Michael Hardt im Gespräch über Krise, Schuld und Schulden

»Schulden sind eine moralische Waffe«

Der Politiktheoretiker Michael Hardt über die Schuldenkrise, ihre subjektive und moralische Dimension und über die sozialen Kämpfe des vergangenen Jahres als Versuch, neue soziale Beziehungen herzustellen.
Interview Von

Sie leben derzeit in Italien, wo die neue Regierung der »Techniker« den angeblichen wirtschaftlichen Notstand mit harten Sparmaßnahmen verwalten soll. Was halten Sie von dieser Schocktherapie, der Italien nun unterzogen wird?
Als die Finanzkrise begann, im Jahr 2008, gab es die Erkenntnis, dass die Ursachen in den neo­liberalen Strategien und den deregulierten Finanzmärkten zu suchen seien. Damals wurde viel über die Regulierung der Finanzmärkte und die Beseitigung oder zumindest die Abschwächung neoliberaler Strategien gesprochen. Heute scheint es so, als gäbe es keine andere Lösung als die Intensivierung genau dieser Strategien. Wir haben uns in den vergangenen drei Jahren in einem merkwürdigen Kreis gedreht, während sich die Krise verschärft hat.

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy halten europaweit, trotz wachsender Kritik, an der technokratischen Verwaltung des Notstands fest. Welche Folgen hat diese Entwicklung für die Realökonomien und die Menschen in den betroffenen Ländern?
Die Art, wie die Krisenmaßnahmen Italien, aber auch anderen Ländern von den starken europäischen Wirtschaftsnationen und von Institutionen der EU buchstäblich diktiert worden sind, erweckte den Eindruck, es gäbe keine andere Lösung als die drastischste von allen. Ganze soziale Systeme sind mit dem Argument des wirtschaftlichen Notstands umgestaltet worden. Wozu diese Schockökonomie führt, ist klar: Durch den Notstand werden Maßnahmen möglich, die in »normalen« Zeiten undenkbar wären, weil sie den sozialen Konflikt eskalieren lassen würden: Senkung der Löhne, Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor, Schwächung der Gewerkschaften und so weiter. Das ist der Sinn der technokratischen Verwaltung des Notstands, die Abschaffung jeglicher politischen Debatte über die Verwaltung der Krise, mit anderen Worten, die Beseitigung des Politischen und dessen vermittelnder Funktion.

Finanzkrisen sind nicht neu in der Geschichte des Kapitalismus. In diesem Jahr waren es nicht nur die Mainstream-Medien, die propagierten, die westliche Welt befinde sich am Rande des wirtschaftlichen Kollapses. Auch Ökonomen, Soziologen und linke Theoretiker sprechen von einer Systemkrise des Kapitalismus. Sehen Sie in dieser Krise etwas Besonderes?
Ich würde mit einer negativen Beobachtung beginnen, also mit einer Beschreibung dessen, was diese Krise in meinen Augen nicht ist. Das ist keine Krise, die im Zusammenhang mit der Trennung zwischen der Realwirtschaft und der fiktiven Sphäre des Finanzkapitals entstanden ist. Real- und Finanzwirtschaft sind heute nicht mehr voneinander zu trennen. Was mir als neu und herausfordernd im Zusammenhang mit dieser Krise erscheint, ist, dass die kapitalistische Produktion im allgemeinen sich in eine fiktive Richtung entwickelt hat, das ist wenigstens die Ansicht, die Toni Negri und ich, aber auch andere, vertreten. Die kapitalistische Produktion wird nicht mehr von der industriellen Produktion materieller Güter bestimmt. Der gegenwärtige Kollaps der Ökonomie betrifft vielmehr die Produktion von immateriellen Gütern, die wir biopolitisch genannt haben. Es gibt eine Symmetrie zwischen der Funktionsweise der Finanzwirtschaft und der immateriellen oder biopolitischen Ökonomie. Wir erleben heute eine neue Situation, die eine neue Analyse und wahrscheinlich eine neue politische Antwort erfordert.

