Gespräch mit Siraad Wiedenroth über Rassismus gegen schwarze Menschen und ­Polizeigewalt in Deutschland

»Der Tod schwarzer Menschen wird in Kauf genommen«

Siraad Wiedenroth ist Vorstandsmitglied der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. (ISD e.V.). Mit der »Jungle World« sprach sie über die Bedeutung der antirassistischen Protestbewegung in den USA für schwarze Menschen auf der ganzen Welt und über rassistische Polizeigewalt in Deutschland.

Wie haben Sie die Demonstrationen erlebt, die anlässlich der Tötung George Floyds und des Aufstands in den USA vor einem Monat in Deutschland stattfanden?

Ich erlebte sie als sehr groß und sehr jung. Organisiert haben sie vor allem junge Leute in sehr vielen Städten. Und sehr viele haben daran teilgenommen. Ich selbst war in Frankfurt am Main, der Römerberg, der Platz vor dem Rathaus, war so voll wie kaum je zuvor. Die jungen Leute, die das organisiert haben, stellten auch immer wieder den Bezug zu Deutschland und dem strukturellen Rassismus her, den es hierzulande gibt, und auch zur Polizeigewalt, denn für sie ist das auch hier Realität. Für manche weiße Leute entstand da ein Moment der Irritation, als es nicht nur um George Floyd und die Polizeigewalt in den USA ging. Das führte auch dazu, dass hierzulande wieder mehr über Polizeigewalt gesprochen wird.

»Insgesamt ist die Polizei hierzulande nicht so militarisiert wie in den USA. Aber für die Betroffenen ist die rassistische Polizeigewalt nicht weniger verheerend.«

Was bedeuten die Proteste in den USA für schwarze Menschen in Deutschland?

Interessant war ja, dass es diese Demonstrationen von schwarzen Menschen in der ganzen Welt gab. Die Fälle hatten sich in jüngster Zeit gehäuft. Es war nicht nur der gewaltsame Tod George Floyds. Im selben Monat starb Tony McDade, im März Breonna Taylor. Es wurden noch viel mehr schwarze Menschen in den USA Opfer rassistischer Gewalt. Rassismus gibt es als Struktur nicht nur in einem Land, die Erfahrung ist transnational. Antischwarzen Rassismus gibt es auf der ganzen Welt, und er äußert sich auch in Polizeigewalt. In diesem Moment hat man den Schmerz und die Trauer gespürt.

Es gibt genug Fälle rassistischer Polizeigewalt in Deutschland, auch mit tödlichen Folgen: Oury Jalloh, Mariame N’Deye Sarr, Christy Schwundeck, Laya-Alama Condé. Der Tod erfolgt nicht immer durch einen Schuss. Manchmal ist der Einsatz von Brechmittel tödlich. Auch George Floyd starb ja nicht an einer Schussverletzung, sondern man konnte in diesem achtminütigen Video beobachten, wie ein Mensch sein Leben verliert. Auch bei tödlichen Brechmitteleinsätzen stirbt man nicht sofort, sondern das zieht sich eine ganze Zeit hin. Bei schwarzen Menschen hört man dabei nicht auf und nimmt viel eher als bei anderen in Kauf, dass sie dabei umkommen.

Bei diesen Demonstrationen hatten viele den Eindruck, dass auffällig mehr schwarze Menschen an ihnen teilnahmen als an anderen Protesten gegen Rassismus, etwa denen der Seebrücke oder von Unteilbar. Wie kommt das?

Ich denke, das hat verschiedene Gründe. Man muss sich fragen, wer hierzulande schon früh lernt, für seine oder ihre Anliegen auf die Straße zu gehen. Jungen Menschen wird hierzulande ja meist schon in der Schule zwar beigebracht, dass man das Recht hat, die Gesellschaft mitzugestalten. Außerdem haben nicht alle schwarzen Menschen in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft. Das bedeutet, dass Angehörige dieser Gruppe sich in der Regel lieber nicht zu auffällig benehmen. Man ist abhängig vom Wohlwollen der Behörden.

Und nicht zuletzt ist es noch einmal etwas anderes, wenn es um die globale Realität von Rassismus gegen schwarze Menschen geht. Im Falle George Floyds ging es auch darum, dass ein asiatisch-amerikanischer Polizist danebengestanden und nicht eingegriffen hat. Rassismus gegen schwarze Menschen ist nicht nur ein Problem von weißen Menschen und es gibt ihn nicht nur in den USA.

Hat die deutsche Polizei ein Rassismusproblem?

Ich verstehe nicht, wie Leute behaupten können, dass es nicht so sei. Die ganze klare Antwort ist: ja. Das sieht man daran, wie unterschiedlich Polizeikontrollen ablaufen. Und das ist nur ein sehr kleiner Aspekt von Polizeigewalt.

Den sollte man aber nicht unterschätzen, denn es ist ja häufig der erste Kontakt mit der Polizei, und fortan gilt man als verdächtig.

