Massenproteste im Libanon

Alle heißt alle

Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad al-Hariri soll im Libanon eine Übergangsregierung gebildet werden. Die Proteste auf der Straße gehen weiter.

Musik beschallt den Platz der Märtyrer im Zentrum Beiruts, der an die hier exekutierten Aufständischen gegen das Osmanische Reich erinnert. Vereinzelt fliegen Feuerwerksraketen in die Luft. Es ist Sonntagabend, erneut haben sich Zehntausende Menschen eingefunden, um gegen die Regierung, die eigentlich vergangene Woche zurückgetreten ist, zu demonstrieren. Sie kommen aus allen Teilen des Landes. »Ich bin heute nach Beirut gekommen, um die Proteste hier zu unterstützen. Es ist die Hauptstadt und die wahre Auseinandersetzung findet hier statt«, sagt Mariam, eine junge Demonstrantin, die aus Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Landes, angereist ist. Tags zuvor waren viele Beirutis nach Tripoli gefahren, um an den dortigen Protesten teilzunehmen.

Eine Übergangsregierung aus Experten, die unabhängig von ihrer Konfession aufgrund ihrer Expertise ernannt werden, soll die notwendigen Reformen vornehmen.

»Die Revolte ist ohne Anführer, was die da oben zur Verzweiflung treibt«, sagt Haytham Shamas, ein Aktivist der ersten Stunde. Trotzdem, so scheint es, haben sich bei den nunmehr dreiwöchigen Protesten die Protestierenden vernetzt, die Bewegung wirkt organisierter. Zelte, Snack-Buden und die Kinderecke stehen wieder, nachdem Anhänger der Hizbollah und der schiitischen Miliz Amal diese am Dienstag vergangener Woche zerstört hatten.

Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad al-Hariri in der vergangenen Woche waren die Proteste zunächst abgeebbt. Die Polizei konnte Straßenblockaden mühelos räumen. Doch seit Sonntagnacht ist wieder alles anders. Fast gleichzeitig errichteten Libanons zivile Rebellen Dutzende Straßensperren im ganzen Land und blockierten die Eingänge zahlreicher Banken.

Der Rücktritt des libanesischen Ministerpräsidenten bedeutet laut Verfassung automatisch das Ende der gesamten Regierung. Der Präsident ist verfassungsrechtlich angehalten, einen neuen Ministerpräsidenten zu bestimmen und mit der Bildung des ­Kabinetts zu beauftragen. Alternativ kann er Neuwahlen ausrufen. Allerdings setzt ihm die Verfassung dafür keinerlei Frist. Hatte die Protestbewegung mit Hariris Abtreten eines ihrer Ziele erreicht, fürchten nun viele, dass die verbliebenen Parteien, darunter die Partei des Präsidenten Michel Aoun, die Freie Patriotische Bewegung (FPM), die Hizbollah und Amal, die Regierungsgeschäfte »kommissarisch« fortführen werden. »Letztes Mal sind sie noch acht Monate im Amt geblieben, ­dieses Mal … Wer weiß, sie könnten für immer im Amt bleiben«, fasst der Aktivist Shamas das Dilemma zusammen.

 

Als weiteres Szenario ist ein Rücktritt vom Rücktritt denkbar. Präsident Aoun versprach in einer Rede am Sonntag Dialog und versicherte, dass die Forderungen der Protestierenden erhört worden seien und schnellstmöglich eine Übergangsregierung gebildet werde. Die libanesische Zeitung al-Nahar berichtete, dass der zurückgetretene Hariri auch als möglicher Übergangsministerpräsident gehandelt werde und einiges auf eine Versöhnung von Hariris Zukunftspartei mit der FPM hindeute. Des Weiteren könnte Libanons Außenminister Gebran Bassil, der Schwiegersohn Aouns, damit betraut werden, eine neue Regierung aufzustellen.

Keines der Szenarien ist im Sinne der Protestbewegung, die fest entschlossen ist, die Revolte fortzusetzen, bis ihre Ziele erreicht sind und die »­politische Klasse« vollständig zurücktritt. »Alle heißt alle!« (killun yaani killun), benennt Eric einen zentralen Slogan der Revolte. »Die Revolution wird weitergehen, solange die Situation andauert.« Eric ist Banker und seit dem ersten Tag bei den Protesten. Er sagt: »Thaura«, was auf Arabisch Re­volte, Aufstand oder Revolution bedeutet, »ist eine ewige Sache. Sie wird niemals enden. Später werden die Leute vielleicht für einzelne Verbesserungen kämpfen, doch gerade kämpfen wir ums Ganze.« Das Ganze bedeutet den Rücktritt des Präsidenten und aller Abgeordneten.

Eine Übergangsregierung, gebildet aus Experten, die unabhängig von ihrer Konfession aufgrund ihres Fachwissens ernannt werden, soll die notwendigen sozioökonomischen Reformen vornehmen. Ein Ende der Korruption und des auf konfessionellem Proporz beruhenden politischen Systems des Libanon sind Hauptforderungen der Protestierenden. Letzteres sehen viele als die Ursache für die Probleme des Landes: »Wir brauchen einen zivilen Staat. Die Führer der Konfessionsgruppen haben den Libanon geplündert. Würden diese Politiker das Geld, das sie uns weggenommen haben, zurückgeben, wäre vieles einfacher. Wenn nicht, werden wir das nächste Griechenland«, fürchtet Shamas.

