenschwester und working mum, leben in der Straße zahlreiche Puppen. Charaktere mit Einschränkungen und diverser sexueller Orientierung, Hauptdarsteller aus sogenannten Minderheiten – die »Sesame Street« vereint alle. 

 

Es gibt zahlreiche Adaptionen, bei denen nationale Fernsehsender teilweise recht frei koproduzierten. Der deutsche NDR begann – nach Italien, Mexiko, Brasilien und Kanada – als fünfter Partner mit synchronisierten Testsendungen im Sommer 1972 und mit offiziellen Ausstrahlungen ab 1973. Insgesamt wird die »Sesame Street« heute in 150 Ländern gezeigt, von ­Afghanistan bis Südafrika. Vor Ort ­kooperieren die Produzenten auch mit NGOs, um in der Hauptsendung oder einem ihrer Spin-offs regional wichtige Themen zu behandeln. So startete im Jahr 2018 »Sesame Teret Teret« in Äthiopien. Die Ausgabe in amharischer Sprache soll allgemein den Zugang zu Bildung in dem Land verbessern. In ­Niger, Mali und anderen Ländern Afrikas, im Libanon, in Jordanien, im Irak und den kurdischen Gebieten Syriens wird der Schwerpunkt auf Erziehung zu Hygiene und Gesundheitsvorsorge ­unter schwierigen Bedingungen gelegt; Themen, die für Kinder in extrem ­armen Ländern, Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern wichtig sind. Vor den Gefahren von HIV warnt das Programm in Ländern, in denen das Virus besonders weit verbreitet ist. In Ägypten will »Alam Simsim« die Geschlechtergleichheit fördern, dort durch den Charakter des vierjährigen Mädchens Khoka. In Indien kämpft das Mädchen Chamki für die Rechte von Frauen und Mädchen, in Bangladesh ist es Tuktuki. In Afghanistan sind Zari und ihr Bruder Zeerak mit einem ähnlichen Auftrag unterwegs. In Japan ist Autismus ein Schwerpunkt der Sendung. Zeitweise gab es sogar ein gemeinsames Programm für Israel und Palästina. Nachdem mit »Rechov Sumsum« bereits 1982 ein Programm in Israel bei ETV startete, folgte 1998 mit »Rechov Sumsum /  Shara’a Simsim« ein gemeinsames Programm. ­Immerhin 70 Folgen lang hielt diese Koproduktion, bei der die ­Palästinensische Autonomiebehörde, Israel und Jordanien Partner waren. Derzeit gibt es separate Versionen, eine für Israel und eine für die palästi­nensischen Gebiete. In der palästinensischen Version kommen keine Juden mehr vor.

International bevölkern mehr als 1 700 Puppen, reale oder gezeichnete Charaktere das Universum der »Sesame Street«. Neben Gordon und Susan ­Robinson waren der Musiker Bob Johnson und der Ladenbesitzer Mr. Harold Hooper die ersten menschlichen Bewohner der »Sesame Street«.

Im Jahr 1983 hielt der Tod Einzug: Nachdem Will Lee, Darsteller des Mr. Hooper, Ende 1982 verstorben war, wurde der Wegfall des Charakters nicht durch einen fiktiven Umzug thematisiert oder einfach ein anderer Schauspieler gecastet. In Folge 1 839 wurde der Tod des Charakters auf eine für Vorschulkinder geeignete Art zum Thema. Als der gelbe Big Bird von Gordon wissen möchte, warum Menschen sterben, kann dieser ihm zwar am Ende der Episode auch bloß diese Antwort geben: »Just because«, doch bis heute gilt diese Folge vielen als die vielleicht emotionalste und eine der besten überhaupt. Als Referenz und Reminiszenz blieb ein Foto von Mr. Hooper im Set späterer Folgen hängen.

Irgendwann gab sogar der BR nach. Ab Anfang 1988 wurde die Sendung auch in Bayern gezeigt, so der Sender auf Nachfrage der Jungle World. In den langen Jahren der »Sesamstraße«-Abstinenz hatten die Bayern stattdessen »Das feuerrote Spielmobil« produziert, das im Kinderprogramm der ARD ausgestrahlt wurde.

Derzeit ist die »Sesamstraße« regelmäßig nur im Kinderkanal KiKa zu ­sehen. Den früher auf einigen Dritten Programmen gezeigten alten Folgen hat man dort den Sendeplatz genommen, längst auch beim NDR – trotz ­Demonstrationen vor der Zentrale. Es geht der Sendung ein wenig wie Mr. Hooper: Sie droht, in Vergessenheit zu geraten, wenn man nicht an sie ­erinnert.


Am 10. November 1969 wurde die erste Folge der »Sesame Street« in den USA ausgestrahlt. Die kurz zuvor gegründete Non-Profit-Organisation Children’s Television Workshop (CTW) produzierte sie für das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm zunächst im National Educational Television und von 1970 bis 2016 im Fernsehsender PBS. Seit 2016 werden die neuen Folgen der »Sesame Street« zuerst bei Home Box Office (HBO) gezeigt und später bei PBS wiederholt. Die Sendung erreicht mehr als 150 Millionen Kinder in 150 Ländern und wird in 70 Sprachen produziert.