Menschen oder Tiere befreien?

All you can eat

Vegane Tierrechtler stehen für das Bedürfnis, die Natur in Gestalt des Tieres als Gegenentwurf zur verderbten und dekadenten Zivilisation zu erklären. Statt Menschen wollen sie Tiere befreien.

Ohne Zweifel: Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist alles andere als vernünftig eingerich­tet. Hierfür sind allerdings weder der Appetit fieser Fleischesser noch der Eisverkäufer an der Ecke oder die Diva im Pelz verantwortlich. Es verbessert sich demzufolge auch nicht, wenn links­radikale Wohngemeinschaften ihren Kühlschrank wurstfrei halten, Grundschullehrer Unterschriften für eine vegetarische Schulspeisung sammeln oder Pamela Anderson sich mal wieder unter dem Motto »Lieber nackt als im Pelz« ablichten lässt. Ebenso wie die Sehnsucht nach dem Le­ben in den Wäldern, die sich hinter dem Engagement so mancher Tierrechtsgruppe verbergen dürf­te, ist auch das derzeitige Verhältnis von Mensch und Natur Resultat einer Dialektik des Zi­vilisationsprozesses. Das könnten die veganen Tierfreunde durchaus wissen, wenn sie aus den Schriften Adornos und Horkheimers nicht immer nur die drei gleichen Standardstellen zitieren, sondern die entsprechenden Bücher auch lesen würden. Man wird der Kritischen Theorie nicht gerecht, wenn man aus ihr steinbruchartig einzelne Textbausteine zur Begründung des Veganis­mus herauslöst.

Die Entzauberung der Welt, die im Zentrum des Programms der Aufklärung stand, ging mit ihrer erneuten Verzauberung einher. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden zu dinghaft erstarrten Naturverhältnissen, zur zweiten Natur. In diesem Prozess der Emanzipation von der ersten Na­tur teilte der Mensch das Schicksal der übrigen Welt. Die Gesellschaft, so Horkheimer und Adorno, »setzt die drohende Natur fort als den dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als ge­sell­schaft­liche Herrschaft über Natur«.
Je deutlicher sich das gesellschaftliche Zwangsverhältnis dem archaischen Kampf aller gegen alle anglich, umso stärker sehnten sich die Menschen nach dem Original zurück. Anders als von Marx erhofft, machten sie nicht das unerreichte Ideal der bürgerlichen Gesellschaft, das Glücksversprechen der Aufklärung, zum Maßstab der Realität. Stattdessen verdammten sie entweder ausgerechnet das am Status quo, was dem Ideal schon nahe kam: Individualität, Künstlichkeit, den Luxus des Bürgertums oder den Weltmarkt, in dem die Idee einer staatenlosen Weltgesellschaft bereits angelegt war. Oder sie träumten sich in die schlechte Realität von Vorgestern – Horde, Sippe, Stamm, Blut und Boden – zurück.
Spätestens seit Rousseaus »Zurück zur Natur« kokettiert die bürgerliche Gesellschaft immer mal wieder damit, die zivilisatorischen Errungen­schaften gegen einen Zustand einzutauschen, dessen Überwindung sie sich bei anderer Gelegen­heit stolz auf ihre Fahnen schreibt. Analog zur Spaltung des Menschen in Natur- und Gesellschafts­wesen geht die Furcht vor blinder Naturverfallenheit mit der Sehnsucht nach ihr einher. In dem Maß, in dem die Gesellschaft ihre Fähigkeit verliert, ihre ideologische Existenzbedingung, das heißt: den Glauben, dass jeder mit genügend Fleiß und Geschick zu seines Glückes Schmied wer­den kann, zu reproduzieren, scheint sich diese Ambivalenz allerdings zu Gunsten der Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Zuständen aufzulösen.
Das Tier fungiert dabei als eine Art Role-Model menschlicher Wünsche und Sehnsüchte. Noch in der Zeit der Aufklärung sorgten seine Begriffslosigkeit, die Reduktion aufs Vitale und seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion für Geringschätzung. Im Laufe der Unterwerfung des Menschen unter die zweite Natur veränderte sich das Bild des Tieres in der menschlichen Mythologie allerdings. In Deutschland entdeckte man neben dem »Herz für Kinder« schon im 19. Jahrhundert sein »Herz für Tiere«. (Der deutsche Schicksalskomponist Richard Wagner war nicht nur Vorreiter der völkischen Bewegung, sondern auch ein Pionier in Sachen Tierschutz.) Der Volksmund ernannte das liebe Vieh mit dem bekannten Sprichwort zum »besseren Menschen«. Und die »Sau rauslassen« wurde zu einem Synonym für ausgelassenes Feiern. All das, was zuvor zur Geringschätzung des Tieres beigetragen hatte, sorgte nun regelmäßig für Begeisterung.
Die vegane Tierrechtsszene ist dabei nur der Laut­sprecher des allgemeinen Bedürfnisses, im Namen der im Tier verkörperten Natur gegen die verderbte und dekadente Zivilisation anzugehen: So bevölkern Panda, Gorilla und Co. nicht nur die Vorabendprogramme. Es dürfte zugleich kaum eine erfolgreiche Boygroup geben, die ohne das Abziehbild des Sensiblen auskommt, der kein Fleisch isst, sich für die Rettung von Walen einsetzt und in Interviews regelmäßig über sein Unbehagen an Zivilisation, Konsum und der »Verwertung von Tieren« spricht.
Dieser Agitation für das einfache und gerechte Leben in »reiner Natur« fällt als erstes die Idee des Menschen zum Opfer. Tatsächlich lässt sich erst mit dem Beginn der Loslösung der Menschen von Natur, Sippe, Blut, Boden und Scholle in einem emphatischen, nicht bloß biologischen Sinn von Menschheit sprechen. Zuvor unterschied sich das menschliche Leben in der Tat nur marginal vom Leben der Tiere. Erst mit der Emanzipation von der puren Naturverfallenheit entstand ein Verlangen, das über die einfachen Bedürfnisse der physischen Reproduktion hinausging.

