Kritik des schon vor der Coronapandemie grassierenden Hasses auf alte Menschen

Allianzen der Verrohung

Alte Menschen abzuwerten, war bereits vor der Covid-19-Pandemie eine der am ehesten geduldeten Formen unzivilisierten Verhaltens – in allen politischen Lagern.

Man kann Tübingens grünem Oberbürgermeister Boris Palmer nicht vorwerfen, er hätte seine Worte im Sat-1-Frühstücksfernsehen mit dem paternalistischen Harmoniegestus eingeleitet, den seine Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock gerne bemühen, wenn sie sich anschicken, eine unangenehme Wahrheit zum Klimawandel auszusprechen. »Ich sag es Ihnen mal ganz brutal«, so Palmer im Interview vom 28. April: »Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in ­einem halben Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.« Im Interview ging es um die Lockerungen der Infektionsschutzmaßnahmen. Palmer befürwortet sie, wie viele andere. Doch wie wenige andere hat er ausformuliert, welche Menschen für ihn entbehrlich sind, weil angeblich so oder so im Sterben begriffen: Kranke und Senioren, Hauptrisikogruppen in der Pandemie.

Wie human eine Gesellschaft ist, bemisst sich auch am Umgang mit denen, die nichts mehr zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität beisteuern können.

Die Parteiführung der Grünen distanzierte sich rasch von den Worten des Oberbürgermeisters, auch Palmer selbst entschuldigte sich – er habe sich »da missverständlich oder forsch ausgedrückt«. Habecks und Baerbocks Abscheu mögen in diesem Fall glaubhaft sein. Doch umso verwunderlicher wirkt, wie akzeptiert ähnliche Invektiven gegen Menschen älteren Jahrgangs in grünen und linksliberalen Milieus in der Zeit vor der Pandemie waren, als der Klimaschutz die öffentliche Debatte prägte. Die Rollen in der medialen Inszenierung wurden ohne viel Federlesens verteilt: Auf der einen Seite streikende Schüler und ihre Wortführerin ­Greta Thunberg, die ihrer Eltern- und Großelterngeneration vorwarfen, mit einem exquisiten Lebensstil den Klimawandel vorangetrieben und den Schülern von heute die Kindheit »gestohlen« zu haben. Auf der anderen Seite SUV-fahrende Eltern und den Klimawandel leugnende Großmütter, die von einem Kinderchor im WDR als »Umweltsäue« besungen wurden (was nur als Satire gemeint gewesen sein will).

Völlig ernst hingegen meinte es ­Johanna Roth im Sommer 2019. In ­einem Kommentar für die linke Taz forderte sie, Rentnern das Wahlrecht abzuerkennen, da diese die Exzesse von Plastikverbrauch und Kohlekraftwerken zu verantworten hätten und seltener für Parteien stimmen würden, die den Planeten Erde retten wollen. »Das kann man jetzt demokratiefeindlich finden, ich finde es nur vernünftig, sich darüber zumindest mal Gedanken zu machen«, lautete ein beispielhafter Satz des Artikels, dessen Aussagen sich von denen ­eines Boris Palmer oder Björn Höcke schwer unterscheiden lassen.

Als sich abzeichnete, dass die meisten Todesopfer bei den an Covid-19 Erkrankten männlich und über 60 waren, wurden die diskursiven ­Anklagen gegen weiße alte Männer dann leiser. Der über Jahrzehnte hart erkämpfte Antidiskriminierungskonsens, niemanden aufgrund von Hautfarbe, Alter oder Geschlecht ­abzuwerten, wurde allerdings nicht zuletzt von Teilen der feministischen und antirassistischen Bewegung in den vergangenen Jahren aufgekündigt. »Alt, weiß, männlich« galt und gilt als gerechtfertigte ­polemische Zuspitzung, um die vermeintlich am meisten privilegierte und mächtigste gesellschaftliche Gruppe bloßzustellen. Nur gehören zu dieser heterogenen Gruppe Aufsichtsratsvorsitzende mit dem Vornamen Michael, Reichsbürger im Vorruhestand, polnische Obdachlose sowie ehemalige osteuropäische Sklavenarbeiter und Shoah-Über­lebende, die erst Jahrzehnte nach dem deutschen Vernichtungskrieg von der Bundesrepublik entschädigt wurden. Den früheren italienischen ­Militärzwangsarbeitern schließlich helfen weder ihr Teint noch ihre ­Genitalien oder ihr Alter: Deutschland weigert sich bis heute, denen eine Abfindung zu zahlen, die nun als weiße, unproduktive Greise dem kollabierenden Gesundheits- und Pflegesystems Italiens ausgeliefert sind.

