Bibbernd zum Sieg

Das Eisbaden, dessen Name hält, was er androht, wird immer beliebter.
Sogar Weltmeisterschaften werden mittlerweile abgehalten. von martin krauss

Wir sahen den Mann nur durchs Fernglas. Zum Hinausgehen war es an diesem ersten Weihnachtstag viel zu kalt. Der Mann stand schon eine Weile am Strand der fast zugefrorenen Ostsee in Ahlbeck auf der Insel Usedom und machte gymnastische Übungen. Dann zog er sich aus. Und ging nackt in die Ostsee. Nicht bibbernd und mit den Armen schlagend, sondern ruhigen Schrittes. Er schwamm eine Weile, nie mit dem Kopf unter Wasser, und dann kam er wieder heraus. Genauso ruhigen Schrittes, wie er hineingegangen war. Und so gemächlich zog er sich auch wieder an. Wir hätten ihn angesprochen, wenn er in unser Hotel gekommen wäre. Aber er ging woanders hin. Und um ihm hinterherzugehen, war es zu kalt.

In Ahlbeck, wo der Mann uns auffiel, findet jedes Jahr am Valentinstag im Februar ein Winterschwimmen in der Ostsee statt. An anderen Orten wie Berlin (Anfang Januar im Orankesee), Pirna, Wurzen, Borna, Weißwasser, Riesa, Potsdam, Hermsdorf, Eisenberg, Gera, Rostock, Leipzig (Anfang Dezember im Kulkwitzer See), Radebeul, Chemnitz, Plauen, im bayerischen Absbach, Oederan, Plau am See und in Zinnowitz wird auch gefrostbadet, und richtig Kult ist mittlerweile das Winterbaden in Ferchland bei Genthin. Zu solchen Events sind noch mehr solche Irre am Strand und im Wasser.

Etwa 1 500 Eisbader, Eisschwimmer oder Winterschwimmer, wie die Eigenbezeichnungen lauten, sind in Deutschland organisiert. Unorganisierte gibt es noch mehr.

Dass kaltes Wasser abhärte und dass Abhärtung etwas Gutes sei, gehört seit Pfarrer Kneipp (1821 bis 1897) zum Grundbestand des hygienischen Wissens hierzulande. Dass es etwas Erfrischendes haben kann, bei Minustemperaturen ins Wasser zu springen, zeigen Finnen und Russen nach dem Saunieren seit Hunderten von Jahren. Aber dass die Sache zum Sport wird, ist noch recht neuen Ursprungs.

Anfangs der fünfziger Jahre wurde alljährlich am zweiten Weihnachtstag in Prag das Moldauschwimmen durchgeführt. Die Faszination von sich zwischen Eisschollen tummelnden Schwimmern schwappte Ende der sechziger Jahre in die DDR.

Über die Schwierigkeiten, als Sportler anerkannt zu werden und wenigstens im Winter den Schlüssel zum Freibad ausgehändigt zu bekommen, berichten die Eisbader aus Radebeul auf ihrer Website: »Deutscher Schwimmsportverband der DDR: Eisbaden? – Der Schwimmverband ist doch kein Badeverein! Da können wir uns auch mit Badewannenrudern und Luftmatratzenpaddeln befassen!«

Hier finden sich auch weitere Bedenken: »Rechtsträger der Freibäder: Wer trägt die Verantwortung, wo sind die Sicherheitsbestimmungen? Wir können die Objekte außerhalb der Sommersaison nicht besetzen! Deutscher Turn- und Sportbund der DDR: Keine Wettkämpfe, keine Rekorde, keine Sieger, keine Leistungsklassen – das gibt es in keiner anderen Sportart! Ist Winterschwimmen überhaupt Sport?«

Vor allem mit Hilfe der Jugendorganisationen setzten sich die DDR-Eisbader durch. Die Pionierzeitung Trommel rief, aus Abhärtungsgründen natürlich, die Thälmann-Pioniere zu Treffen auf, stiftete einen »Seehund-Pokal« und verteilte an die bibbernden Eisbader Urkunden.

So wurde das Eisbaden zu einer vergleichsweise populären Massenerscheinung in der DDR. Ein erster Höhepunkt war ein Treffen in Lubmin am Greifswalder Bodden im Jahr 1979. Die Ostsee war zugefroren und musste aufgehackt werden, draußen hatte es minus 10 Grad, im Wasser, unter dem Eis, minus 0,4 Grad. Über 8 000 Zuschauer versammelten sich und schauten sich das Spektakel an, wie 94 Eisbader in die Ostsee stiegen.

