Diego Armando Maradona ist endgültig abgetreten

Der Heilige aus der Klärgrube

Diego Armando Maradona ist gestorben. Ein Nachruf.

Seinem religiösen Ursprung nach bezeichnet der Begriff der Ikone das von den Gläubigen rituell verehrte Abbild eines Heiligen. Vom Christentum zu ungeahnter Blüte getrieben, taucht der Begriff im Alltagsgebrauch der heutigen, säkularisierten Welt überwiegend im übertragenen Sinn auf. Offenkundig handelt es sich bei Ikonen um hochgradig symbolische Konstrukte. Sie sagen also weitaus mehr über die gesellschaftlichen Umstände aus, unter denen sie hervorgebracht wurden, als über die abgebildete oder im übertragenen Sinn als Ikone bezeichnete Person.

Diego Armando Maradona, der vergangene Woche in Buenos Aires an einem Herzinfarkt verstorben ist, galt weit über seine argentinische Heimat hinaus als Ikone des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es mag darüber gestritten werden, ob – wie er selbst in aller Bescheidenheit nicht müde wurde zu behaupten – es sich bei ihm tatsächlich um den besten Fußballer aller Zeiten handelte. Doch scheint sich die bisweilen quasireligiöse Verehrung für ihn aus weitaus mehr zu speisen als aus seinen sicher außergewöhnlichen sportlichen Leistungen. In seinem Aufstieg zum Weltruhm, seinem öffentlich zur Schau gestellten Scheitern und dem darauffolgenden Wechselspiel zwischen selbstdestruktivem Verhalten und furioser Wiederauferstehung haften ihm zugleich titanische Unnahbarkeit und allzu menschliche Schwäche an. Gerade die Fehlbarkeit des Idols aber ermöglicht es den Bewunderern, die Kluft zwischen dem immer unerreichbaren Objekt der Verehrung und ihnen selbst zu überbrücken und zumindest den Anschein emotionaler Nähe her­zustellen.

Maradonas Vergötterung verdankte sich dem Umstand, dass die fußballerische Demütigung Englands in Argentinien als überfällige Revanche für den 1982 verlorenen Krieg um die Falklandinseln / Malwinen und die bis in die Kolonialzeit zurück­reichende Abhängigkeit vom britischen Imperium empfunden wurde.

Maradona hat mit offenherzigen Bekenntnissen stets dazu beigetragen, für diese Nähe zu sorgen. Insbesondere für seine Wirkung in Argentinien spielten die Erzählungen über seine Kindheit eine entscheidende Rolle. Im Jahr 1960 geboren, war er als fünftes von acht Kindern in Villa Fiorito aufgewachsen, einem Armenviertel am Stadtrand von Buenos Aires ohne befestigte Straßen, Strom oder sonstige Infrastruktur. Auf die in Argentinien als villas miseria bezeichneten informellen Siedlungen schaut das übrige Land seit jeher mit einer Mischung aus Verachtung, Angst und offenem Rassismus herab. So hatte sich für deren Bewohner wegen des höheren Anteils an Indigenen, die dort leben, der abwertende Begriff der cabecitas negras (Schwarz­köpfchen) etabliert. Selbst als späterer Weltstar hat Maradona das einstige Stigma stets mit Stolz als Zeichen seiner Zugehörigkeit für sich reklamiert.

Am Beginn der Erzählung über Maradonas Aufstieg steht eine von ihm selbst in Umlauf gebrachte ­allegorische Legende, die geradezu allegorische Züge trägt. Auf der ­Suche nach einem verlorengegangenen Fußball sei er in früher ­Kindheit in eine der provisorischen Klärgruben gefallen, die mangels ­öffentlicher Abwasseranlagen in dem Viertel angelegt worden waren. Bis zum Hals sei er in den Fäkalien versunken, er schwebte in Gefahr zu ertrinken. Und doch habe er sich nur darauf konzentriert, den Fußball zu finden – was ihm freilich gelungen sei –, bis ein Onkel ihn letztlich gerettet habe.

Hatte ihn demnach der Fußball in seiner Kindheit fast das Leben gekostet, sollte er ihn wenige Jahre später aus der Misere befreien. Bereits mit neun Jahren entdeckte ihn ein Talentsucher des argentinischen Erstligisten Argentinos Juniors. Mit 15 Jahren erhielt er seinen ersten Profivertrag und konnte von da an die gesamte Familie ernähren. Es folgten Stationen bei den Boca Juniors sowie ab 1982 beim FC Barcelona ­unter dem deutschen Trainer Udo Lattek. Nach nur zwei eher unrühm­lichen Jahren verkaufte ihn der Club 1984 an den SSC Neapel. Was zunächst als ein Rückschritt erschien, erwies sich für Maradona als Glücksfall. Aus der folgenden, selbst für eine Fußballerkarriere kurzen Periode von fünf Jahren speiste sich sein baldiger Weltruhm als einer der besten Spieler aller Zeiten.

