Unterrichten mit Mundschutz

Neue Normalität

Klassenkampf Von Lieselotte Kreuz

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»That is correct, well done!« behaupte ich, obwohl der Siebtklässler mir nach allem, was ich weiß, gerade auch mitgeteilt haben könnte, dass er mal auf die ­Toilette müsse, ich meinen Pulli auf links trüge oder komisch röche – ich habe kein Wort seiner längeren und möglicherweise auf Englisch gehaltenen Ansprache verstanden. Aber ich kann ihn nicht nochmal bitten, alles zu wiederholen, das hat er schließlich schon zwei Mal getan, und er blinzelt jetzt auch erfreut über den Rand seines Mundschutzes, well done. Oder jedenfalls glaube ich, dass er erfreut blinzelt, ich kann seinen Mund ja nicht sehen. Vielleicht blinzelt er auch, um nicht loszuweinen? Vielleicht muss er doch dringend mal? Es ist eh an der Zeit, ich rufe eine Pause aus, in der alle, die mal müssen, auf die Toilette gehen sollen – nacheinander und einzeln, versteht sich, und nicht das Stockwerk verlassen bitte, die Treppenaufgänge sind zu schmal und dürfen derzeit nur unter Aufsicht betreten werden. Die Instruktionen erweisen sich als überflüssig, da sich niemand bewegt, 15 Augenpaare starren mich minutenlang über verschiedenfarbige Stoffkonstruktionen hinweg sphinxartig an, irgendwie redet auch niemand, und essen geht ja gerade nicht so gut. Ich bin mir sicher, dass es Horrorfilme mit angenehmerer Atmosphäre gibt.

Nicht alle Gruppen sind so, in der letzten hatten die Kinder vergessen, wie das ist, eine ganze Schulstunde lang still auf einem Stuhl zu sitzen, und dass die Idee eben nicht ist, dass alle gleichzeitig laut sprechen und zwischendurch aufspringen, um sich zu umarmen oder sich Federmappen über den Kopf zu ziehen. Fast allen Kindern gemein ist aber, dass sie sich durch die Schule bewegen wie Betrunkene am Morgen durch öffentliche Verkehrsmittel – schwankend zwischen Übermut und übertriebener Vorsicht und stets und vollkommen chancenlos darauf bedacht, dass niemand ihr schmutziges Geheimnis aufdeckt: dass sie eigentlich nicht mehr dazugehören, dass sie gefallene Engelchen sind, die längst vergessen haben, wie das geht, dieses Normalsein. Einige erzählen, sie hätten nicht bis zehn oder zwölf, sondern bis fünf am Nachmittag geschlafen und dann Filme geschaut, andere davon, wie sie auf ihre kleinen Geschwister aufgepasst und dasselbe Bilderbuch hundert Mal hintereinander vorgelesen hätten, manche, dass sie heute zum ersten Mal, seit die Schulen schlossen, draußen auf der Straße gewesen seien, und wie neu das alles sei: die hinter Masken versteckten Menschen, die weggeworfenen Einweghandschuhe, der Frühling, die Vögel, die anderen Kinder. In der Pause blinzeln wir gemeinsam und etwas verwirrt in die Sonne und ich fühle mich ganz kurz wie Sigourney Weaver 1979 am Ende von »Alien«: als hätten wir es geschafft, als wüsste ich nicht, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist.