Die Proteste in Indien gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz und rechte Schläger

Indien in Aufruhr

Das Oberste Gericht Indiens hat sein Urteil über das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz aufgeschoben. Vor allem studentische und zivile Organisationen protestieren weiterhin gegen das Gesetz.

In Darjeeling, dem Zentrum der Teeherstellung in Westbengalen wird an einem Podest für den Besuch Mamata Banerjees gearbeitet, der Ministerpräsidentin (chief minister) des nordöstlichen indischen Bundesstaats. In der ganzen Stadt hängen Fahnen ihrer Partei All India Trinamool Congress (TMC). Noch vor etwas über zwei Jahren hatte es in Darjeeling und Umgebung einen knapp 100 Tage langen Streik und Demonstrationen gegen Banerjee gegeben, bei denen mehr als ein Dutzend Menschen getötet worden waren. Als Anlass für die Proteste galt damals die Entscheidung der Regierung Westbengalens, dass künftig an Schulen Bengalisch statt Nepalesisch als Hauptsprache unterrichtet werden soll. Die Anführer der damals streikenden Bewegung Gorkha Janmukti Morcha (GJM) fordern allerdings schon seit längerem einen unabhängigen Staat namens Gorkhaland. Banerjee hingegen will Darjeeling um jeden Preis als Teil von Westbengalen erhalten (Jungle World 39/2017). Bei den Parlamentswahlen 2014 und 2019 stimmte die Mehrheit in Darjeeling für die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) von Ministerpräsident Narendra Modi, weil er ihnen ihr Gorkhaland versprochen hatte. Dass Modi wie so oft seinem Versprechen keine Taten folgen ließ, sorgte für Ernüchterung.

»Wir unterstützen jetzt Mamata, weil sie sich eindeutig gegen das CAA stellt. Wenn Modi wirklich Flüchtlingen helfen will, warum nimmt er dann nicht die verfolgten Rohingya auf?« sagt die Hotelbesitzerin Nisha. Am 12. Dezember verabschiedete die indische Regierung ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, das Citizenship Amendment Act (CAA). Es sieht vor, dass verfolgte religiöse Minderheiten aus den Nachbarländern Pakistan, Bangladesh und Afghanistan leichter die indische Staatsbürgerschaft erwerben können. Explizit erwähnt werden etwa Christen, Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jaina und Parsen, ausgenommen sind hingegen Muslime. Im ganzen Land, auch in Darjeeling, kam es anschließend zu Protesten gegen das CAA (Jungle World 2/2020).

Das indische Verfassungsgericht lehnt es derzeit ab, das umstrittene Staatsbürgerschafts­­­gesetz für ungültig zu erklären.

Ein Blick ins von Darjeeling rund 50 Kilometer entfernte Mirik zeigt, dass Nishas Worte nicht geheuchelt sind. Vor 15 Jahren eher ein Bergdorf, leben hier mittlerweile knapp 130 000 Menschen. Viele der Neubürger stammen aus dem Bundesstaat Bihar oder dem Flachland von Westbengalen. Andere sind nepalesischer Herkunft, wie viele Menschen Darjeelings, und sind in den vergangenen fünf Jahren aus nordöst­lichen Bundesstaaten wie Assam geflüchtet. Dort gibt es seit mehr als einem Jahrzehnt Proteste und Gewalttaten ­gegen illegale Einwanderer aus Bangladesh, das an Assam grenzt. Doch auch Gastarbeiter aus Westbengalen und anderen indischen Bundesstaaten werden ermordet.

Aber auch in Darjeeling befürchten viele Menschen, dass durch das neue Staatsbürgerschaftsgesetz massenweise Einwanderer kommen, die behaupten, Hindus zu sein. Dafür gibt es einen Grund: In einem Interview im Jahr 2016 hatte Amit Shah, damals noch Vorsitzender der BJP, seit Ende Mai 2019 indischer Innenminister, gesagt: »Alle Hindus, Parsen, Sikhs, Buddhisten und Christen bekommen eine Staatsbürgerschaft. (…) Sie werden nicht gefragt, ob sie irgendwelche Dokumente haben.« Diese Aussage wiederholte er im April 2019, als er in Westbengalen die Einführung eines Bürgerregisters, des National Register of Citizens (NRC), versprach, das ausländische Einwohnerinnen und Einwohner erfassen soll. In Assam hatte die Vorstellung einer aktualisierten Version des NRC im August 2019 zu Unmut geführt, da 1,9 Millionen Menschen die indische Staatsbürgerschaft fälschlicherweise abgesprochen wurde.

