"Gipsy Queen" erzählt die Geschichte einer boxenden Romni

Pathos als Programm

Der Spielfilm »Gipsy Queen« erzählt die fiktive Geschichte einer boxenden Romni. Er ist nicht durchweg gelungen.

So reich ist das Arsenal an Filmen übers Boxen, dass man meinen könnte, es gäbe keine anderen Sportarten, zumindest keine kinotauglichen. Und obwohl Boxerinnen erst seit 2012 bei Olympischen Spielen kämpfen dürfen, obwohl Frauen in Deutschland erst seit Mitte der neunziger Jahre offiziell Profikämpfe gestattet sind, ist auch das filmische Subgenre unterprivilegierter boxender Frauen spätestens seit Clint Eastwoods »Million Dollar Baby« (2004) fest etabliert.

Die beste Nachricht ist, dass es »Gipsy Queen« überhaupt gibt. Der deutsche (Sport-)Film hat Diversität und neue Perspektiven bitter nötig.

Aber braucht es ein weiteres Drama über einen weiblichen Underdog im Ring? »Gipsy Queen«, eine deutsch-österreichische Produktion über eine fiktive Boxerin mit Migrationsbiographie, bringt ein neues Setting, verspielt aber viele Chancen durch seine unglaubwürdige Handlung und die bedauerliche Neigung zu Sozialkitsch. Das ist schade, weil der Boxkampf als soziale Metapher durchaus viel erzählen kann über das Ringen mit Armut, mit Rassismus, mit sich selbst.
Eine der ersten Szenen setzt den Grundton: Männer boxen in dörf­licher Szenerie zwischen ärmlichen Häusern. Doch die Protagonistin boxt nicht. Ali, eine Romni, kommt mit Kind an der Hand und Baby auf dem Arm in ihr Heimatdorf. Das Baby hat sie alleine zur Welt gebracht. Einst war sie, wie später zu erfahren ist, Junioren-Europameisterin im ­Boxen; der Vater hat sie trainiert, »unser Stolz und Erfolg« sei sie gewesen, gemeint sind offenbar Roma. Mit dem unehelichen Kind aber ist die Tochter dem Patriarchen zur Schande geworden. »Ich bin nicht mehr dein Vater«, tobt er. Ali verabschiedet sich mit einer Kampfansage: »Macht euch keine Sorgen, ich werde aufrecht stehen.«

Dieses schwülstige Pathos bleibt Programm. Hauptdarstellerin Alina Şerban sagte in einem Interview über die ersten Szenen ihrer Figur im Film: »Jeder weiß, er wird auf Alis Seite stehen. Endlich haben wir die Öffentlichkeit auf der Seite einer ­alleinerziehenden Roma-Frau.« Das ist ein wichtiger Gedanke. Aber Şerbans Aussage illustriert auch eines der Probleme des Films. So sehr soll das Publikum Alis Leid spüren, dass »Gipsy Queen« arg melodramatisch gerät, ein Parcours voller Schicksalsschläge. Ali ist mehr Schablone als Figur, eine, die im Laufschritt Diskriminierungsfelder durchquert; stark, aufrecht und eindimensional, mit hölzernen Dialogen. Dabei macht »Gipsy Queen« vieles richtig. Şerban ist selbst Romni und Roma-Aktivistin, sie schreibt auch über ihre Erfahrungen mit Armut, Gewalt und Antiziganismus. Sie hat bei Ausstattung und Inhalt beraten, in Teilen des Films spricht sie in ihrer Muttersprache, einem rumänischen Dialekt. All das verschafft Authentizität und Ver­fügung über die eigene Geschichte. Die Menschen sprechen, nicht der Film über sie.

Wenn er bloß besser wäre. Da putzt Ali, die inzwischen in Deutschland lebt, in der berühmten St. Pauli-Kneipe »Zur Ritze« und haut ein bisschen auf den Boxsack im Keller – ­natürlich bekommt, wie immer in solchen Filmen, der Besitzer Tanne (gespielt von Tobias Moretti) das zufällig mit und engagiert sie. Tanne durchläuft dann eine wunderbare Wandlung vom trunkenen Tresen­macho (»Kommt nicht so oft vor, dass ich einer ohne Pimpern was ausgebe«) zum einfühlsamen Sozialarbeiter und persönlichen Trainer. Ali hat zwar seit Jahren nicht geboxt, darf aber nach einem Kampf gleich um dem Weltmeisterinnentitel kämpfen. Logik stört in dieser großen Kämpferinnensaga bloß. Ärgerlich auch, dass der Film politisch teils sehr platt ­argumentiert. Dass das Jugendamt ohne einen einzigen Gesprächs­termin Alis Kinder wegnimmt und sie in eine Pflegefamilie steckt, nachdem Ali einmal ihre Tochter geschlagen hat, kann man trotz aller bekannten Unzulänglichkeiten deutscher Jugendämter nicht so recht glauben.