In einem Interview mit dem britischen Shift Magazine haben Sie auch die Proteste der »Occupy«-Bewegungen als »biopolitische Kämpfe« bezeichnet. War der Auslöser dieser Proteste, vor allem in Europa, nicht konkret ökonomisch, nämlich die Maßnahmen der einzelnen Staaten angesichts der Schuldenkrise?
Der Auslöser der Proteste hängt zwar direkt mit der wirtschaftlichen Lage in den jeweiligen Ländern zusammen, aber in den sozialen Kämpfen dieses Jahres sind ökonomische, politische und existentielle Fragen thematisiert worden. Es geht nicht nur um Geld und Kapital. Ökonomische und politische Kämpfe können wir heute nicht mehr als getrennt betrachten.

Biopolitisch ist für mich in erster Linie die Praxis der Besetzung, des gemeinsamen Lebens auf dem Platz, auf der Straße oder auf dem Campus. Die Menschen, die sich an den Protesten beteiligen, stellen den abstrakten und für viele sicher auch naiv klingenden Begriff der »echten Demokratie« nicht als Forderung an die institutionelle Politik, sondern sie versuchen, dieses Prinzip durch horizontale und partizipative Strukturen umzusetzen. Diese Kämpfe haben auch in einer anderen Hinsicht eine biopolitische Dimension, denn Kapitalismus und Krise produzieren Subjektivitäten.

Auf ihre Analyse der von der kapitalistischen Krise hervorgebrachten Subjektivitäten würde ich gerne später eingehen, zunächst möchte ich bei der »Occupy«-Bewegung bleiben: Sehen Sie in der Empörung ein subversives Potential?
Ja, nämlich in der Kritik am Prinzip der politischen Repräsentation, in der Weigerung, Forderungen an die Politik zu stellen und sich dementsprechend »vertreten« zu lassen. Das erklärt übrigens auch die Kritik, die »Occupy«-Bewegungen hätten keine konkreten Forderungen. Aber genau das ist der Punkt:

Die Ansprüche dieser Bewegungen passen nicht in die Mechanismen der politischen Repräsentation.

Die moralisch aufgeladene Rhetorik von den »guten« 99 Prozent gegen das »böse« eine Prozent ist nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie komplexe Verhältnisse vereinfacht. Haben wir so etwas nicht schon bei der globalisierungskritischen Bewegung gesehen?
Auf der rhetorischen Ebene gibt es sicher Parallele zwischen den beiden Bewegungen. Ähnlichkeiten sehe ich aber vor allem in den Organisationsformen und in den »multitudinären« Strukturen, durch die sich diese Kämpfe teilweise artikulieren. Allerdings richteten sich die Kämpfe, die 1999 in Seattle begannen, gegen die neoliberale Wirtschaftsordnung und ihre Machtzentren, die transnationalen Institutionen der globalen Finanzwirtschaft, die WTO, die Weltbank, den IWF und so weiter. Die globalisierungskritische Bewegung war nomadisch und transnational. Darin sehe ich den größten Unterschied zu dem, was wir in diesem Jahr gesehen haben. Die acampadas, die sich als Protestform etabliert haben, sind grundsätzlich sesshaft und verankert mit dem Territorium. Das ist ein Vorteil, zumindest was die Resonanz der Proteste anbelangt. Die Öffentlichkeit fühlt sich durch den territorialen Bezug leichter angesprochen und die Bewegungen sind dadurch präsenter in den Mainstream-Medien, die positiv darüber berichten. Das ist ein großer Unterschied zu den Proteste der No-Global-Bewegung, die sich durch ihre militanten Protestformen eher von der Gesellschaft abgrenzen wollten.

Aber die Figur des »gierigen Bankers« ist eine Projektion, die auch ohne nationalen Bezug wunderbar funktioniert.
Aber in den Protesten vom vergangenen Jahr wurde viel mehr artikuliert als der Hass auf Abstraktionen wie »die Reichen«, »die Banker« oder die »Spekulanten«. Seit den Revolten in Tunesien und Ägypten haben wir gesehen, dass sich die Bewegungen zumindest ideell aufeinander bezogen haben. Man versteht sich als Teil eines gemeinsamen Prozesses, ich würde es Kampfzyklus nennen, aber an den verschiedenen Orten wird ein nationaler Diskurs geführt. Die globalisierungskritische Bewegung artikulierte sich hingegen explizit international. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich in dieser Begrenzung auf Fragen der nationalen Politik einen Nachteil sehe, und habe noch keine endgültige Antwort darauf. Aber es ist sicher eine Herausforderung, der sich die Bewegungen früher oder später stellen müssen.

