Streiks und Strategie der Spannung vor 50 Jahren in Italien

Bomben, Streiks und blaue Bohnen

Vor 50 Jahren fand der Bombenanschlag auf die Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand statt. Die Folgen des Attentats waren weitreichend, doch seine Hintergründe wurden nie restlos geklärt.

Zur nachmittäglichen Hauptgeschäftszeit explodierte in der gut gefüllten Schalterhalle der Landwirtschaftsbank an der zentralen Piazza Fontana in Mailand ein Sprengsatz. Das Ereignis am 12. Dezember 1969 sollte die außerparlamentarische Linke und die Gesellschaft Italiens jahrelang prägen. Mit insgesamt 17 Toten und 88 teilweise schwer Verletzen war schon die unmittelbare Wirkung des Anschlags verheerend. Fast gleichzeitig detonierten drei Bomben im Stadtzentrum Roms, die 18 Menschen verletzten. Ein weiteres Attentat am selben Tag in Mailand konnte verhindert werden: Der Sprengsatz wurde rechtzeitig entdeckt und noch in den Abendstunden kontrolliert gesprengt, allerdings ohne dass zuvor eine kriminaltechnischen Untersuchung stattgefunden hätte.

Wie schon bei einer Anzahl von vorangegangenen Bombenanschlägen im Frühjahr und Sommer 1969 in Mailand, Rom und Turin bekannte sich niemand zu den Taten. Die Behörden konzentrierten ihre Ermittlungen auf die radikale Linke – die sogenannte »rote Spur«. Sie verhafteten die Anarchisten Guiseppe Pinelli, einen Eisenbahner aus Mailand, und Pietro Valpreda, einen Balletttänzer aus Rom, kurz nach den Ereignissen und präsentierten sie der Öffentlichkeit als Haupttäter. Pinelli fiel am 15. Dezember unter bislang ungeklärten Umständen aus dem Büro des Kommissars Luigi Calabresi im vierten Stock des Mailänder Polizeipräsidiums und kam dabei zu Tode. Valpreda saß drei Jahre in Untersuchungshaft und wurde erst 1985 von allen Vorwürfen entlastet.

Mit Giovanni Ventura und Franco Freda wurden im März 1972 zwei Mitglieder der neofaschistischen Organisation Ordine Nuovo (Neue Ordnung) als Urheber des Attentats an der Piazza Fontana verhaftet, nach langjährigen Prozessen verurteilt und später mangels Beweisen freigesprochen. Kommissar Calabresi fiel wiederum im Mai 1972 einem Attentat zum Opfer. Mailands radikale Linke empfand dafür mehr als nur klammheimlicher Freude: »Ein Fest« sei es gewesen, erinnerte sich im September ein Freund Pinellis in Anwesenheit der Jungle World. Erst 1997 verurteilte ein Gericht nach einem umstrittenen Verfahren Adriano Sofri, der im Herbst 1969 die linksradikale Gruppe Lotta Continua (Ständiger Kampf) mitgegründet hatte, als einen der Anstifter des Mordes zu 22 Jahren Gefängnis.

Der heiße Herbst

Die Anschläge und die Folgen sind nur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Polarisierung Italiens in den späten sechziger Jahren zu verstehen. Während die außerparlamentarische, studentisch geprägten Linke in Frankreich und Deutschland bereits Auflösungserscheinungen zeigte, war 1969 der sogenannte heiße Herbst in Italien der Höhepunkt einer besonders heftigen Protestbewegung. Auseinandersetzungen verliefen häufig sehr gewalt­tätig. Tote bei Demonstrationen waren nicht ungewöhnlich.

Unmittelbar nach dem 12. Dezember 1969 setzte eine enorme staatliche Verfolgung gegen die gesamte außerparlamentarische Linke Italiens ein.

Das Besondere an diesen Kämpfen war, dass darin außerparlamentarischen linksradikale Gruppen und Teile der Arbeiterschaft zusammenfanden. Entfremdete süditalienische Migrantinnen und Migranten, die in einem rapide wachsenden produktiven Sektor allenfalls marginal gewerkschaftlich ­repräsentiert waren, trafen in den Industriegebieten Nord- und Mittelitaliens auf radikalisierte linke Studierende. Kontakte entstanden nach den Auseinandersetzungen an den Universitäten von 1968 in gemeinsam bewohnten proletarischen Stadtvierteln und vor Werkstoren, an denen linke Gruppen während der Streiks agitierten.

