Ein Buch von Detlef Hartmann über die Krise der griechischen Ökonomie

Rote Zahlen aus Athen

Zwei Neuerscheinungen befassen sich mit dem griechischen Aufstand vom Dezember 2008 und der Krise der griechischen Ökonomie.

Es spricht viel dafür, dass es in Europa bald sehr ungemütlich werden könnte. Kaum scheint sich mit dem neuen deutschen »Wirtschaftswunder« die Ankündigung der Kanzlerin zu bewahrheiten, man werde »gestärkt aus der Krise hervorgehen«, droht durch die krisengeschüttelten Eurostaaten neues Ungemach. Und am härtesten hat es Griechenland erwischt, wo im Dezember 2008 eine akute Wirtschaftskrise gar nicht nötig war, um schwere Unruhen auf den Plan zu rufen und die Leute auf die Straße zu treiben. Das glücklich-feiste Massenbewusstsein in Deutschland, es durch vereinte Anstrengungen wieder einmal geschafft zu haben, weicht giftigem Chauvinismus gegenüber den faulen Griechen. Genauer zu verstehen, was es mit der Krise der griechischen Ökonomie auf sich hat und wie die Fronten in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verlaufen, könnte von durchaus praktischer Bedeutung sein.
Eine detaillierte Analyse des Aufstands vom Dezember 2008 gibt der von US-amerikanischen und griechischen Anarchisten zusammengestellte Band »Wir sind ein Bild der Zukunft«, der 2010, noch vor der Zuspitzung der griechischen Schuldenkrise, auf Englisch veröffentlicht und nun ins Deutsche übersetzt wurde. Interviews, Erfahrungsberichte und Dokumentationen beleuchten insbesondere die anarchis­tische Szene. Das scheint plausibel, schließlich waren es die Anarchisten, die nach der Erschießung des 15jährigen Alexandros Grigoropoulos durch einen Polizisten die Revolte initiierten. Migranten, Schüler und prekäre Arbeiter, die sich zuvor nie mit der Staatsmacht angelegt hatten, kommen ebenfalls zu Wort. Der Band spiegelt jedoch auch die Selbstbezüglichkeit und subkulturelle Einigelung griechischer Anarchisten, ihr falsches Bewusstsein, von »der Gesellschaft« getrennt zu existieren. »Die Gesellschaft« erscheint wahlweise als eine »zombifizierte«, wie es in einer Erklärung der Guerillagruppe »Verschwörung der Feuerzellen« heißt, oder als Objekt didaktischer Bemühungen. »Die Anarchisten«, heißt es, »lieferten Beispiele kompromisslosen Kampfes und vertrauten darauf, dass die Menschen, sobald sie soweit sind, diese Beispiele als ihre eigenen übernehmen würden.« Deutlich wird jedoch an einigen Stellen des Buches, dass die Bevölkerung der Anleitung durch die Anarchisten bei den Protesten gar nicht bedurfte, etwa als sie zu Plünderungen übergingen.
So entsteht das ambivalente Bild eines Milieus, das gegenüber einem kontemplativen Marxismus den Vorzug hat, nicht auf den St. Nimmerleinstag warten zu wollen, sich damit aber einen Existenzialismus einhandelt, der auf eine Glorifizierung von Gewalt hinausläuft. Auf die »Arbeitertümelei« vieler Marxisten weiß die Szene nur mit dem Verdikt zu antworten, dass die Arbeiterklasse »vor sechzig Jahren willentlich alle Eigenschaften ihres Feindes annahm und sich selbst auflöste«. Die Frage, wieso die Revolte vor allem von Prekären getragen wurde und andere Lohnabhängige nicht erreichte, spielt folglich kaum eine Rolle.
Diese anderen Lohnabhängigen betraten einige Monate nach dem Abebben der Revolte die Bildfläche, als das Ausmaß der griechischen Staatsverschuldung sichtbar wurde und harte Sparmaßnahmen, vor allem im öffentlichen Sektor, durchgesetzt wurden. Welchen Charakter diese Krise hat und ob es nach dem »Dezember der Anarchisten und Prekären« einen »Dezember der Arbeiter« geben könnte, versuchen Detlef Hartmann und John Malamatinas in dem schmalen Band »Krisenlabor Griechenland« zu klären. Minutiös zeichnet Hartmann nach, wie sich im Frühjahr 2010 das Drama um den drohenden Staatsbankrott Griechenlands entfaltete und die deutsche Bundesregierung dabei die Rolle des Einpeitschers übernahm. Seine Darstellung vernebelt die Vorgänge jedoch eher, als dass er sie erhellen könnte.
Hartmann, der seit vielen Jahrzehnten sozialrevolutionäre Analysen verfasst, bedient sich zumeist desselben Schemas: Um nicht in einen marxistischen Objektivismus zu verfallen, wird alles Geschehen als Kampf zwischen der »moralischen Ökonomie« (E. P. Thompson) der Unterklassen und ihrer »schöpferischen Zerstörung« (Joseph Schumpeter) durch die Herrschenden gedeutet. Diese moralische Ökonomie entdeckt er im Falle Griechenlands in dem, was in der deutschen Medienpropaganda als griechische »Klientelwirtschaft« firmiert. Dort, wo sich die politischen Verwalter der Ökonomie angesichts der tiefgreifenden Finanzkrise des griechischen Staats um Schadensbegrenzung bemühen, entdeckt er den großen Plan, einen neuen kapitalistischen Zyklus in Gang zu setzen: »Dies ist der eigentliche historische Sinn der Krise als ›Reinigungskrise‹: Zerstörung des alten Regimes und Aufbau des neuen« – in seiner Lesart ein neues Regime aus High-Tech-Clustern. Die griechische Krise ist jedoch viel trivialer: Die wenigen produktiven Industriezweige, die in Griechenland existierten, sind auf dem EU-Binnenmarkt »niederkonkurriert« worden, und der Staat ist als wichtigster Arbeitgeber und Simulator von Wachstum in die Bresche gesprungen, was auf Dauer nicht gut gehen konnte.
Eher nüchtern fällt der Beitrag des griechischen Autors John Malamatinas aus, der sich mit den Krisenprotesten des Jahres 2010 befasst. Zwar stellt er fest, dass die Akteure der Dezember-Revolte und die gegen die Sparmaßnahmen protestierenden Arbeiter gelegentlich zusammenfanden, allerdings erfuhren die Proteste einen schweren Rückschlag, als bei der Massendemonstration am 5. Mai eine Bank in Brand gesetzt wurde und vier Menschen ums Leben kamen. Vor allem haben die Proteste es bislang nicht geschafft, über die illusorischen und mitunter nationalistischen Forderungen von Gewerkschaften und Traditionslinken hinauszugehen.
Gerade weil die griechische Krise kein inszeniertes Manöver von oben ist, sondern Ergebnis mangelnder Produktivität des Landes, sind die Aussichten des Widerstands eher trübe: Die harten Einschnitte sind nicht etwa politischer Willkür geschuldet, sondern sind – innerhalb des bestehenden ökonomischen Systems  – schlicht alternativlos. So folgt ein Generalstreiktag dem nächsten, ohne dass sich ein Ausweg abzeichnete. Weil ein Bruch mit den vorherrschenden Verhältnissen derzeit nicht in Reichweite zu sein scheint, drohen die Krisenproteste in Griechenland zu verpuffen, so wie auch die Revolte vom Dezember abflaute.

A.G. Schwarz/Tasos Sagris/Void Network (Hg.): Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte. Aus dem Englischen von Nina Knirsch, Daniel Kulla, Karl Rauschenbach und Bernd Volkert, Laika-­Verlag, Hamburg 2010, 366 Seiten, 24,90 Euro

Detlef Hartmann/John Malamatinas: Krisenlabor Griechenland. Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2011, 133 Seiten, 12 Euro