Besonders bizarr wirkt ein sich progressiv gebender Adoleszenzwahn von Parteijugendverbänden, Intersektionalitätsbeauftragten und ­Bewegungen wie »Fridays for Future«, die das offen ausgelebte Ressentiment gegen die Alten nicht als Widerspruch zur proklamierten antifaschistischen Gesinnung begreifen. Denn der Nationalsozialismus ­stellte keineswegs den konservativen Abwehrkampf grauer preußischer ­Offiziere und Adliger gegen die Libertinage der Weimarer Republik dar. Vielmehr entstand er als moderne Massenbewegung junger deutscher Männer und Frauen, die zur Revolte gegen eine althergebrachte, zu verweichlichte und judenfreundliche Welt mobilisierten. Wer zu betagt und schwach für dieses kreative Projekt erschien, war »nutzloser Esser«. Der nationalsozialistische Kulturphilosoph Ernst Gründel brachte dies 1932 in seiner Schrift »Die Sendung der jungen Generation« mit einer rhetorischen Frage zum Ausdruck: »Schwillt nicht die Zahl derer, die als bedauernswerter Ballast der öffentlichen Fürsorge anheimfallen, in ­unseren Völkern immer mehr an? Gibt es nicht heute schon Millionen, die ihren Bankrott erklären und kaum noch mitlaufen können?« Wie human eine Gesellschaft ist, bemisst sich auch am Umgang mit denen, die nichts mehr zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität beisteuern können. Nach den NSU-Morden, dem rassistischen Terrorakt in Hanau und diversen islamistischen Anschlägen wurde analysiert, wie ein ideologisiertes Umfeld die Taten der Mörder billigt oder ermuntert. Unklar bleibt, warum eine breite gesellschaftliche Diskussion ausbleibt, wenn es um Tötungen des »bedauernswerten Ballasts«, die kaltblütige Ausschaltung der Alten und Kranken geht. Der laut bekundeten Solidarität mit den Opfern rassistischer Gewalt steht das bemerkenswerte Schweigen gegenüber, das herrschte, als 2019 der größte Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Krankenpfleger Niels Högel ermordete zwischen 2000 bis 2005 mindestens 85 Menschen. In 332 Fällen wurden Mordermittlungen gegen ihn eingeleitet, die genaue Zahl seiner Opfer wird sich wohl nie herausfinden lassen. Högel injizierte ihnen Medikamente, um ihren Kreislauf kollabieren zu lassen, damit er sie anschließend als Pfleger reanimieren konnte. Die Anerkennung seiner Kollegen sei ihm laut Gericht wichtiger gewesen als das Leben von Menschen. Laut Spiegel konnte er sich im Prozess nicht erklären, was ihn zu den Morden getrieben habe: »Die Motive sind mir selbst nicht mehr nachvollziehbar.«

Im Juni 2018 wurden drei ehe­malige Pflegekräfte eines Awo-Altenheims im pfälzischen Lambrecht vom Landgericht Frankenthal für schuldig befunden, einer 85jährigen Frau eine Überdosis Insulin verabreicht und sie anschließend mit einem Kissen erstickt zu haben. Zwei der Täter hatten außerdem im Februar 2016 eine Heimbewohnerin mit Insulin getötet. Anderen Pflegebedürftigen wurden ohne medizinischen Grund Medikamente und Abführmittel verabreicht, auch kam es zu sexueller Gewalt. Die Quälereien hielt das Trio teilweise auf Video fest. Das Gericht befand, die drei Täter handelten, um ihre Geltungssucht und Machtphantasien zu befriedigen, und verurteilte sie zu lebenslangen Strafen.

Ein Aufschrei wegen dieser bekanntgewordene Gewaltakte gegen Pflegebedürftige blieb aus, Fälle wie die Morde in Lambrecht finden wenig überregionales Interesse. Insofern macht die rhetorische Maßlosigkeit stutzig, wenn es in den vergangenen Jahren gegen alte Menschen ging. Nicht weniger fragwürdig ist das Auftreten von Konservativen, die sich als Anwalt der deutschen Rentner begreifen und etwa Boris Palmer nach seinen jüngsten Äußerungen kritisierten. Manuel Hagel, Generalsekretär der baden-württembergischen Landes-CDU, sagte laut Welt, der Grünen-Politiker hetze Generationen gegeneinander auf. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, Winfried Mack, äußerte sich so: »Für uns Christdemokraten ist eine solche Politik völlig inakzeptabel. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt – und zwar jeder Mensch. Wir wissen nicht, wie lange ein Mensch noch lebt.«

Die praktische Politik der Unionsparteien spricht trotz dieses Bekenntnisses zur Empathie mit den Alten eine andere Sprache. Obwohl CDU und CSU seit 15 Jahren im Bund regieren und keine andere Partei so oft wie die Union Regierungsverantwortung auf Länderebene übernommen hat, bleiben Pflegeheime chronisch unterfinanziert und deren Mitarbeiter unterbezahlt – trotz des wachsenden Bedarfs an Pflege in allen Bereichen. Sollte es Friedrich Merz, dem ehemaligen Aufsichtsrat des deutschen Ablegers des Investmentkonzerns Blackrock, gelingen, CDU-Parteivorsitzender zu werden, dürfte auch sein Lieblingsprojekt wieder ins Gespräch kommen – die Rentenprivatisierung mit Aktienkaufzwang, einer »Verpflichtung zur privaten, kapitalmarktorientierten Vorsorge für das Alter«. Wer nicht mehr arbeiten kann, darf dann im Herbst seines Lebens ein neues Dasein als prekärer Teilzeitinvestor fristen, um die Monatsraten im Altersheim zu finanzieren.