Ziel der Proteste ist auch der Sturz der »Bankenherrschaft«. Die Banken sind häufig im Besitz führender Politiker, die an der Verschuldung des Libanon verdienen, indem ihre Banken dem Staat Kredite gewähren. »Zudem werden die Gewinne dieser Banken in aller Regel nicht versteuert«, ergänzt Eric. Ein weiterer Antrieb der Revolte ist die Perspektivlosigkeit vieler junger Libanesinnen und Libanesen. Gut ausgebildet, finden sie nach dem Studium häufig keine Arbeit. Solange sich das nicht ändert, wollen die Rebellen und Rebellinnen trotz aller Mühen weiter auf die Straße gehen.

 

Mariam gehört zu den »Lords of the Ring«, Spitzname einer Gruppe junger Rebellierender, die im Zuge der Proteste zusammengefunden hat. Sie ist ­täglich auf der Straße und geht seit Wochen nicht zur Arbeit, was zu Problemen mit ihrem Chef geführt hat. »Ich demonstriere für die einfachsten, grundlegendsten Dinge, die jeder Mensch haben sollte: Krankenversicherung, Rechtsstaatlichkeit, politische Mitbestimmung. Solange wir zusammenstehen und das nicht erreicht ist, werde ich hier bleiben.« Die Aktivistin Nasrin Shahin ergänzt, dass Angestellte im öffentlichen Sektor nach Qualifi­kation und nicht länger aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit eingestellt werden müssten. Das bakshish (Bestechung) müsse aufhören.

Die Protestierenden genießen große Unterstützung. Cafés und Restaurants versorgen sie mit freien Mahlzeiten. Es gibt eine Kinderbetreuung, Vorlesungen und Diskussionzirkel. Rechtsanwälte vertreten die Rebellen und Rebellinnen kostenlos. Wirtschaftlich geht es allen schlechter als früher, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit.

Die schiitischen Parteien Hizbollah und Amal scheinen überrascht von der Wucht der Revolte, die sich auch gegen sie richtet. Der Generalsekretär der Hizb­ollah, Hassan Nasrallah, sprach sich für eine Fortsetzung der Regierung aus; nur so könnten die notwendigen Reformen implementiert werden. Dementsprechend verärgert war er über Hariris Rücktritt. In seinen Reden zeigte er sich den Protestierenden gegenüber versöhnlich. Erstmals war bei seiner Ansprache eine Libanon- statt einer Hizbollah-Fahne im Hintergrund zu sehen. Er wolle niemandem drohen, fordere jedoch die Rückkehr zur Normalität und dass die Aufständischen die Straßen wieder freigeben, sagte er. Auf den Plätzen könne selbstverständlich weiter demonstriert werden. Nach diesem zwischen Entgegenkommen und Einschüchterung changierenden Gebaren erschienen die Schwarzhemden, die Schläger von Hizbollah und Amal, am Platz der Märtyrer und schlugen alles kurz und klein.

 

Die Machtdemonstration deuten viele als Zeichen der Schwäche: »Die Regierung hat Angst vor uns«, sagt Mariam. Tatsächlich sind auch viele Schiiten zu Abtrünnigen geworden. Die Proteste haben die Hochburgen von Amal und Hizbollah in Tyre, ­Baalbek und Nabatieh erfasst. Nasrallah versuchte indessen zu beschwichtigen und verwies darauf, dass die ­Hizbollah erstmalig 2018 ein wichtiges Ressort – das Gesundheitsministerium – erhalten und zuvor lediglich unbedeutende Ämter bekleidet habe.

Dass Hizbollah-Rackets trotz anderslautender Bekundungen am Platz der Märtyrer auf friedliche Demons­trierende eindroschen, verstärkte den Unmut. Nasrallah prahlte in seiner jüngsten Rede mit der Macht der Hizbollah und sagte, dass die »Partei ­Gottes«, selbst wenn der Libanon im Chaos versinke und der Staat keine ­Gehälter mehr zahlen könne, weiter zahlungsfähig sei. Diese Aussage ­nahmen die Protestierenden mit großem Argwohn auf.

Wie die schiitischen Parteien und Aouns »Bewegung« auf den Fortgang der Proteste, die sich immer mehr ­gegen sie richten, reagieren werden, weiß niemand genau. Viele Demons­trierende rechnen jedoch mit mehr Gewalt: »Es ist wie mit einer Katze, die man in die Ecke drängt«, sagt der ­Demonstrant Mazen, »irgendwann wird sie dich angreifen.« Auch Khaled erwartet eine Zuspitzung: »Sie sind Kriegsverbrecher! Sie werden alles tun, um an der Macht zu bleiben.« Doch ans Aufgeben denke niemand: »Wir haben keine Angst.« Auch wenn das Faustrecht in Waffengewalt umschlagen sollte, so Shamas, werde die Re­volte weitergehen: »Die Hizbollah ist stark. Niemand im Libanon kann ­militärisch gegen sie gewinnen. Doch wenn wir als Libanesen zusammen­stehen, werden ihre Kugeln zu Platzpatronen.«