Auch die globalisierungskritische Bewegung hat die ungerechte Verteilung von Reichtum zur zentralen Frage gemacht. Heute betrifft Armut nicht mehr nur die Länder des »globalen Südens«, wie man sie damals nannte. In Ländern wie Griechenland, Spanien oder Italien sind ganze Bevölkerungsschichten verarmt.

Wie erklären Sie sich, dass der soziale Konflikt an­gesichts dieser Situation nicht eskaliert, wie in London im vergangenen Sommer?
Sie haben London erwähnt, aber ich würde mit den USA beginnen, und dann komme ich zu Europa. Die US-amerikanischen »Occupy«-Bewegungen haben zum Großteil auf das, was ich »Klischeegewalt« nenne, also militante Protestformen, verzichtet. Bei der globalisierungskritischen Bewegung gab es nach jeder Demonstration Diskussionen über zerbrochene Schaufenster, verbrannte Autos und verletzte Polizisten. Die »Occupy«-Bewegungen in den USA haben eindeutig nicht die politische Zerstörung von Eigentum als Kampfform gewählt, auch militante Antworten auf die Provokationen der Polizei, die teilweise ziemlich brutal vorging, blieben großteils aus.

Die »Occupy«-Bewegungen scheinen mir allgemein sehr diszipliniert zu sein. Ich kann nachvollziehen, dass die Bilder von friedlich demonstrierenden Studentinnen und Studenten, die mit Pfefferspray attackiert werden, bei vielen Linken in Europa auf Unverständnis stoßen, dafür gefallen sie der New York Times wahnsinnig gut.

Trotzdem kann man nicht erwarten, dass die disziplinierte »Occupy«-Bewegung angesichts der Verschärfung sozialer Konflikte auch die destruktiven Impulse der Gesellschaft auffangen wird.

Eskalationen wie in Großbritannien sind auch in anderen europäischen Ländern möglich. Wie geht man mit den Ausgegrenzten um, die lieber einen Nike-Store plündern, als ein Zelt auf dem Asphalt einer europäischen oder US-amerikanischen Metropole aufzuschlagen?
Wie ich vorhin sagte, tue ich mich schwer mit Verallgemeinerungen und noch schwerer mit Bewertungen, die so schnell moralisierend klingen. Es ist richtig, dass bestimmte Forderungen, die vor zehn Jahren vielleicht eher theoretisch diskutiert wurden, für viele Leute heute eine existentielle Dimension bekommen haben. Es gibt heute in den USA und in Europa vielleicht eine größere soziale Frustration, die sich potentiell gewaltsam entladen kann. Verwunderlich ist das nicht, und diese Impulse zu kriminalisieren, wäre auch falsch. Es ist nicht auszuschließen, dass die derzeitigen sozialen Bewegungen auch gewaltsame Momente erleben werden. Was wir in Großbritannien gesehen haben, war, wie Sie sagen, eine Explosion von Gewalt. Formen von direkter Aktion, die auf die organisierte Wiederaneignung von Eigentum abzielen, sehe ich allerdings in den aktuellen Bewegungen bisher nicht.

In den Debatten der sozialen Bewegungen ist das Thema der Wiederaneignung aber derzeit von zentraler Bedeutung.
Ja, aber es ist wichtig zu betonen, dass es darin um soziales Eigentum, um sozialen Wohlstand geht. Es wird dabei versucht, zwei Dimensionen zusammenzubringen: einerseits die Erfüllung konkreter, materieller Bedürfnisse jenseits des delegierenden Systems der politischen Repräsentation und andererseits die subjektive Umkehrung der Figuren, die von einem auf Schulden basierenden Wirtschaftssystem produziert wurden. Nicht die Negation steht hier im Mittelpunkt, sondern die Konstruktion neuer sozialen Beziehungen. Ich denke etwa an die italienische Kampagne für das »Recht auf Insolvenz«, die versucht, die subjektive, individuell und existentiell erniedrigende Position des Verschuldeten politisch zu artikulieren.

