Sezgin Tanrıkulu, Anwalt und Parlamentarier der oppositionellen CHP, im Gespräch über den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention

»Die Gewalt wird immer extremer«

Interview Von Sabine Küper-Büsch

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte kürzlich per Dekret den Austritt der Türkei aus der sogenannten Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Deren Auflagen wurden bislang nirgendwo im Land vollständig umgesetzt.

Worum geht es bei der Istanbul-Konvention? Welche Bedeutung hat sie in der Türkei?
Die Istanbul-Konvention wurde 2011 von 13 Mitgliedstaaten des Europarats in der Türkei unterzeichnet. Es ist ein Übereinkommen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Unsere Frauengleichstellungsgruppen in der Republikanischen Volkspartei (CHP) melden uns aus den 81 türkischen Provinzen, dass die Auflagen der Konvention bereits vor dem Austritt der Türkei aus dem Abkommen nirgendwo vollständig umgesetzt wurden. Es gibt zum Beispiel zu wenig Schutzmöglichkeiten und Frauenhäuser, nur 3 82 bei einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen. Die Polizei hat zwar ein Notruf­system, gefährdet die Frauen aber oft mehr als sie zu schützen. Wenn eine Frau die Polizei anruft, wird der Mann vernommen und dann wieder nach Hause geschickt, wo die Frau seinen Aggressionen nur noch mehr ausgesetzt ist. Ausgerechnet jetzt die Ratifizierung der Istanbuler Konvention rückgängig zu machen, zeigt, wie sich die Politik der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) entwickelt. An den Universitäten gibt es im Grundstudium das Pflichtfach »Gleichstellung«. Der Oberste Rat für die Universitäten hat eine Untersuchung eingeleitet, wie es zu einer solchen Pflichtveranstaltung hat kommen können und ob sie notwendig sei. Und das angesichts erschreckender Zahlen in Bezug auf Gewalt gegen Frauen.

Kann der Austritt aus der Istanbul-Konvention noch verhindert werden?
Wir werden als Partei beim Revisionsgericht eine Beschwerde einlegen. Verschiedene Anwaltskammern sind bereits tätig geworden. Aber ob das Erfolg haben wird, ist ungewiss. Eigentlich ist es verfassungsrechtlich nicht möglich, solche völkerrechtlichen Verträge einfach zu widerrufen. Aber in der Türkei herrscht eine ganz neue politische Kultur. Der Regierungssprecher Fahrettin Altun verkündet einfach über soziale Medienplattformen, was der Präsident entschieden hat, wie ein Herold einer entrückten Macht, der es nicht zu widersprechen gilt. Es ist fraglich, ob das Kassationsgericht es wagen wird, ein Dekrete des Präsidenten zu kassieren. Ich zweifle überhaupt stark daran, dass irgendein Gericht im jetzt eingeführten System eigenen Grundsätzen folgt.

Sie haben zum Internationalen Frauentag am 8. März einen Bericht zum Stand der Frauenrechte in der Türkei veröffentlicht. Was sind die wesentlichen Befunde?
Frauen fordern mittlerweile mehr Rechte, das ist ein Fortschritt. Im Gegenzug werden sie aus dem Fenster geworfen, getötet und verbrannt. In den 18 Jahren, in denen die AKP an der Macht war, wurden in der Türkei 6 32 Frauen von Männern getötet. Die Zahlen steigen und die Formen der Gewalt werden immer extremer. Das liegt vor allem an den Mängeln bei der Strafverfolgung. In der Rechtspraxis ist eine Toleranz gegenüber Gewalt in der Familie entstanden. Es gibt eine große Allianz des Verständnisses, die die Täter schützt. Den Opfern wird häufig eine Mitschuld attestiert. Immer noch gewähren die ­Gerichte regelmäßig Strafmilderungen aufgrund angeblicher Provokationen, denen die Täter ausgesetzt gewesen seien, wobei schon Aktivitäten der Frauen in sozialen Medien von manchen Familienmitgliedern als Provokation gewertet werden.

Wie hat die Istanbul-Konvention diesen Missständen entgegengewirkt?
Dieser Praxis stellte die Istanbul-Konvention ein Regelwerk entgegen, das Schutzräume vor allem für Frauen und Kinder bietet. Zum Beispiel sollen Vernehmungen von Opfern nicht im Beisein der Beschuldigten vorgenommen werden, und nach einer Beschwerde aufgrund von häuslicher Gewalt muss die Polizei präventiv tätig werden. Dem entsprach die Praxis zwar schon früher nicht, aber jetzt gilt es nicht einmal mehr auf dem Papier. Das ist eine Legitimation der patriarchalen Praxis und erschwert die Arbeit von Frauenrechtlerinnen unglaublich.