Noch vor den Erfolgen mit dem Verein war er als neugekürter Kapitän der argentinischen Nationalmannschaft während der WM 1986 in Mexiko innerhalb von nur drei Minuten – zumindest in den Augen seiner Landsleute – zu einem Halbgott aufgestiegen. Seine beiden Tore im Viertelfinale gegen England, die Argentinien den Einzug ins Halbfinale sicherten, gingen in die Sportgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein.

Doch hätte diese Leistung allein wohl kaum ausgereicht, Maradona in seinem Herkunftsland in den Status eines Nationalheiligen zu erheben. Seine Vergötterung verdankte sich dem Umstand, dass die fußballerische Demütigung Englands in Argentinien als überfällige Revanche für den 1982 verlorenen Krieg um die Falklandinseln / Malwinen und die bis in die Kolonialzeit zurückreichende Abhängigkeit vom britischen Imperium empfunden wurde. Dass Argentinien dank eines präzisen Passes Maradonas im WM-Finale Deutschland schlug und Weltmeister wurde, schien da schon fast nebensächlich.

Im darauffolgenden Jahr führte Maradona den SSC Neapel zur ersten Meisterschaft der Vereinsgeschichte. Ein Triumph, der ebenso wie Argentiniens Auftritt in bei der WM in Mexiko hochgradig politisch aufgeladen war. Bislang war die Italienische ­Seria A stets von den Clubs aus dem wohlhabenden Norden des Landes dominiert worden. Im ebenso wie Argentinien von katholischem Volksglauben geprägten Neapel wurde ­Maradona bald darauf als »Santo Maradona« verehrt.

Weder seine dubiosen Verbindungen zur italienischen, in Neapel und Kampanien entstandenen Camorra noch sein aufsehenerregender Lebenswandel als kokainsüchtiger Playboy haben der Begeisterung für die Sportikone merklichen Schaden zugefügt. Stattdessen weckte Maradonas nonkonformistisch scheinender Lebenswandel das Interesse vornehmlich vom Poststrukturalismus beeinflusster Intellektueller, die im Anschluss an Georges Bataille Transgression, Tabubruch und Verschwendung zum Maß der Dinge erhoben hatten. Maradona erschien ihnen als Verkörperung dieses Paradigmas.

Der neureiche Emporkömmling trug ein Che-Guevara-Tattoo auf dem Oberarm und dem Konterfei seines engen Freundes Fidel Castro auf dem Unterschenkel, er bezeichnete sich als »Fidelist bis zum Tod«. Doch je nach persönlichem Nutzen bandelte er ebenso mit dem wirtschaftsliberalen argentinischen Präsidenten Carlos Menem wie mit linksautoritären Caudillos in Venezuela und Bolivien an. Er erklärte sich zum Fürsprecher der Armen und schloss millionenschwere Werbeverträge mit Coca-Cola, Agfa oder Puma ab. Seinen poststrukturalistischen Interpreten zufolge entblößte er so die Regeln der Gesellschaft in all ihrer Absurdität. Genauso ließe sich behaupten, dass er diese Regeln schlicht zu nutzen wusste. Bedrängt von den Medien wegen seines ausschweifenden Lebenswandels soll er in einem seiner lichten Momente gesagt haben: »Ich bitte nur darum, dass man mich mein eigenes Leben leben lässt. Ich wollte niemals ein Vorbild sein.«

Im Laufe der Jahre traten neue, glattere Idole an Maradonas Stelle, die deutlich besser zu den mittlerweile angesagten Idealen wie Gesundheit, Fitness und Schönheit passen. In Argentinien hingegen ist die quasi­religiöse Verehrung für Maradona ungebrochen. Nach Bekanntwerden seines Todes verhängte Präsident Alberto Fernández eine dreitägige Staatstrauer. Zum öffentlichen Totengedenken versammelten sich Zehntausende vornehmlich aus den verarmten Vororten angereiste An­hänger vor dem Präsidentenpalast an der Plaza de Mayo, um Maradona die letzte Ehre zu erweisen. Als klar wurde, dass wegen der Masse an Trauernden die Zeit nicht dafür ausreichen würde, dass alle an dem in einem Sarg in der Casa Rosada aufgebahrten Leichnam würden vor­beidefilieren können, kam es zu ­Tumulten am Präsidentensitz und anschließend zu Straßenschlachten mit der Polizei.

Maradona mag – wie im Übrigen sein Landsmann Ernesto Guevara – über die Zeit zur Ikone geworden sein, in die Nihilisten und selbsterklärte Linke, Nationalisten oder einfache Fußballfans ihre Hoffnungen projizieren konnten. Für all jene, denen die Fäkalien bis zum Hals stehen, hat – wie die eskalierte Trauerfeier verdeutlicht – die von ihm verkörperte Rettung aus dem Schlamassel noch immer immense Anziehungskraft. So schmerzlich Maradonas Tod für jene ebenso wie für die Hinterbliebenen auch sein mag, seine Überhöhung zu einer säkularen Halbgottheit sollte vor allem zur Trauer über den Zustand der Welt als solcher veranlassen. Denn letztlich war er vor allem eines: ein Fußballspieler.