Asylmodell Guantanamo

Großbritannien will Asylsuchende künftig in »Schutzzonen« außerhalb der EU einweisen. von bernd parusel

Es kommt vor, dass Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern, wenn ihre Waren dort billiger hergestellt werden können. Jetzt ist der britische Innenminister David Blunkett auf die Idee gekommen, dass sich auch mit der Auslagerung von Asylverfahren Geld sparen lässt. Bis 10 000 Euro gibt seine Regierung nach eigenen Angaben im Jahr für jeden Asylbewerber aus. Dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) stünden dagegen für jeden Flüchtling, den er anderswo auf der Welt versorgt, nur etwa 50 Dollar jährlich zur Verfügung. Welches Einsparpotenzial für den britischen Staatshaushalt diese Rechnung Blunketts suggeriert, bedarf wohl keiner Erklärung.

Gleichwohl ist das Kostenargument nicht entscheidend dafür, dass die Londoner Regierung plant, Asylverfahren in Staaten auszulagern, die nicht der EU angehören. 109 500 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr nach Großbritannien eingereist, und seit zwei Jahren nehmen die Briten unter allen EU-Staaten die meisten Asylbewerber auf.

Das soll sich jetzt ändern. Während die Fremdenfeindlichkeit in Großbritannien in den vergangenen Jahren stark zunahm, arbeitete die Regierung Blair seit einiger Zeit fieberhaft an einem »radikal neuen Ansatz, der uns den Rückgang der Asylzahlen liefert, den wir brauchen«, sagt Innenminister Blunkett. Das Ergebnis dieser Arbeit wurde Ende März unter dem Titel »New vision for refugees« an den Rat der Innen- und Justizminister der EU überwiesen.

Die Vision der britischen Regierung sieht eine radikale Veränderung der bisherigen Abschottungspraxis in den EU-Staaten vor. Zum einen hält es Blunkett für nötig, in Ländern, aus denen besonders viele Flüchtlinge kommen, zu »intervenieren«, notfalls auch militärisch. Zum anderen sollen Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen, künftig abgefangen und in so genannte Transitzentren außerhalb der EU, in der Nähe ihrer Herkunftsländer, eingewiesen werden. Sollten einige es trotzdem noch schaffen, sich bis in die EU durchzuschlagen, würden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in diese Übergangslager oder in so genannte Schutzzonen ausgeflogen und dort zunächst für sechs Monate festgehalten.

Wenn sich die Lage in ihren Herkunftsstaaten in diesem Zeitraum nicht verändert, soll in den Lagern über ihre Asylanträge entschieden werden. Anerkannte Flüchtlinge können anschließend in die EU einreisen und werden dort nach Quoten auf die einzelnen Mitgliedsstaaten verteilt. Den abgelehnten Bewerbern droht die Abschiebung ins Herkunftsland.

Die Lager sollen von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) oder dem UNHCR beaufsichtigt werden. Sie sollen überall entstehen, bevorzugt an den Hauptrouten von Schlepperorganisationen und in der Nähe von Krisengebieten. Russland, die Ukraine, die Türkei, Iran, das nördliche Somalia oder Marokko kommen als Standorte in Frage.

Menschenrechtsorganisationen fürchten, da außerhalb der EU die Asylgesetze der Mitgliedsstaaten nicht gelten, dass Asylentscheidungen dort nur noch nach politischem Ermessen getroffen werden. Das individuelle Recht auf Asyl würde vollkommen ausgehebelt. »Das britische Konzept ist der bisher weitgehendste Vorstoß, dem Flüchtlingsschutz innerhalb der EU den Garaus zu machen«, meint Pro Asyl.

Wohl gerade deswegen kommt die Vision David Blunketts bei vielen anderen EU-Innenpolitikern jedoch gut an. Als sich die Innenminister der 15 EU-Staaten am 28. März in Veria im Norden Griechenlands trafen, fand der Brite viel Verständnis. Seine Kollegen hatten sich gerade dafür stark gemacht, Kriegsflüchtlinge aus dem Irak möglichst nicht nach Europa einreisen zu lassen, sondern »heimatnah« zu versorgen. Eine Idee, die bereits einen Vorgeschmack auf das britische Konzept bietet, und die schon früher, angesichts der Flüchtlingsströme aus dem Kosovo, erprobt wurde.