Dass Indien ein säkularer Staat ist, scheint auch das Oberste Gericht Indiens vergessen zu haben. In einer An­hörung am 22. Januar lehnte das Verfassungsgericht es ab, das CAA für ungültig zu erklären. Die Richter gaben der indischen Regierung einen Monat Zeit, um eine ausführliche Begründung für das neue Gesetz einzureichen, bevor sie ein Urteil über dessen Rechtmäßigkeit fällen wollen. Es ist nicht das erste Mal, dass das an sich unabhän­gige Oberste Gericht zögerlich agiert, seit Modi 2014 an die Macht gekommen ist.

Der Indien-Experte und freie Mitarbeiter des WDR, Dominik Müller, sagt im Gespräch mit der Jungle World, worauf indische Oppositionelle und Menschenrechtler schon seit Jahren hinweisen: »Modi und Shah wollen aus Indien einen Hindustaat machen. Beide stammen aus der hindunationalistischen RSS, gegründet nach dem Vorbild der faschistischen Schwarzhemden Mus­solinis. Ihr Credo: Indien gehört einzig den Hindus.«

Mitglieder der Jugendorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad (ABVP) der 1925 gegründeten paramilitärischen Organisation Rashtriya ­Swayamsevak Sangh (RSS) sollen unter anderem für den Angriff auf Studierende und Dozenten der Jawa­harlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi Anfang Januar verantwortlich gewesen sein. Dort war seit Monaten unter anderem gegen die Verschärfung der Prüfungsregeln, die Erhöhung der Studiengebühren, aber auch das CAA protestiert worden. Dem Angriff folgten landesweit Studierendenproteste gegen die hindunationalistische Gewalt.

Auch sonst ist Indien in Aufruhr. Dass es dabei nicht immer nur gegen Modi und seine BJP geht, verdeutlicht ein Satz der Hotelbesitzerin Nisha, der so ähnlich in den vergangenen Monaten auch oft von anderen Menschen in Westbengalen zu hören war: »Mamata oder Modi bedeutet für uns die Wahl zwischen zwei großen Scheißhaufen.« Das wurde etwa am 8. Januar deutlich, als Gewerkschaften zu einem landesweiten Generalstreik für bessere Arbeitsbedingungen aufgerufen hatten. Sie fordern unter anderem einen höheren Mindestlohn, die Teepflückerinnen Darjeelings verdienen etwa zwei Euro am Tag. Des Weiteren kritisierten die Gewerkschaften das CAA. Daraufhin un­terstützten auch Frauengruppen, studentische und zivile Organisationen den Streikaufruf. Es sollte ein gemeinsamer Protest gegen die Regierung Modi werden, doch es kam anders: Zuerst kündigte die der BJP nahestehende Bharatiya Mazdoor Sangh, eine der größten Gewerkschaften des Landes, an, dass sie sich nicht am Streik beteiligen werde. Dann erklärte Banerjee, dass sie der Bevölkerung in Westbengalen keinen Streik zumuten könne. So ging auch vom Streikzentrum in Kolkata, Hauptstadt von Westbengalen, kein Zeichen der Einigkeit aus. Dass sich 250 Mil­lionen Inderinnen und Inder am Streik beteiligt hätten, wie die Gewerkschaften schon einen Tag vor dem Streik behaupteten, ist reines Wunschdenken.

Am 20. Januar brachte Banerjee das Kunststück fertig, sich in Kolkata eine Stunde lang mit Modi zu unterhalten und Sonderzahlungen für Westben­galen in Empfang zu nehmen, um fünf Minuten danach eine Protestveranstaltung ihrer Partei TMC gegen Modi zu besuchen. Zu einem Treffen aller politischen Oppositionsparteien, bei dem über ein gemeinsames Vorgehen gegen das CAA beraten werden sollte, erschien Banerjee nicht.

Auch in den folgenden Wochen hielten vor allem zivile Organisationen und Studierende die Proteste gegen das CAA am Laufen.