In vielen Camps beschäftigt man sich mit konkreten Fragen, die den Wohnraum, den Zugang zu natürlichen Ressourcen und öffentlichen Gütern oder die Privatisierungen im Bereich der Bildung und der Gesundheit betreffen. In den USA gibt es »Occupy«-Gruppen, die organisiert gegen Zwangsversteigerungen von Häusern vorgehen, deren Bewohnerinnen und Bewohner die Hypotheken nicht bezahlen konnten. Sie besetzen die Häuser und versuchen zu verhindern, dass diese wieder zum Eigentum der Banken werden. Es ist eine konkrete Aktion zur Bekämpfung des ungerechten Schuldensystems.

An der Puerta del Sol in Madrid war die moralische Empörung ein wichtiger Aspekt. Aber es gab dort auch konkrete Arbeit zu verschiedenen Themen, die das gemeinsame Leben einer Gesellschaft betreffen, von der Wohnpolitik bis zum Feminismus. Durch das gemeinsame Leben auf dem Platz werden politische Verhältnisse reflektiert, gleichzeitig verändert diese Erfahrung die einzelnen Subjektivitäten, die daran beteiligt sind. Denn durch das gemeinsame Leben auf dem Platz entstehen eine neue Kommunikation und neue soziale Beziehungen. Ich würde sagen, es entsteht dadurch Demokratie in Miniatur.

Die soziale Zusammensetzung der selbsternannten »99 Prozent« ist sehr heterogen. Sehen Sie darin die Materialisierung der »Multitude der Armen«, die Sie in »Commonwealth«, beschreiben?
In gewissem Sinne ja, aber wir müssen diese »Armen« als diejenigen begreifen, die in eine existentielle Lage gezwungen wurden, die von Unsicherheit und Armut gekennzeichnet ist. Wir reden also nicht von »Armen« im empirischen Sinne. Es geht nicht nur um die Skandalisierung bestehender Verhältnisse und die Solidarisierung mit denjenigen, die diesen Verhältnissen zum Opfer gefallen sind. Es ist wichtig, die Mechanismen, die zu ökonomischer Ungerechtigkeit und Verarmung führen, zu verstehen und umzukehren.

In dieser Hinsicht ist die Betrachtung der Organisationsformen, die die sozialen Bewegungen entwickelt haben, sehr nützlich. Sie basieren nicht auf Leadership, stattdessen wird mit Netzwerkformen experimentiert, wenn es um Prozesse der Entscheidungsfindung geht. Die Medien haben von Anfang an verzweifelt nach den Anführern im Hintergrund gesucht, und sie haben keine gefunden, die länger als ein paar Tage eine solche Position innehatten: In Ägypten war es zunächst El Baradei, dann der Google-Manager. Bei »Occupy Wall Street« wurde etwa David Graeber als Mastermind hinter den Protesten vermutet. Das zeigt nur, wie wenig die Medien über diese Bewegungen wussten, denn wer sie etwas genauer beobachtet hat, konnte feststellen, dass sie nicht nach diesen Regeln funktionieren.

Der Anthropologe David Graeber hat in seinem Buch »Debt. The First 5000 Years« Schulden als ein moralisches Prinzip beschrieben. Auch Sie haben die Krise unter diesem besonderen Aspekt analysiert und die Figur des Indebted, des Verschuldeten, als eine der sozialen Subjektivitäten, die von der kapitalistischen Krise hervorgebracht werden, charakterisiert. Wie entstehen die Verschuldeten?
David Graeber und ich sind nicht die einzigen, die sich mit den subjektiven Implikationen der kapitalistischen Krise beschäftigt haben. Der postoperaistische Soziologe Maurizio Lazzarato hat im vergangenen Sommer das hervorragende Buch »La fabrique de l’homme endetté« (»Die Fabrik des verschuldeten Menschen«, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Und auch der Ökonome Christian Marazzi (»Verbranntes Geld«, Zürich 2011, Anm. d. Red.) hat den Themenkomplex Schulden, Ethik und Moral analysiert und gezeigt, wie die Verbindung dieser Aspekte soziale Subjektivitäten hervorbringt.

