Unterwegs auf der Seidenstraße

Transitstan

Essay Von Giacomo Sini

Über Land unterwegs auf der Seidenstraße von Nordosteuropa nach Zentralasien und zurück über den Nahen Osten und den Balkan nach Italien. Eine Reise von über 13 000 Kilometern.

Es ist unmöglich, die Blicke der Menschen zu vergessen, denen ich während dieser zweimonatigen Reise zwischen Russland, Zentralasien und dem Nahen Osten begegnet bin.

Die schüchterne Begrüßung durch einen Eisenbahner am Gleis 2 des Kasaner Bahnhofs in Moskau, wo der Zug 006 nach Taschkent abfahrbereit ist, verrät mir, dass die viertägige Reise mit dem Schlafwagen der dritten Klasse nach Zentralasien und in den Nahen Osten in Kürze beginnt.

Ich werde mich immer an das aufrichtige Lächeln eines usbekischen Jungen erinnern, der mir, ohne sich vorzustellen, dabei hilft, meinen sperrigen Rucksack in den Zug zu packen, und der im Laufe der Tage mein Reisebegleiter wird, mit dem ich alles auf dieser Strecke der Trans-Aral-Eisenbahn teilen kann.

Während der Fahrt ist man nie ­allein: Jeder Blick wird zu einer Einladung, das, was man hat, mit dem anderen zu teilen, jede Schachtel Zigaretten kommt der Gemeinschaft ­zugute, und das Abteil erscheint wie eine große Familie, die vor der langen Reise nach Zentralasien steht, gemeinsam die Zeit totschlägt und Schwierigkeiten bewältigt.

Der Schaffner isst zu Abend und trinkt Tee

Bild:
Giacomo Sini

Zwischen einem Stück Naan (Brot) aus Samarkand und einem heißen Çay (Tee) kommen Spielkarten, eine Flasche Wodka und Tassen zum Vorschein. Hier sind viele Menschen, die die Langeweile gerne mit Kartenspielen und Volksliedern besiegen.

Die Landschaft verändert sich langsam, Usbekistan rückt immer näher, das Gelb der kasachischen Steppe, das uns jetzt mehr als drei Tage begleitet hat, wird von den Rot- und Rosatönen der Frühlingswüstenblumen abgelöst. Wir erblicken nun einige Hügel, immer häufiger sieht man jetzt Dörfer, und im Zug beginnen die Vorbereitungen für die Ankunft. Nach mehreren Stunden bürokratischer Unannehmlichkeiten ist Taschkent einen Zugpfiff entfernt, die Menschen lachen mit einem letzten Glas Wodka in der Hand und prosten der Hauptstadt zu – wir sind angekommen; die romantische Zugreise nach Zentralasien ist vorbei. »Viel Glück«, denke ich, während ich den letzten Schluck Wodka trinke.

Usbekistan, Land der imposanten Madrasas (Schulen beziehungsweise Hochschulen) und des einzigartigen Charmes, zentrale Kreuzung der ­alten Seidenstraße: Ich rufe mir die Gefühle in Erinnerung, die ich vor meiner Abreise empfand, wenn ich mir vorstellte, wie reizvoll dieses Land sein werde. Leider zeigt sich, dass diese Vorstellung nur ein längst verblasstes Bild der Vergangenheit des Landes ist, das einen riesigen Karneval für Touristen aufführt, denen allzu oft ein künstliches Panoptikum aus usbekischen Kostümen geboten wird.

Es genügt, sich nur ein wenig von den zentralen Plätzen zu entfernen, die imposanten Mauern zu überwinden, die sie begrenzen, um in das Herz einiger Städte zu gelangen, in die beliebten Viertel, die Mahalla genannt werden, um die eigentliche Schönheit dieser Orte zu erkennen.

Ich betrete durch einen Vorbau eine der Straßen Samarkands, einige Kinder kommen zu mir und lächeln jedes Mal, wenn ich sie grüße. Während ich durch die Gassen schlendere, fragen mich viele alte Leute freundlich, woher ich komme, und laden mich ein, mit ihnen Tee zu trinken. Die einladende Luft der Mahalla wird zum Sauerstoff für meine Beinmuskeln.

Ein älterer kurdischer Hirte aus dem Dorf Palangan, der sich an einem heißen Sommertag in den Bergen des iranischen Kurdistans ausruht

Bild:
Giacomo Sini

Fernab der Hektik mancher Städte entdecke ich die Anmut Usbekistans und lasse meinen Blick über die wunderschönen Hochebenen des Fergana-Tals schweifen; ein Bild voller explosiver Farben, die sich ausbreiten in der Unermesslichkeit der Berg­gipfel, die das Tal vom Westen Usbekistans trennen.

Auf der anderen Seite liegt Kirgisistan mit seinen Bergen und seinen von Nomadenvölkern bewohnten Jurtenlagern; ich überquere einen hohen Pass und stehe vor einem kleinen Dorf, das ein unbeschreibliches Panorama bietet: Sary-Tash.