Wenn Tierrechtler Mastanlagen mit Konzentra­tionslagern vergleichen, sich als Erben der Sklavenbefreier des 19. Jahrhunderts präsentieren oder den Kampf um die Emanzipation der Frau als Vorbild der eigenen Aktivitäten begreifen, kommt darin nicht nur, wie gelegentlich in kritischer Absicht erklärt wird, das Verlangen zum Ausdruck, Mensch und Tier gleichzusetzen. Der Unterschied zwischen Mensch und Natur wird vielmehr zur Seite der Natur hin aufgelöst. Ganz einfach: Da sich das Tier nicht zum Menschen erheben lässt, muss der Mensch zum Tier herabgesetzt werden. Mit dieser Auflösung des Menschen in der Natur wird zugleich der Status quo ante simuliert; die Menschen werden auf ihre bloße Kreatürlichkeit, auf Schlafen, Trinken, Essen und Fortpflanzungssex reduziert.
Um den Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass weiter zu verdeutlichen, muss gar nicht notwendigerweise auf die vegetarische Ernährung Hitlers, seine Liebe zum Schäferhund Blondie oder die »Go-Vegan«-T-Shirts, mit denen deutsche Neonazis in jüngster Zeit so oft zu sehen sind, verwiesen werden. Der Blick auf den zeit­lichen Kontext, in dem die Linke, die hier tatsächlich als Avantgarde auftrat, der allgemeinen Liebe zu Robbenbabys, Erdferkeln und Waranen zum Durchbruch verhalf, genügt: Noch 1968 erklärte der SDS, einer der Generatoren der Studentenrevolte, auf einem Plakat: »Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« Statt vom Wetter – soll heißen: von Sonne, Regen, Feld, Wald und Wiese – sprachen die klügeren Studenten vom Nationalsozialismus, vom Krieg in Vietnam, von Ausbeutung und Unterdrückung. Zehn Jahre später, als der Weltmarkt nach den Ölkrisen Überflüssige in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß ausspuckte, wollte kaum noch jemand etwas davon wissen. Die Reste der Protestbewegung tauschten ihre Lederjacken gegen Juteparkas ein, sattelten auf Müsli um, bauten Krötentunnel und retteten Wale. Die Aufklärung sollte nicht mehr unter Reflexion auf ihre gegenläufigen Momente vollendet werden. Nicht mehr die Menschen sollten aus dem harten Griff der Verhältnisse befreit werden, sondern die Tiere aus ihren Käfigen, die Natur sogar von der menschlichen Zivilisation.

Die Gesellschaft des Verzichts, die in diesem Kampf für die »reine Natur« bereits angelegt ist, nimmt die vegane Tierrechtsbewegung schon heute teilweise vorweg. Das Land, in dem Milch und Honig fließt, das seit Jahrhunderten Inbegriff eines besseren Lebens ist, ist für vegane Tierrechtler die Hölle. So erinnert nicht nur die vegane Ernährung, das Ersetzen von Käse, Milch und Honig durch fade Sojaprodukte, an Selbstgei­ßelung und Entsagung. In diversen Internet-Ratgebern für das konsequente vegane Leben wird der Klientel gelegentlich sogar geraten, der Umwelt und den Tieren zuliebe auf Autos, öffentliche Verkehrsmittel und Fernurlaub zu verzichten. Immerhin, so war vor einiger Zeit auf der Home­page veganwiki.de zu lesen, töten Autos, Busse und Flugzeuge nicht nur Insekten, sondern enthalten auch noch tierische Fette als Schmierstoffe.
So viel Askese und Triebunterdrückung, das ist seit Sigmund Freud und Erich Fromm bekannt, verlangen nach einer Abfuhr. Möglicherweise die­nen die Bilder zerstückelter Tiere, zu denen der Tierrechtler ein ähnlich obsessives Verhältnis hat, wie der katholische Priester zu Pornographie, der Kompensation dieser Entsagungen. Ebenso wie das Schmuddelheftchen der einzige Luxus ist, den sich der Diener Gottes bis zu seinem Marsch durchs Himmelstor genehmigt, scheinen die Metzelfotos und Splatter-Videos aus Schlacht­höfen, ohne die kaum eine vegane Zeitschrift, Kam­pagne oder Benefizparty auskommt, der einzige Luxus zu sein, den sich der Tierrechtler gönnt, bis er so richtig auf der Erde aufräumen kann.
Es gibt insofern gute Gründe, den verhärmten Gestalten, die in der Fußgängerzone regelmäßig Hochglanzbroschüren mit Fotos von Tiervergasungsanlagen und massakrierten Kühen verteilen, mit Vorsicht zu begegnen. Im klassischen Kri­mi ist der Mörder nicht selten die Krankenschwes­ter, die es satt hat, ihre Kenntnisse über Gifte und Überdosen immer nur einseitig zu nutzen. Wer es einmal gewagt hat, auf einem linken Sommercamp Steaks oder Bratwürste zu grillen, weiß, dass Tierrechtler mit den so genannten Aasfressern nicht gerade zimperlich umgehen. Zu­mindest einige von ihnen scheinen es kaum erwarten zu können, ihr beeindruckendes Wissen über Schlachtvarianten, Tötungsarten und Ausweidemethoden endlich auch einmal anzuwenden. Aber selbstverständlich nicht am Tier.