Frankfurt ist Bielefeld am Main

Öde Orte III: Unwirtlich ist an diesem "Stadt" genannten Schweinekoben gar nichts.

Christian Schmidts Städtevergleich erscheint als dritter Beitrag innerhalb unserer Serie "Öde Orte". Autoren testen Städte, in denen kein Mensch leben will. Die Texte erscheinen im Februar 1998 in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Buch "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam Leipzig.

Rom wurde angeblich auf sieben Lügen gebaut. Die Stadt Frankfurt am Main aber gründet bloß auf einem Irrtum. Und dieser Irrtum lautet: Frankfurt ist eine europäische Metropole, wenn nicht gar so etwas wie eine Weltstadt. Auf das Mißverständnis aber folgte gleich ein ganzer Stapel von Erfindungen: "Frankfurt ist die Pumpe der Republik, ihre eigentliche Hauptstadt" (Der Spiegel), Frankfurt ist die "Hauptstadt der Energien" (Johnny Klinke), "hier sind die Widersprüche am stärksten" (Johnny Klinke), "Frankfurt hat eine mutige offene Streitkultur" (Michel Friedman), ist "eine ungemein spannende Stadt" (Hilmar Hoffmann), ist "eine spannende Stadt" (Matthias Horx), "wo ein spannendes intellektuelles Klima herrscht" (Matthias Horx). Davon abgesehen, daß und wie sehr es bereits aus diesem zwar nicht unbedingt spezifisch Frankfurterischen, jedoch zweifellos ziemlich endemischen Vokabular herausdummt: Nichts davon war je wahr, nichts davon ist wahr, und es wird, solange die Stadt Frankfurt von Frankfurtern bewohnt wird, nichts davon je wahr werden.

Schon die offizielle Einwohnerzahl ist voll gelogen: 653 241 Menschen (Stand 1995) leben laut Statistik in Frankfurt, damit sei Frankfurt, meint man im Frankfurter Römer - ein Rathaus, das so heißt wie ein Kochtopf -, die fünftgrößte Stadt Deutschlands. Die wahre Einwohnerzahl Frankfurts läßt sich hingegen ermitteln, indem man die Populationen etlicher eingemeindeter, bloß durch Landstraßen und Feldwege mit Frankfurt verbundener Apfelweindörfer und Kleinstädte abzieht; dann hat die Stadt ziemlich exakt 346 865 Einwohner und damit gerade gut zwanzigtausend mehr als - nur mal zum Vergleich - das ostwestfälische Bielefeld (324 865).

Bielefeld, genau. Die Übereinstimmungen im Erscheinungsbild beider Städte sind frappant: Im Zentrum Frankfurts, das sich gerne und aufdringlich augenzwinkernd "Mainhattan" rufen läßt, stößt man auf langweilige Mietshäuser mit Hundeklo-Vorgärten, miserable Genossenschaftsbauten aus der Nachkriegszeit, als der Gedanke vorherrschte, Innenstädte müßten wie Vororte oder Bielefeld-Sieker aussehen und nach Hundekacke riechen. Ein Gang über die Zeil aber, angeblich "umsatzträchtigste Einkaufsmeile" mindestens Deutschlands, läßt die Frage aufkommen, ob die zuständigen Architekten nicht (mit zwei Ausnahmen) ihr Diplom bei Woolworth gemacht haben.

Scheußlich sieht Frankfurt aus, seit Ernst Mays Zeiten wurde hier kaum noch etwas halbwegs Ansprechendes gebaut, und wenn doch, dann hat's der Frankfurter bei erstbester Gelegenheit wieder abgerissen - wie z.B. das Stadtbad Mitte. Scheußlich, in Ordnung, aber eins ist diese Stadt ganz sicher nicht, nämlich, wie uns ihre schärfsten Kritiker mit Hinweis auf ein von Alexander Mitscherlich 1965 (!) just in Frankfurt geschriebenes Buch immer wieder glauben machen wollen: "unwirtlich". Unwirtlich nun wirklich nicht, denn hierzu bedürfte es einer gewissen Größe und Unübersichtlichkeit, großstädtischen Tempos, belebter Straßen, Slums, eines Hauchs von New York, Bochum, Kuala Lumpur. Frankfurt mit seinen aufgepflasterten und zugepömpelten Fußgängerzonen, dezibelreduzierten Wohnquartieren und adretten Plastikstuhlstraßencafés dagegen ist mindestens so wirtlich wie Bielefeld-Brackwede.

Es ist eben fast überhaupt nichts richtig an dem, was sowohl von Frankfurt-Gegnern als auch von Frankfurt-Freunden über Frankfurt in die Welt hinausbehauptet wird und wurde, um die Stadt und damit auch sich selbst, Bewohner, der man ist, vor Fremden wichtig zu machen. Frankfurt als "Bankfurt" oder "Profitopolis" (M. Horx)? Ach was. Die Versorgungslage ist gemeinhin erschütternd. Im Winter sind bei Saturn-Hansa die Luftbefeuchter aus, im März gibt's im toom markt keine Blumentöpfe ("Kommen in zwei Wochen wieder rein") und im April bei HL keine Milch ("Der Laster ist nicht gekommen"). Und wer versucht, ein farblich und in der Länge passendes Paar Schnürbänder eben dort zu erwerben, wo er vor einem halben Jahr seine Schuhe samt Senkel kaufte, erhält keineswegs das Gewünschte, sondern bloß eine patzige Antwort: "Ham wer nich!"

Zwei halbwegs intakte Augen und Ohren genügen, um festzustellen, daß ein weiteres Verdikt des gewesenen Frankfurt-Propheten Matze Horx weder hinten noch vorne, oben noch unten noch sonstwie stimmt: "Frankfurt ist eine Dienstleistungsstadt", behauptete der Mann, weil er sich davon größere Trinkgelder versprach, obwohl er doch immerhin wußte: "Wer 'dienstleistet', muß eine bestimmte Mentalität ausprägen. Er muß sich für andere und seine Bedürfnisse interessieren." Dafür nämlich interessiert sich kein einziger Frankfurter. Der Fremde erfährt das nicht erst beim Einkaufen, sondern schon im Moment seiner Ankunft, dann, wenn er spät abends im nahezu verwaisten Tiefbahnhof auf die S-Bahn, die ihn läppische 2 000 Meter weiter zur "City" befördern soll, eine geschlagene Viertelstunde warten muß; oder wenn er am RMV-Fahrkartenautomat vergeblich nach einer Rabatt gewährenden Streifenkarte sucht. Frankfurt, die "Messestadt", läßt dergleichen vermissen - wie Bielefeld, das aber langsam glatt als Frankfurt-Zwilling durchgehen könnte.

Nein, doch nicht, denn die Post "dienstleistet" rund dreihundert Kilometer weiter nordwestlich entschieden besser. Briefe und Pakete werden am Main nämlich, wenn es beliebt, nicht abends und samstags (O-Ton: "Firmen brauchen samstags keine Post.") oder überhaupt nicht zugestellt. Ein Brief verbringt auf der Strecke Innenstadt - Nordend (1,5 Kilometer) bis zu fünf Tage; oder er kehrt gleich am nächsten Tag zum Absender zurück, weil Sortierer und Zusteller den klitzeklein geschriebenen Absender mit der in dicken Lettern notierten Adresse verwechselt haben. Jedes Jahr verschwinden in Frankfurt auf dem Postweg 6 000 Lohnsteuerkarten, eine Zahl, die nur verblüffen kann, wer nicht erlebt hat, daß Frankfurter Zusteller Briefe über den Gartenzaun schmeißen, nur weil die Hausnummer der Adresse mit der eigenen übereinstimmt, sonst aber rein gar nichts, weder Name, Straße noch Postleitzahl.

Daß Frankfurt trotz des über Jahre hinweg republikweit höchsten Kulturetats keine - was auch immer das genau sein mag - Kulturmetropole ist, diese karge Erkenntnis immerhin beginnt jüngst auch anderswo an Boden zu gewinnen. Niemand nannte jedoch bisher den Namen jener Stadt, deren - zum Beispiel - Theateraktivitäten sich mit Frankfurter Aufführungspensen am ehesten vergleichen lassen. Auf 520 Vorstellungen brachten es Bielefelds zwei kommunale Theater während der Saison 1993/94, Frankfurts vier Bühnen im gleichen Zeitraum auf 632. Allerdings verfügt die Stadt am Main über mehr und entschieden größere Bibliotheken als ihr ostwestfälisches Double; dafür sind die allesamt in einem verheerenden Zustand. Das Leihzettelsystem der Stadt- und Universitätsbibliothek stammt offensichtlich aus dem letzten Jahrhundert; Neuerscheinungen stapeln sich gleich zu Tausenden in ungeöffneten Kartons auf Heizkörpern in irgendwelchen Kellern. In der Zentrale der Stadtbibliothek werden Taschenbücher und Comics einfach nicht katalogisiert. Kaum anders in der gerade neu eröffneten Deutschen Bibliothek, von der unser Kanzler behauptete: "Sieht gut aus!" Dafür ist das Personal selten in der Lage, binnen ganzer sieben Tage ein bestimmtes Periodikum zu finden. Welches? Die Statistischen Vierteljahreshefte der Stadt Bielefeld!

Nein, auch das "Museumsufer, Museumsufer, Museumsufer" (so gebetsmühlenartig wird man in jeder Frankfurt-Broschüre angeblafft) rettet den "Kulturstandort" (L. Reisch) Frankfurt nicht. Die Inneneinrichtung des Architekturmuseums halten Klebestreifen auf geheimnisvolle Weise zusammen, das Völkerkundemuseum ist eine ewige Baustelle, und für das Städel muß gesammelt werden. Ja, das Postmuseum sieht prima aus - u.a. deshalb, weil es wohl der einzige Ort in Frankfurt ist, an dem irgend etwas Postalisches noch funktioniert.

Stadtentwicklung scheint hier zu bedeuten, sich möglichst in allem und jedem dem Bielefelder Standard anzupassen. Verglichen mit dem Jahr 1989 liegt die Zahl der Kinobesucher in Frankfurt heute um eine ziemlich exakte Million niedriger, u.a. weil zwei Innenstadtkinos geschlossen wurden. Dasselbe passierte mit mehreren Clubs, in denen Bands auftreten konnten, dem einzigen Independent-Plattenladen der Stadt, großen Veranstaltungszentren -

- doch halt! Gibt es denn wirklich gar nichts wirklich Weltstädtisches in Frankfurt? Das Bahnhofsviertel vielleicht? Pahh! Ein Viertel? Gerade mal drei Parallelstraßen mit ein paar Puffs. Und Weltstar Lee von Tic Tac Toe verdingte sich nicht hier, sondern im Bielefelder Knusperhäuschen an der Eckendorfer Straße. Die hohe Kriminalitätsrate eventuell, die vielen Gangster auf Frankfurts unsicheren Straßen? Puuh! In einer Stadt, in der einem innerhalb von acht Jahren nur ein einziges Mal die Brieftasche gestohlen wird (die man noch dazu zwei Wochen später wiederbekommt), kann man doch nicht wirklich von einer hohen Kriminalitätsrate sprechen! Dann aber wohl die vielen Dealer, die an allen Ecken und Enden Drogen verkaufen? Pooh! Kann man tatsächlich Leute ernsthaft Dealer nennen, die nachts auf dem Hauptumschlagplatz für Drogen, der Zeil, nicht mal zwei bis drei Gramm Gras vorrätig haben? W.k., sagt man da in Bielefeld. Wohl kaum.

Wie man es auch dreht und wendet, wohin man auch schaut, was man auch untersucht: Die einzige mit Frankfurt vergleichbare, die einzige dem Format, Stellenwert und der Ausstattung Frankfurts entsprechende "City" bleibt: Bielefeld. Mit einem signifikanten Unterschied: das Auftreten der Bewohner. Während sich der Bielefelder in Bescheidenheit übt, seine Stadt, die immerhin zu den zwanzig größten dieses Landes zählt, kleiner macht, als sie ist, sich selbst zu Hause und in der Fremde immer nur als Provinzler tituliert und auf Auslandsreisen gerne erklärt, seine Heimatstadt liege irgendwo zwischen Dortmund und Hannover, aber selbstverständlich müsse man dieses unbedeutende Kaff keinesfalls kennen, verhält sich es sich mit dem Frankfurter genau umgekehrt. Wo er nur geht und steht oder einen Schreibgriffel in die Hand bekommt, schildert er sein Handkäs-New York in den gewagtesten Tönen, malt das Bild einer extraordinären Glitzermetropole, bedichtet sein krüppeliges Äppelwoi-Athen (Ex-Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper: "Was flüstert, was raschelt, was raunt in der Welt? Frankfurt, Frankfurt."), rühmt, übertreibt, lügt es größer - dabei schrumpft die Zahl der Frankfurter seit Jahren - , zahlt Geld, um andere Frankfurt preisen zu lassen (z.B. Manfred Bissinger: "Nirgendwo sonst in der Republik hat sich auf so kleinem Raum so viel kreatives Potential versammelt." - Wen meint er? Die Frankfurter Vorzeige-Künstler Pit Krüger, die Jacob Sisters, Sabrina Setlur, Ebby Thust und Ferry Ahrlé?) und trompetet in den weiten Kosmos hinaus, wie dynamisch, tolerant, multikulturell, urban, interkontinental er, der Frankfurter selbst, doch sei.

Dabei ist natürlich auch das gelogen, denn zunächst einmal ist der Frankfurter bloß engstirnig und verbohrt wie ein Rodgau-Bauer, und die beiden Götter, zu denen er täglich betet, daß er auch so bleiben möge, heißen Muff und Griesgram. Für Kunden und Käufer hat er nur verächtliche Blicke übrig, und Kneipengäste schmeißt er eine halbe Stunde vor der Sperrstunde auf die Straße. Streitsucht gilt zu Recht als sein Hauptcharakterzug, und die im Zorn über fremden Schädeln zertrümmerten Äppelwoi-Gläser sind Legende.

Nur an wenigem kann sich der Frankfurter wirklich aus tiefstem Herzen erfreuen, und das ist die Not. Das Elend. Und das Unglück seines Nächsten. Verkehrsunfälle werden wie Volksfeste gefeiert, man ergötzt sich, wenn irgendwer hilflos sein liegengebliebenes Motorrad zu reparieren versucht, betrachtet voller Wohlgefallen die brandigen Beine der Penner und beneidet Polizisten, die auf der Zeil Dunkelhäutige halbstundenlang an die Wand stellen und sonstwie schikanieren dürfen.

Das heißt natürlich nicht, die Malträtierten seien so oder so besser, fröhlicher, freundlicher. Eine Quote von dreißig Prozent Ausländern an der Stadtbevölkerung hält der Frankfurter für ein Zeichen seiner unermeßlichen Toleranz und Multi-Kulturalität (besonders, weil er noch keinen Fremden angezündet hat, wie er immer wieder gerne betont). Tatsächlich versteht er sich aber so gut schlecht mit ihnen, weil die Zugewanderten schnell begriffen und sich angepaßt haben. In kürzester Zeit wurden auch Griechen, Türken und Mongolen echte Frankfurter: hysterische Hausmeister, muffige Wasserhäuschenbesitzer, barsche Kneipiers, impertinente Supermarktfilialleiter, schadenfrohe Miesmacher und streitsüchtige Ehepartner. Und so bleibt Frankfurt am Main bis zum jüngsten Gericht eine enge, dumpfe, mittelmäßige Stadt, ausnahmslos und flächendeckend bewohnt von mißgünstigen Erbsenzählern, unzufriedenen Meckerpötten und größenwahnsinnigen Menschenfeinden.

Ausnahmslos? Natürlich gibt es auch in Frankfurt die eine Ausnahme, jenen Sonderfall, der die traurige Regel bestätigt, und der bin ich. Mir hat diese Stadt nichts anhaben können, und deshalb bestaunt man mich hier wie ein Wunder. Hier gelte ich als liebenswerter, harmoniesüchtiger und nachsichtiger Zeitgenosse, hier hält mich jeder für hilfsbereit, besonnen und außerordentlich reizend, ja, man bewundert mich direkt für meine fast übertriebene Höflichkeit und Toleranz. An welchem anderen Ort der Welt würde es mir wohl ähnlich ergehen? Und deshalb lebe ich eigentlich ganz gern in diesem "Stadt" genannten Schweinekoben namens Frankfurt am Main.

Ansonsten fühle ich mich hier als Bielefelder natürlich wie zu Hause.

Christian Schmidt ist Journalist und schreibt u.a. für Titanic.
In der nächsten Ausgabe porträtiert Dietrich zur Nedden Hannover:
"Die Stadt everybody loves to hate".