Die sehr hohen Gipfel des Alai und des Pamir umfassen vereinzelte Wolken, die wie stumme Riesen nach oben stürmen, während der kalte Wind des Pamir immer stärker weht und einem die Knochen gefrieren lässt; ein ständiges Rauschen ins Tal, ein unaufhörliches Zischen zwischen den Mauern der Häuser, eingekeilt zwischen den Kuhglocken, die im Dunkeln läuten. Während ich frühmorgens durch das Dorf wandere, überwältigt mich der Duft von frischem Käse, der aus den Häusern kommt.

Und wieder brechen wir auf. Wieder Hunderte von Kilometern, wieder auf der Pamir-Autobahn, zurück nach Osch und an die usbekische Grenze in Richtung »Brücke der Freundschaft«, die über den Fluss Amudarja führt. Über diese Brücke gelangt man in afghanisches Gebiet.

Bei der Ankunft in Mazar-i-Sharif erblickt man die Blaue Moschee in ihrer architektonischen Perfektion, die den Bau aus dem 15. Jahrhundert zu einem Meisterwerk islamischer Kunst macht. Ich gehe über den rie­sigen weißen Platz und verliere mich zwischen Hunderten von Düften, während einige Händler mich anblicken, die sich ausruhen im Schatten der blauen Minarette, die den umgebenden Park überragen.

Nach ein paar Tagen bin ich auf dem Weg in den Iran, vorbei am antiken Herat im Schatten der imposanten Minarette des Musalla-Komplexes, und folge dem Fluss Hari Rud durch das von ihm bewässerte Tal. Das Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern besteht aus Sand und Steinen, die zwischen massiven, gewundenen Hügeln verstreut sind, die mit dem tiefen Indigo des Wüstenhimmels verschmelzen.

Hier und da sieht man Dörfer, die vollständig aus Terrakotta errichtet worden sind. Zwischen historischen Ruinen ziehen alte Hirten mit kleinen Ziegenherden in Richtung der gewaltigen umliegenden Dünen.

Eine Iranerin telefoniert in der Scheich-Lotfollah-Moschee in Isfahan im Iran

Bild:
Giacomo Sini

Einige Kilometer weiter und ich bin im Iran. Unter den imposanten ­Bögen der Khaju-Brücke in Isfahan verschmilzt das Geräusch des fließenden Wassers mit dem Gesang der hier lebenden Menschen und der melancholischen Melodie einer Gitarre. Nachdem ich mich zwischen all den Schönheiten der »halben Welt«, wie Isfahan genannt wird, ein wenig verloren gefühlt habe, ist es nun an der Zeit, sich Richtung Palangan aufzumachen, einem kleinen Dorf in den Bergen des iranischen Kur­distans.

Nachdem ich lange zwischen einigen kurdischen Dörfern entlang ­einer endlosen Reihe von Haarnadelkurven gewandert bin, tauchen ­einige kleine erdfarbene Häuser auf, die in ein sehr enges Tal zwischen schwindelerregenden und zerklüfteten Hängen eingebettet sind; der Fahrer, der mich begleitet, zeigt auf dieses »Lebenszeichen« – das kleine Dorf Palangan.

Nach einigen Minuten zu Fuß zeigt sich das Dorf in seiner ganzen Schönheit und zwei prächtigen Siedlungen, die durch einen Fluss getrennt sind, was dem Anblick Harmonie verleiht. Ich könnte stundenlang bleiben und all die Fenster und Dächer betrachten, die sich vom Flussufer bis in Hunderte von Metern Höhe erheben, aber nach kurzer Zeit betrete ich eine kleine Gasse, die von den Mauern der erdfarbenen Häuser umgeben ist. Während ich laufe, fällt mir der Blick eines Hirten auf, der mich in der Hitze schnaufen sieht und mir in seinem Haus etwas Çay anbietet. In der Stille der Berge dienen die Dächer der Häuser als ­kleine Höfe, in denen Familien in den kühlsten Stunden des Tages ­zusammenkommen, um ausgiebig zu essen. Die Luft ist erfüllt von ­einem häuslichen Duft, der die Mühen des langen Rückwegs mildert.

Istanbul bei Nacht

Bild:
Giacomo Sini

Die Zeit für die Rückkehr nach Italien ist gekommen, ich sitze auf ­einer bescheidenen Bank in einem anonymen Busbahnhof in einer Stadt im iranischen Kurdistan und beobachte, wie die Sonnenstrahlen auf die müden Gesichter junger Leute treffen, die darauf warten, dass ­irgendein Bus sie irgendwohin zurückbringt. Nachdem ich einige Tage durch Irakisch-Kurdistan, die Türkei und den Balkan gewandert bin, schlafe ich auf den Sitzen eines Schiffes ein, das über die Adria ­gleitet. Während mich die Wellen wiegen, erinnere ich mich an die letzten Tage in meinem geliebten Istanbul, wo ich eine Weile gelebt habe, an die Maulbeerdüfte, die ich in Zentralasien einatmen konnte, und an den letzten Schluck iranischen Çay aus einer nostalgischen Tasse. Der Hafen von Bari (Süditalien) empfängt mich mit seinem imposanten Leuchtturm, es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Der Text rekonstruiert eine Reise, die der Autor vor etwa drei Jahren unternommen hat.