Dass Alis Mitbewohnerin die Kinder problemlos des Nachts, anscheinend heimlich, aus der Pflegefamilie heraus auf Ausflüge mitnehmen kann, ist ebenfalls bizarr. Man ahnt nur, was der Film sagen will. Die Praxis, Romakinder zwecks Assimilierung in christliche Familien zu zwingen, hat eine lange Geschichte. Versuche verzweifelter Eltern, ihre Kinder zurückzuholen, sind der Ursprung der Legende vom Kinder­diebstahl.

»Gipsy Queen« hat dann viel zu bieten, wenn kleine Situationen aus dem Alltag einfließen. Etwa als Ali erzählt, sie wohne mit einer Weißen zusammen, »weil eine alleinerziehende Zigeunerin keine Wohnung kriegt«. Als ihre Mitbewohnerin, eine erfolglose Künstlerin, über ihre stagnierende Karriere klagt, bemerkt Ali kühl: »Musst du was anderes ­machen.« So, wie sie selbst es eben macht, die mal putzt, mal auf dem Bau schuftet, weil die Optionen fehlen. Und dass in der Kiezkneipe ausgerechnet ein Schwarzer im Schimpansenkostüm boxen muss, ist ein starkes Bild. Nachdem Ali in der »Ritze« entdeckt wurde, ist bezeichnenderweise sie es, die das Schimpansenkostüm übernimmt. Wenn sie als Schimpansin einen Weißen beim Junggesellenabschied vermöbelt, ist das einer der Momente, die das Filmpublikum wirklich auf ihre Seite ziehen, weil er Ali einen glaubhaften, wenngleich gebrochenen Triumph gönnt. Dass der Schwarze den Schimpansen-Rassismus kritisiert und den Kneipenbesitzer als Nazi bezeichnet, ist dann schon wieder eine Nummer zu didaktisch. Man hätte dem Publikum durchaus zutrauen können, das Bild selbst zu verstehen.

»Im Leben spielen wir das Spiel der Weißen, im Ring spielen wir unser eigenes Spiel«, sagt Alis Vater einmal. Das Zitat bildet eine Klammer des Films und umschreibt den alten Mythos des Boxens: Ein Sport, in dem gesellschaftliche Hierarchien zwar nicht aufgehoben sind, aber leichter überwunden werden können, ein Ring der Freiheit und eigenen Gestaltungsmöglichkeit innerhalb eines Kosmos der Unterdrückung; auch eine Bühne, um von der Mehrheitsgesellschaft überhaupt wahrgenommen zu ­werden und sich selbst zu definieren. Immer wieder wird, nicht zufällig, auf Muhammad Ali Bezug genommen. Es hilft, dass Alina Şerban selbst seit mehreren Jahren boxt und alle Kämpfe selbst spielt. Auch die mehrfache schwedische Boxweltmeisterin Maria Lindberg hat einen Gastauftritt im Ring.

Im alltäglichen Leben, wie »Gipsy Queen« es porträtiert, sind die Weißen, auch wenn es gar nicht um sie geht, stets präsent. Als Alis Tochter eine Jacke klaut, schimpft die Mutter: »Du tust genau das, was die Weißen von uns erwarten.« So wird das Verhalten an deren Erwartungen gespiegelt, so ist letztlich die Mehrheitsgesellschaft diejenige, die den Handlungsrahmen der Minderheit bestimmt. Kluge, differenzierte Ge­danken liegen in diesem Film. Warum aber das fleißige, brave Mädchen plötzlich eine Jacke klaut, bleibt, wie so vieles, unklar. Augenscheinlich nur, um das nächste Themenfeld – Roma und das Diebstahlklischee – abzuhandeln. Die Tochter muss dann auch noch vorschlagen, betteln zu gehen, damit Ali in Tränen ausbrechen und erwidern kann: »Wir werden nie wieder auf die Knie gehen.« Und das wird sie in »Gipsy Queen« auch nicht tun. Den Stolz transportiert sie.

Şerban sagt: »Ich habe davon geträumt, dass wir ein Roma-Gesicht, eine Roma-Geschichte auf der großen Leinwand sehen.« Die beste Nachricht ist, dass es »Gipsy Queen« überhaupt gibt. Der deutsche (Sport-)Film, in dem nichtweiße Figuren traditionell noch weniger Raum finden als etwa im US-amerikanischen, hat Diversität bitter nötig. Mit einer ­boxenden Romni in der Hauptrolle und dem Regisseur Hüseyin Tabak, der mit dem Film auch seiner aus der Türkei migrierten, hart kämpfenden Mutter Respekt zollen möchte, findet ein Perspektivwechsel statt. Wünschenswert wäre es, wenn eine Protagonistin wie Ali in Zukunft auch ganz selbstverständlich Hauptfigur sein kann, nicht nur, wenn es um Rassismus geht. In diesem Sinne: Mehr davon! Aber als besserer Film. Und es muss nicht immer der alte Plot vom boxenden Underdog sein.

»Gipsy Queen« (Deutschland/Österreich 2019). Buch und Regie: Hüseyin Tabak. Mit Alina Şerban. 117 Min. Filmstart: 25. Juni