Im Zuge von Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur und den Arbeitsabläufen hatten Arbeiterinnen und Arbeiter der großen Industriebetriebe bereits seit den frühen sechziger Jahren begonnen, sich eigenständig jenseits etablierter Gewerkschaften zu organsieren. Es kam zu wilden Streiks und Fabrikbesetzungen. Im Zuge dieser Entwicklungen radikalisierten sich 1969 Arbeitskämpfe mit der Forderung nach Lohnerhöhung für alle Lohngruppen, Arbeitszeitverkürzung und Anerkennung betrieblicher Basisorganisation weit über ritualisierte Tarifstreit hinaus, insbesondere bei Fiat-Mirafiori in Turin, dem damals größten Autowerk in Europa. Außerdem kam es im »heißen Herbst« zu breiten Protesten auch jenseits der Fabrik, darunter eine große Streikbewegungen für eine Reform des Wohnungssektors im November 1969.

In dieses gesellschaftliche Klima fielen die Ereignisse vom 12. Dezember. Während die Behörden sofort versuchten, die Bomben den Linken anzuhängen, deutete die linke Öffentlichkeit die Anschläge als Versuch einer gezielten Eskalation, die eine umfangreiche Repression gegen die Linke rechtfertigen sollte. Als Auftraggeber vermutete man ein verdecktes Netzwerk faschistischer und antikommunistischer Kräfte in Politik, Wirtschaft und Behörden. Ein grandios gescheiterter Putschversuch unter Führung des Altfaschisten Junio Valerio Borghese im Dezember 1970 stützte diese Interpretation noch.

Der Staat sieht rot

Die italienische Rechte plagte in jener Zeit die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme. Sie sorgte sich nicht allein wegen der Proteste der Studierenden, Arbeiterinnen und Arbeiter. In den sechziger Jahren war die Kommunistische Partei Italiens (KPI) mit fast zwei Millionen Mitgliedern »die größte und zugleich die am wenigsten linientreue kommunistische Partei Westeuropas«, sagte Steffen Kreuseler vom Geschichtsinstitut Istoreco Reggio Emilia der Jungle World während einer Besichtigung des Turiner Fiat-Werks im September. Er leitet Bildungsreisen zur Geschichte der ­radikalen Linken in Italien.

Der starke Mitgliederzuwachs der KPI nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Folge der führenden Rolle der kommunistischen Partisanenverbände im Kampf gegen die deutsche Besatzung von 1943 bis 1945. Die politisch einflussreiche KPI versuchte, sich nach dem Krieg in das politische System Italiens zu integrieren. Zur Sowjetunion ging sie auf Abstand, innenpolitisch verfolgte sie einen reformistischen Kurs. Gegenüber den studentischen und proletarischen Protestbewegungen trat sie eher bremsend auf, was ihrer Popularität in den Arbeitervierteln Turins keinen Abbruch tat, im Gegenteil – »die Wahlergebnisse der Partei verbesserten sich sogar«, so der Historiker Dietmar Lange, der zur Streikbewegung im Mirafiori-Werk geforscht hat, bei einem Vortrag vorige Woche in Berlin. Obwohl alle Zeichen auf eine Selbstdomestizierung der KPI hindeuteten, nahmen rechtsextreme und konser­vative Kreise diese Entwicklung als Bedrohung wahr.

Unmittelbar nach dem 12. Dezember 1969 setzte eine enorme staatliche Verfolgung gegen die gesamte außerparlamentarische Linke Italiens ein. Die Behörden nutzten die Gelegenheit, um mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine breite und heterogene Bewegung vorzugehen, so die einhellige Einschätzung der zeitgenössischen linken Presse. Statt die radikale Linke zu schwächen, führte das Vorgehen der Behörden allerdings zunächst dazu, dass miteinander zerstrittene linke Gruppen sich verbündeten.

Mindestens drei Hauptströmungen konkurrierten während des »heißen Herbsts« um die Gunst der kämpferischen Belegschaften der großen Fabriken des Nordens, allen voran bei Fiat in Turin. Lotta Continua um Sofri, Guido Viale und Luigi Bobbio wollte die spontane Energie ­sozialer Kämpfe kanalisieren. Im Gegensatz dazu verstand sich Potere Operaio (Arbeitermacht) um Antonio Negri, Sergio Bologna und Oreste Scalzone als intellektuell-organisatorische Avantgarde. Dissidenten der KPI um Luigi Pintor und Rossana Rossanda gründeten schließlich die Zeitung Il manifesto (das Manifest), um enttäuschten Mitglieder der Gewerkschaften und der KPI eine organisatorische Perspektive jenseits einer sich immer stärker integrierenden traditionellen Linken zu bieten. Die Zusammenfassung dieser Gruppen, die sich links der KPI gebildet hatten, zu einer politischen Strömung mit dem Namen »Operaismus« ist bereits Teil einer Historisierung. Die Gruppen formulierten alle eine radikale Kritik der reformorientierten tradi­tionellen Linken und der Fabrikarbeit.