Die Regierung verweist immer wieder auf ihre Erfolge hinsichtlich der Gleichstellung von Frauen, etwa auf dem Arbeitsmarkt. Ist ihre Darstellung zutreffend?
Es gab in der Türkei lange schon Bemühungen, Frauen aus einkommensschwachen Schichten zur Berufstätigkeit zu ermutigen. Doch die Lohnentwicklung ist haarsträubend. Frauen verdienen durchschnittlich 31 Prozent weniger als Männer. Als Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor und als Hausangestellte sind sie oft irregulären Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Von 2013 bis 2020 starben 965 Frauen bei Arbeitsunfällen. Diese enorm hohen Todeszahlen wären vermeidbar. Frauen stürzen beispielsweise als Haus­arbeiterinnen beim ungesicherten Fensterputzen in den Tod, weil sich niemand um ihre Arbeitssicherheit kümmert. Die meisten sterben bei Arbeitsunfällen in der Landwirtschaft, darunter viele Kinder und Mädchen.

Wie sieht es im Strafvollzug aus? Vor allem aus der prokurdischen Bewegung gibt es sehr viele inhaftierte Frauen.
Die Menschenrechtslage in den Gefängnissen ist besonders besorgniserregend. Insgesamt gibt es etwa 17 00 weibliche Strafgefangene in der Türkei. 800 davon sitzen mit Kleinkindern, die unter drei Jahre alt sind, in Haft. Im vergangenen Jahr wurde ein Regelwerk für Hafterleichterungen im Parlament verabschiedet. Aber auch hier mangelt es an der Umsetzung. Es gibt zur Zeit auch viele Beschwerden von de facto als politische Gefangene inhaftierten Frauen über unrechtmäßige Durchsuchungen. Die meisten Fälle werden aus Diyarbakır gemeldet. Ich war von 2002 bis 2008 Vorsitzender der dortigen Anwaltskammer. Viele der Gefangenen dort stammen aus der prokurdischen Bewegung. Es besteht kein Grund dafür, Frauen regelmäßig Leibesvisitationen zu unterziehen. Das ist eine Form von geschlechtsspezifischer Demütigung, eine Form von physischer und psychischer Gewalt, die Gefangene demoralisieren und Widerstand auslösen soll. Wenn die Frauen sich dann wehren, wird ihnen unterstellt, sie widersetzten sich den Sicherheitsvorschriften. Bei mehrfachen ­Leibesvisitationen an inhaftierten Frauen ist das eine reine Provokation und eine spezifische Form der Misshandlung. Wir beobachten dieses Vorgehen vor allem bei oppositionellen Frauen. Es scheint also System zu haben.

In den vergangenen Wochen hat sich die politische Lage zugespitzt. Woran liegt das?
Die Situation in der Türkei ist angespannt. Wirtschaftlich läuft es schlecht, was nicht nur an der Pandemie liegt, sondern auch an der aggressiven Außenpolitik und der Vetternwirtschaft im Land. Immer wieder werden neue Skandale der Regierungspartei aufgedeckt. In der vergangenen Woche wurde ein junger Mann aus der Partei­zentrale der AKP in einem teuren Auto beim Drogenkonsum fotografiert. ­Angesichts dessen versucht die Regierung, die Öffentlichkeit mit Ablenkungsmanövern in die Irre zu führen und Sündenböcke für die Missstände zu präsentieren.

Was bedeutet das für Kritiker der Regierung?
Vor einer Woche war ich bei einer Demonstration der sogenannten Samstagsmütter. Das sind Angehörige in Haft verschwundener oder getöteter Personen, von denen einige schon seit den neunziger Jahren protestieren. Es handelt sich um friedliche Sitzstreiks vor dem Galatasaray-Gymnasium, auf ­einem öffentlichen Platz in Istanbul. Aber die Polizei griff mit völlig unverhältnismäßiger Härte ein. Ältere Frauen wurden verprügelt und festgenommen, eine Person erlitt einen Schädelbruch. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Demonstranten, wegen gewaltsamen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Ich habe nur die Polizei als Gewalt ausübend wahrgenommen.

Wie sieht die Lage für die politische Opposition aus?
Wir wissen auch, dass die Behörden gegen uns Material sammeln. Die Beschuldigung, terroristische Vereinigungen zu unterstützen, wird zurzeit ständig erhoben, vor allem gegen die prokurdische Bewegung, aber im Grunde gegen alle Oppositionellen. Dazu gehören auch wir von der CHP, die an der ­Istanbul-Konvention fest­haltenden, Frauenrechtlerinnen, die demonstrierenden Studierenden, die Samstagsmütter und viele mehr. Sobald die Regierung in Bedrängnis kommt, geht der Staat gegen eine neue oppositionelle Gruppe vor oder es werden wieder Menschen verhaftet. So beschäftigt die Regierung die Öffentlichkeit und schüchtert die Opposition ein.

Sezgin Tanrıkulu ist Rechtsanwalt und Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) im türkischen Parlament. Er war Vorsitzender der ­Anwaltskammer Diyarbakır und ist Mitbegründer der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TİHV).