All diesen Autoren, so wie mir auch, geht es dabei nicht nur um die objektive Analyse der Zusammenhänge, die zum ökonomischen Regime der Schulden führen, sondern auch darum, wie sich die Weigerung, Verschuldung als existentiellen Zustand und als kollektive moralische Schuld anzunehmen, artikuliert, und welches politisches Potential diese Weigerung hat. Der Slogan »Wir werden nicht für eure Krise zahlen«, so einfach er auch klingen mag, bringt diese Ablehnung auf den Punkt. Wir leben heute in einem System, in dem Schulden pervasiv und unvermeidlich sind. In gewisser Weise hat sich das kapitalistische System vom welfare zum debtfare entwickelt. Man kann nicht Teil der Konsumgesellschaft sein, ohne verschuldet zu sein, aber es geht längst nicht mehr um den Flatscreen-Fernseher, auch um die Grundbedürfnisse des Lebens zu erfüllen, müssen sich heute immer mehr Menschen verschulden. Deshalb bezeichne ich die Figur des Verschuldeten als universell.

In der sozialen Figur des Verschuldeten drückt sich unmittelbar die Ungleichheit aus, die in der aktuellen Phase der kapitalistischen Gesellschaft herrscht, nämlich die Ungleichheit im Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern. Was sind Schulden in diesem Zusammenhang? Sie sind nicht bloß ein ökonomischer Zustand, sie sind eine subjektive, soziale und vor allem, wie Grae­ber zeigt, eine moralische Angelegenheit. Sie sind eine wichtige Waffe in der Hand derjenigen, die die ökonomischen Prozesse bestimmen.

Wie wird diese Waffe eingesetzt?
Schulden haben zwei Aspekte: Individuell sind wir alle verantwortlich für unsere Kreditkarten, für unsere Fernseher, Autos, Häuser und so weiter. Es gibt aber auch eine kollektive Dimension der Schulden, die von den Banken, und jetzt sage ich mal abstrahierend, »den Reichen« geschaffen wurde, in der wir alle »unsere« Schulden zahlen müssen. Diese kollektive Dimension schafft soziale Beziehungen, darin funktionieren Schulden als moralisierendes und disziplinierendes Instrument. Im Deutschen drückt sich dies sogar sprachlich aus, da die ökonomischen Schulden nicht ohne den moralischen Aspekt der Schuld gedacht werden können.
Die Ablehnung der vom Schuldensystem geschaffenen moralischen Beziehungen erscheint mir als der zentrale Aspekte der Kämpfe, die wir im vergangenen Jahr in Europa und den USA gesehen haben. Daran müssen wir arbeiten.

Sie bezeichnen die von der Krise hervorgebrachten Subjektivitäten als funktional für das kapitalistische System und sagen gleichzeitig, dass die sozialen Kämpfe, die in diesem Jahr stattfinden, diese Subjektivitäten potentiell umkehren können. Worin besteht diese Umkehrung?
Zunächst in der Anerkennung und Benennung des Ungleichheitsverhältnisses, das ich eben erwähnt habe. Nämlich in der Ablehnung der moralischen Verantwortung, die ausschließlich dem Schuldner zugewiesen wird.
Die Umkehrung der sozialen Figur des Verschuldeten erfolgt nicht nach einem linearen Plan, wie die Kämpfe dieses Jahres gezeigt haben. Die Lösung liegt in der Praxis, im Experimentieren mit neuen Formen von sozialen Beziehungen. Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass die Abschaffung der oben genannten Beziehungen nicht Individualisierung und Fragmentierung bedeutet. Im Gegenteil, es geht darum, andere soziale Beziehungen und auch einen anderen Begriff von Verschuldung gelten zu lassen.

Es gibt noch einen Autor, den ich zitieren möchte, der sich dieses Jahr mit dem Thema Schulden befasst hat, der Literaturkritiker Richard Dienst. In seinem im April in den USA erschienenen Buch »The Bonds of Debt« argumentiert er mit einem Paradoxon: Nicht zu viele Schulden seien das Problem, sondern dass wir zu wenige haben. Selbstverständlich meint er eine andere Art von »Schulden«, die ohne Geld und demzufolge auch ohne Gläubiger und daher ohne Schuld auskommen. Er meint eine soziale Verantwortung, eine Art gesellschaftliche, auf Kooperation basierende »Schuld«, welche die sozialen Beziehungen, die vom Geld geschaffen werden, ersetzen könnte. Die Umkehrung, die ich meine, wäre ein gewaltiger kultureller, politischer und, ich würde fast sagen, anthropologischer Wechsel, der uns aus den verschuldeten sozialen und moralischen Beziehungen, unter denen wir derzeit leiden, führen könnte.

»Commonwealth« erschien im Jahr 2009. Darin stellen Toni Negri und Sie den Begriff der commons, der Gemeingüter vor, der heute zentral in den Debatten der sozialen Bewegungen ist. Fühlen Sie sich, als hätten Sie die Entwicklungen dieses Jahres vorausgesagt?
Nein, das glaube ich nicht (lacht). Wir sind alle an denselben Debatten beteiligt und teilen Vorstellungen, Hoffungen und Perspektiven. Toni und ich waren keine Wahrsager, wenn Sie das meinen, im Sinne, dass wir irgendwelche Wahrheiten »vor den anderen« erkannt und verkündet hätten. Spinoza hat eine wunderschöne Idee, was eine Prophezeiung ist: Er sagt, dass Propheten keine Verbindung zu Gott haben, sondern bloß eine ziemlich starke Imagination, die ihnen erlaubt, Alternativen zu denken. Wenn wir es so verstehen, dann kann man Toni und mich vielleicht auch als kleine Propheten bezeichnen.

Im Vorwort bezeichnen Sie das Buch als »ethisches Projekt« und in der Tat führen Sie darin eine ziemlich theoretische Debatte. Kritisiert wurde der Begriff der commons, wie seinerzeit der der »Multitude«, weil er vage und unbestimmt sei. Sehen Sie heute konkretere Perspektiven für die Weiterentwicklung der Debatte um die commons?
Ich habe schon darüber nachgedacht, als das Buch erschien und ich beim Klimagipfel in Kopenhagen war. Dort wurde über die materiellen Gemeingüter wie die Erde, die Luft, das Wasser, die Energieressourcen und so weiter und über die geistigen commons, Ideen, Kommunikation, Bilder und Kodizes, diskutiert. Die Debatten über die erste Gruppe von Gemeingütern waren darauf fokussiert, dass diese begrenzt sind und wie wir mit dieser Begrenztheit umgehen. Die Debatte über die geistigen commons war hingegen vom Gegenteil geprägt, also von der Idee, dass sie unbegrenzt seien. Eine der interessanten politischen Herausforderungen der vergangenen zwei Jahren war: Wie bringt man diese verschiedene commons zusammen in einem politischen Projekt, das auf Partizipation basiert?

Dieses Jahr haben die erfolgreichen Volksentscheide über die Privatisierung der Wasserversorgung und den Bau von AKW in Italien gezeigt, dass die Debatte über die commons das Potential hat, politische Prozesse zu beeinflussen. Ich bin davon überzeugt, dass das Management des kollektiven Reichtums jenseits des privaten und des staatlichen bzw. öffentlichen Eigentums angesichts der gegenwärtigen Krise eine Notwendigkeit ist, welche die kapitalistische Reorganisierung ernsthaft stören könnte.

Zum Schluss eine kleine Prophezeiung: Glauben Sie, dass die Umkehrung der auf Geld und Schulden basierenden sozialen Beziehungen gelingt, und vor allem, dass sie uns glücklicher machen könnte?
Ein Begriff von Glück, der aus der Französischen Revolution stammt, definiert es als einen kollektiven Zustand, der aus der Partizipation resultiert, heute würde ich es demokratische Kooperation nennen. Glück ist nicht als individueller, sondern nur als kollektiver Affekt möglich. Das bringt uns zurück zum Thema Schulden. Ein relevanter Teil der Arbeit in der politischen Theorie beschäftigt sich heute mit der Produktion politischer Affekte. Ich glaube, die sozialen Bewegungen, die wir in diesem Jahr gesehen haben, haben wichtige politische Affekte hervorgebracht und produktive Kräfte entfaltet. Diese Kräfte, und Glück ist eine der wichtigsten davon, sind eine Voraussetzung für die Entstehung neuer politischer und gesellschaftlicher Projekte.