Die Ergebnisse dieser erst durch die staatliche Repression angestoßenen Kooperation waren bemerkenswert. Verschiedene außerparlamentarische Gruppen begannen gemeinsam mit einer »Gegenuntersuchung« der Ereignisse und ihrer Hintergründe. Sie legten bereits im Juni 1970 die umfangreiche Broschüre »Staatliches Blutbad« vor. Während diese wegen der kurzen Bearbeitungszeit nicht frei von Fehlern war, sind ihre grundlegenden Erkenntnisse in der weiterhin unvollständigen offiziellen Aufarbeitung der Anschläge von 1969 bestätigt worden. Zum einen widerlegte die Gegenuntersuchung die These vom Selbstmord Pinellis. Zum anderen identifizierte sie die »schwarze Subversion« als geistige und materielle Urheberin des Massakers. Diese Bezeichnung, die an Mussolinis Schwarzhemden erinnern sollte, verwies auf ein informelles, klandestines Netzwerk aus rechtsterroristischen Zirkeln, neofaschistischer Partei und strammen Antikommunisten in Behörden, Wirtschaft und Politik. Damit etablierte die Broschüre »Staatliches Blutbad« die Blaupause für die »Gegeninformation« als Gattung des linken Journalismus.

Strategie der Spannung

Zudem konkretisierte die Broschüre den Begriff »Strategie der Spannung«, den die britische Tageszeitung The Observer kurz nach dem Attentat an der Piazza Fontana geprägt hatte. Der Begriff beschrieb zunächst eine spezifisch italienische Variante »schmutziger« Reaktionen auf die Proteste der sechziger und siebziger Jahre. Das zumindest teilweise illegale Vorgehen der Behörden im Kampf gegen die Linke stellt keine Ausnahme dar, wie auch die gut belegte Verwicklung des Ver­fassungsschutzes in die Entstehung bewaffneter linker Gruppen in Westdeutschland nahelegt.

Italien weist jedoch mindestens zwei Besonderheiten auf. In Polizei, Armee und Geheimdiensten der Nachkriegsjahre verlief die Integration von Altfaschisten noch reibungsloser als in der Bundesrepublik, was sich enorm auf die politische Ausrichtung der Behörden auswirkte. Die reintegrierten Altfaschisten hatten außerdem gute Kontakte zum Umfeld der neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano (Italienische Sozial­bewegung). Dort ließ sich wiederum das Personal rekrutieren, um die Linke auch mit illegalen Mitteln und dem Einsatz von Terror zu bekämpfen. Diese Zusammenhänge zeigte die »Gegenuntersuchung« erstmals in systematischer Form auf.

Während das mutmaßliche Kalkül hinter dem Attentat von Mailand dank der investigativen Arbeit nicht aufging und die Ereignisse die Linke kurzfristig insgesamt eher stärkten, sind die mittel- und langfristigen Folgen der Strategie der Spannung schwerer zu bewerten. Zum einen stärkte die Atmosphäre der Gewalt die konservative Tendenz innerhalb der Linken und der KPI, die aus Angst vor einem rechten Putsch eine Politik der Einhegung der radikalen, basisorientierten Bewegung verfolgte. Zum anderen verstanden viele in den linksradikalen Gruppen die Ereignisse als Kriegserklärung des Es­tablishments. Einige zogen daraus die Konsequenz, selbst den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Dabei brachten die Morde und Entführungen von Gruppen wie Brigate Rosse (Rote Brigaden) und Prima Linea (Frontlinie) »vor allem die radikale Linke in Verruf« und stärkte die repressiven Tendenzen im Staat, so Vicky Franzinetti, in den siebziger Jahren Mitglied von Lotta Continua, bei einem Gespräch im September in Turin. Über diesen Umweg wurde letztlich ein mutmaßliches Ziel der Strategie der Spannung erreicht, die beim plumpen Versuch, einen faschistischen Bombenanschlag den Linken in die Schuhe zu schieben, zunächst gescheitert war.