»Je weniger nach Europa kommen, desto besser«, verlautete anlässlich des Treffens von Veria aus der italienischen Regierung – und damit meinte sie nicht nur Irakflüchtlinge. Auch dem britischen Auslagerungskonzept gab Italien grünes Licht, zusammen mit Spanien, den Niederlanden und Belgien. Die belgische Regierung meinte lediglich, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die EU »ihre Probleme exportiert«.

Der EU-Kommissar für Innen- und Justizpolitik, Antonio Vitorino, bezeichnete den britischen Vorschlag als »interessant« und versprach eine Prüfung durch seine Behörde. In zwei Monaten, am 20. und 21. Juni, sollen sich dann die europäischen Staats- und Regierungschefs bei einem Gipfeltreffen in Thessaloniki mit dem Thema beschäftigen.

Allein der deutsche Innenminister Otto Schily gibt sich bislang skeptisch. Allerdings nicht, weil er die Kritik von Flüchtlingsorganisationen teilt, sondern weil der britische Plan seiner Meinung nach nicht garantieren kann, dass auch nach Deutschland weniger Asylbewerber kommen. Die Schutzzonen könnten sogar zusätzliche Flüchtlinge anziehen, fürchtet Schily.

Anstatt sich also an seinen britischen Kollegen zu halten, setzt er offenbar auf eine Intensivierung bereits bestehender Möglichkeiten der Flüchtlingsabwehr. Und dafür gibt es Gründe: Auch auf deutsche Initiative hatten die EU-Regierungschefs bei ihrem Gipfel in Sevilla vor weniger als einem Jahr eine ganze Reihe restriktiver Maßnahmen beschlossen, darunter eine Verstärkung der Rückkehr- und Abschiebepolitik sowie den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Grenzschutzcorps.

In diese Abwehrmaßnahmen sind inzwischen auch die östlichen Beitrittsstaaten eingebunden. In den kommenden Jahren will die EU-Kommission jährlich mindestens 300 Millionen Euro in die neuen Mitgliedsländer überweisen, um die gemeinsamen Grenzen besser abzudichten. Künftig werden es deutlich weniger Asylsuchende schaffen, über Polen oder Tschechien nach Deutschland zu gelangen. Der Ausbau dieser Abwehrstruktur mag aus Sicht der Bundesregierung näher liegen als das britische Auslagerungskonzept, zumal diesem wohl eine Jahre dauernde Planungsphase vorausgehen müsste.

Anders stellen sich indes die Interessen Italiens und Spaniens dar. Trotz vehementer Anstrengungen, Flüchtlingsschiffe daran zu hindern, an den Küsten Kalabriens oder Andalusiens anzulegen, wurden dort bis jetzt keine die Regierung zufrieden stellenden Mittel der Flüchtlingsabwehr gefunden.

Erst kürzlich ist ein Pilotprojekt der EU im westlichen Mittelmeer zur Bekämpfung der »illegalen Einwanderung« auf dem Seeweg kläglich gescheitert. Im Rahmen der »Operation Odysseus« machten Patrouillenboote und Korvetten aus mehreren EU-Staaten Jagd auf Flüchtlinge. Wie die Frankfurter Rundschau Anfang März meldete, konnte dabei kein einziges Immigrantenschiff aufgebracht werden. Stattdessen erreichten mehr als 300 Flüchtlinge unbehelligt die südspanische Küste.

Sollte der britische Asylvorstoß Wirklichkeit werden, könnten sich die Regierungen in Rom und Madrid die aufwändige Hatz auf See künftig wohl sparen. Sie würden die Flüchtlinge einfach an Land empfangen und sie dann in eines der Lager außerhalb der EU verfrachten.

Die linke italienische Zeitung il manifesto schrieb deshalb, im Unterschied zu Schily werde sich die Regierung von Silvio Berlusconi den britischen Vorschlag wohl zu Eigen machen. Die EU begebe sich damit »auf den Weg nach Guantanamo«.