Zum absoluten Höhepunkt des Eisbadens in der Geschichte der DDR wurde das 8. »Trommeltreffen« in Pirna im Februar 1986. Mittlerweile waren die Eisbader gut organisiert und reisten aus 34 Sektionen der Republik an. Ihre Sportgemeinschaften trugen Namen wie Pinguine, Eisbären, Wale, Robben oder Eisfüchse. 254 Bader stiegen ins Eisloch, das aus einer Eisstärke von 25 Zentimetern gehackt wurde, und am Rand standen 10 000 Zuschauer. Das Verbandsblatt Schwimmsport titelte: »Ein Kaltwassertreffen der Rekorde«.

Nach der Wiedervereinigung gehört das Eisbaden neben dem grünen Pfeil und Achims volkstümlicher Hitparade zu den wenigen Errungenschaften, mit denen das gesamtdeutsche Leben aus dem Osten bereichert wurde. Was freilich, anders als die Ampelregelung und die MDR-Volksmusiksendung, eher auf den Trend zu Extremsportarten zurückzuführen ist, dem sich die Schwimmer nicht nur über lange Distanzen, sondern auch über extreme Temperaturen nähern.

Im Februar 2000 fanden im finnischen Helsinki erstmals Weltmeisterschaften statt. In einen zugefrorenen See wurde ein 25 Meter langes Becken gehauen, und dort fand der Wettkampf statt. Zur Premiere kamen 1 200 Schwimmer aus 18 Ländern, die meisten aus den Gegenden der Welt, in denen Eisbaden und -schwimmen ein wenig verbreitet ist: Russland, Schweden, Estland, Lettland und eben Finnland. Anderen WM-Teilnehmern ging es nur um den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser. Richard Tivnann, ein Bankangestellter aus London, erzählte einem Agenturjournalisten über seine Erfahrung: »Nie wieder, ich muss doch spinnen. Es war das erste Mal, das ich in solches Wasser gestiegen bin, und es war garantiert mein letztes Mal.«

Solche Memmen ließ die sich immer mehr in Richtung Leistungssport bewegende Eisschwimmerbewegung kalt, und sie fand sich bei der nächsten WM ein Jahr später im mittelfinnischen Jyväskylä ein; erstmals, sie konnte ja nicht lange auf sich warten lassen, mit deutscher Beteiligung. Richard Grauel aus Bonn wurde in der Altersgruppe der 30- bis 40jährigen Weltmeister. Die WM-Organisation sorgte diesmal auch dergestalt für Seriosität, dass sie zwischen WM-Teilnehmern und einer »Robbenklasse« unterschied, in der sich alle die tummelten, die es mal ausprobieren wollten.

Im letzten Jahr trafen sich die besten Eisschwimmer dann im finnischen Kajaani, etwa 500 Kilometer nördlich von Helsinki. Eine vierköpfige Delegation vom Hardtberger Schwimmclub in Bonn reiste an und stellte mit dem 31jährigen Karsten Grote nicht nur einen Weltmeister, sondern auch einen Weltrekordhalter.

Vorbereitet hatten sich die Bonner, wie sie der Lokalzeitung Generalanzeiger anvertrauten, durch nicht ganz legales Schwimmen im Außenbecken des heimischen Schwimmbades. »Dort hatten wir einmal um die null Grad Wassertemperatur«, berichtete Grote, »aber das war immer noch kein Vergleich zu Finnland.« Dort nämlich kühlten die Veranstalter das von ihnen aus dem See geschlagene Becken mit einer Salzlösung noch auf minus 1,5 Grad ab. Grote schwamm seinen Weltrekord ohne Startsprung und in Brusttechnik, nur einige Finnen trauten sich, eine ans Kraulen erinnernde »Hündchen-Technik« zu schwimmen. Kommt der Kopf unter Wasser, besteht die Gefahr der Bewusstlosigkeit.

In diesem Jahr finden die Weltmeisterschaften erstmals außerhalb Finnlands statt, in Moskau. Von Planungen, sie auch einmal in Deutschland, etwa in der zugefrorenen Ostsee oder einem der dortigen Bodden, stattfinden zu lassen, ist zwar noch nichts bekannt geworden, aber vielleicht hat der Mann in Ahlbeck, den wir wegen der Kälte nicht ansprechen wollten, schon dafür trainiert.