Genau, damit beginnt in der Regel ein Prozess der Kriminalisierung. Man muss nur Angehörige der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft fragen, wie oft sie von der Polizei kontrolliert wurden. Dann sieht man einen eklatanten Unterschied zu schwarzen Menschen. Dazu werden bedauerlicherweise keine Statistiken erhoben, mit denen man diese Ungleichbehandlung ausreichend dokumentieren könnte. Doch es deutet vieles darauf hin, dass schwarze Menschen und Migranten mit psychischen Problemen deutlich häufiger von der Polizei erschossen werden.

Überdies gibt es das Problem der rechten Netzwerke in der Polizei. Hier in Hessen wurde erneut unter dem Namen »NSU 2.0« ein Drohbrief verschickt, diesmal an die Politikerin Janine Wissler von der Linkspartei. Der NSU 2.0 trat erstmals vor eineinhalb Jahren in Erscheinung. Damals machte die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız Drohbriefe gegen sie öffentlich. Diese ließen sich zu einem Polizeirevier in Frankfurt zurückverfolgen, dort wurden ihre Daten abgerufen. Es wurden daraufhin ein paar Beamte suspendiert, es gab eine interne Ermittlung, von der die Öffentlichkeit nicht erfuhr, was wirklich dabei herauskam. Es gab also keinerlei Konsequenzen, die etwa das strukturelle Problem angegangen wären. Auch beim jüngsten Drohbrief gegen Wissler liegt es nahe, dass die persönlichen Daten der Betroffenen bei der Polizei abgerufen wurden, da diese nicht frei zugänglich waren.

Ändert sich gegenwärtig etwas bezüglich der Bereitschaft der Polizei, sich mit solchen Problemen auseinanderzusetzen?

Moment wiegelt die Polizei ab. Die Polizeigewerkschaften reden erst einmal davon, wie schlimm es sei, dass sie unter Generalverdacht gestellt werden. In diese Richtung weist ja auch die Haltung Seehofers, es bedürfe keiner Studie zu racial profiling. Und wenn ich im Alltag beobachte, wen die Polizei auf der Straße kontrolliert, dann sind das weiterhin in erster Linie schwarze Menschen und andere PoC. Häufig sind das auch sehr junge Menschen. Man muss sich also fragen, ab wann fängt das an, wer gilt als verdächtig und wird kriminalisiert? Das sind häufig unter 16jährige, bei denen nicht die Eltern hinzugerufen werden und die keinen Rechtsschutz bekommen. Damit fängt die Kriminalisierung schon an.

Bezeichnenderweise kam es ja auch nach den großen Demonstrationen am 6. Juni in Berlin und Hamburg zu Übergriffen der Polizei auf schwarze Jugendliche, die in großer Zahl über Stunden festgehalten wurden. In Berlin konnte man sehen, wie dies unter vollem Körpereinsatz geschah, wobei die Beamten teilweise auf den Jugendlichen knieten. Das muss man sich mal vorstellen, man demonstriert dagegen, dass jemand durch diese Festnahmetechnik ums Leben kam, und dann kniet auf einmal auf einem selbst ein Polizist.

Aber dennoch gibt es jetzt auch eine Debatte über Polizeigewalt in Deutschland. Muss die Polizei da nicht reagieren?

Ich sehe nur, dass sie reagiert, wie sie immer reagiert. Zeigst du einen Polizisten an, setzt es gleich eine Gegenanzeige.

Selbst wenn Politikerinnen und Politiker in Deutschland zugeben, dass es Probleme bei der Polizei gebe, behaupten sie, es sei mit den USA nicht zu vergleichen. Was sagen Sie dazu?

Statistiken werden dazu hierzulande nicht erhoben. Die Statistiken, die es gibt, erfassen die Herkunft von Straftäterinnen und Straftätern. In der Praxis bedeutet das, dass die Polizei die Statistik so drehen kann, wie sie diese gerade braucht. Es gibt also gar keine Grundlagen dafür, die Situation in Deutschland mit der in den USA zu vergleichen. Insgesamt ist Polizeigewalt in Deutschland tatsächlich nicht so tödlich wie in den USA. Aber das ist etwas, was sich auf die gesamte Bevölkerung auswirkt. Insgesamt ist die Polizei hierzulande nicht so militarisiert. Aber für die Betroffenen ist die rassistische Polizeigewalt nicht weniger verheerend. Die Kampagne »Death in Custody« hat die insgesamt mehr als 160 Todesfälle in Polizeigewahrsam aus den vergangenen 20 Jahren untersucht, bei denen man davon ausgehen kann, dass Rassismus dabei eine Rolle gespielt hat. Dieses Problem kann man nicht einfach kleinreden, indem man sagt, es sei anderswo schlimmer. Man müsste erst einmal vor der eigenen Haustür kehren.