In Hamburg wird der ­Altonaer Bicycle Club neu gegründet

Ein Radverein wird neu erfunden

In Hamburg haben historisch interessierte Fahrradenthusiasten den Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 wiedergegründet.

Gerade erst haben sie sich feierlich als Verein konstituiert, schon gibt es Ärger mit der Polizei: Ende 1869 teilt das königliche Polizeiamt in Altona den Mitgliedern des Eimsbüttler Velozipeden-Reit-Clubs unter Androhung von Bußgeldern und Gefängnisstrafen mit, dass sie mit ihren seltsamen Gefährten nicht auf Altonas Bürgersteigen fahren dürfen. Ein Rückschlag für den Club, denn auf den unbefestigten Straßen der preußischen Provinzstadt kann man mit den 40 Kilo schweren, eisenbereiften Zweirädern nur schlecht vorankommen – deshalb treten einige Mitglieder auch gleich wieder aus. Der Verein existiert aber weiter, man verlegt sich nunmehr auf Reigen- und Kunstfahren im Saal.
Gegründet am 17. April 1869, ist der Eimsbüttler Velozipeden-Reit-Club vermutlich der ers­te Fahrradverein auf dem Gebiet des späteren Deutschland. Die Gründer kommen aus Hamburg und Altona, können sich jedoch bei der Wahl der Vereinsbezeichnung nicht auf einen der beiden Ortsnamen einigen und wählen als Kompromiss das damals noch nicht zu Hamburg gehörende Eimsbüttel. Später sorgen die Altonaer Miglieder für die Umbenennung in Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, versehen mit dem Dicke-Hose-Zusatz »Aeltester Bicycle-Club der Welt«. Das stimmt nicht ganz, denn es gibt zum Beispiel in Wien einen Verein, der ein bisschen früher gegründet wurde – aber es klingt halt so gut! Die Velozipeden sind da bereits von den lebensgefährlichen Hochrädern abgelöst worden, die in England auch »Bicycles« genannt werden. 1894 kann der Altonaer Bicycle-Club (ABC) erstmals mehr als 100 Mitglieder verzeichnen. Ein Großverein wird er nie, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Der Club besteht bis 2001, dann wird ihm die Gemeinnützigkeit aberkannt, weil er kaum noch Mitglieder hat und kein Vereinsleben mehr stattfindet. Überraschend kam das nicht: Seit den fünfziger Jahren wurde Radball als die wichtigste Sparte des ABC betrachtet, und damit konnte man irgendwann niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken.
»Ich finde den Altonaer Bicycle Club faszinierend, weil sich an ihm die gesamte Geschichte des Radsports und auch der Wandel der Gesellschaft nachzeichnen lässt«, sagt Oliver Leibbrand. In seiner Magisterarbeit im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Uni Hamburg hat sich der 42jährige 2007 mit dem bürger­lichen Radsport im Deutschen Kaiserreich beschäftigt und stieß dabei auf den ABC. Ein Professor gab ihm im Scherz die Empfehlung, den Verein wiederzugründen. Gemeinsam mit ­einer Handvoll Mitstreiter hat Leibbrand das im August 2013 auch gemacht und ist nun erster Vorsitzender des Vereins: »Das Besondere ist, dass wir eine sportliche Komponente haben und uns gleichzeitig mit den kulturgeschichtlichen Aspekten des Fahrradfahrens beschäftigen.«
Den bislang etwa 15 Mitgliedern mangelt es nicht an guten Ideen, viele davon sind in ihrem inoffiziellen Vereinslokal, der Altonaer Arbeiterkneipe »Katz & Kater«, entstanden. Dort darf geraucht werden, das Bier ist billig und die Musik einigermaßen. Offenbar ein gutes Umfeld für die Entwicklung von Plänen. Wenn das Hamburger Museum der Arbeit ab Mai eine Aus­stellung zum Thema Fahrrad zeigt, stellt der ABC dort Sportarten wie Radball, Kunstrad­fahren und Radpolo vor, außerdem wird es eine Stadtteilrundfahrt mit Erläuterung der Vereinsgeschichte geben. Schon bald soll die 1894 erstmals gefahrene Strecke Haderslev-Hamburg wieder ins Leben gerufen werden. Haderslev liegt in Dänemark, der Brevet, wie man im Radsport eine Langstrecke nennt, wurde seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gefahren. »Damals war es eine nationalistisch geprägte Veranstaltung und eine regionale Leistungsschau norddeutscher Radfahrer«, sagt Lars Amenda, zweiter Vorsitzender des ABC. »Wir wollen daraus eine internationale Fahrt machen, bei der die Freude am Radfahren im Vordergrund steht.« Zurzeit erforscht der Historiker die Geschichte dieses Brevets, die Ergebnisse werden auf der Website des Vereins veröffentlicht. Dort sollen regelmäßig journalistische und wissenschaftliche Texte erscheinen, so beschäftigt sich Amenda ebenfalls mit dem Thema »Radfahrmotive auf Bildpostkarten«. Nebenbei hat er die Vereins-Band gegründet: »Wir wollen repetitive Musik spielen, die ans Fahrradfahren erinnert«, sagt er. Geplant ist außerdem eine Ausfahrt mit historischen Rädern. In Zusammenarbeit mit Schulen möchte man Jugendlichen zeigen, wie man Fahrräder repariert. »Wir sind ja trotz unseres Namens noch ein sehr junger Verein, und es ist jetzt für uns alle sehr spannend, was wirklich aus unseren zahlreichen Vorhaben wird«, sagt Oliver Leibbrand.
Es stellt sich die Frage, ob es für all diese Aktivitäten der Neugründung des Vereins bedurft hat. Schließlich stand der ABC in seiner Geschichte auch für reaktionäre Haltungen, eine positive Bezugnahme auf diese Zeiten dürfte schwer fallen. Die Gründerväter gehörten vor allem zum Wirtschaftsbürgertum und organisierten den ABC als Eliteverein. Bei der Wahl des Fortbewegungsmittels waren sie ihrer Zeit voraus, die politische Ausrichtung war aber vor allem konservativ, national, patriotisch. Zur schillerndsten und bekanntesten Figur der frühen Jahre gehört der Lehrer Gregers Nissen, der 1890 erster Vorsitzender wurde, weit über die Stadtgrenzen hinaus in diversen Verbänden Einfluss gewann und als Pionier des Radwanderns gilt.
Nissen setzte sich für den Bau von Fahrradwegen in Städten ein, forderte Radwanderstrecken in ganz Europa und einen freien Grenzübergang für Radfahrer. Außerdem entwickelte er gemeinsam mit dem Topographen Robert Mittelbach die ersten speziell für Radfahrer gestalteten Landkarten. Er selbst reiste mit dem Rad immer wieder durch Europa und veröffentlichte seine Erlebnisse in Büchern. Weniger inspirierend sind dagegen seine politischen Überzeugungen. So organisierte er zum Beispiel 1892 eine Huldigungsfahrt zum Sitz des ehemaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck, der im Sachsenwald bei Hamburg residierte. In den Jahren danach bekundeten die ABCler wiederholt ihre Kaisertreue und sahen das Fahrradfahren zunehmend als Möglichkeit, die Nation für Kriege zu stählen.
»Wir wollen uns auf keinen Fall in die politische Traditionslinie des Vereins stellen«, sagt denn auch Oliver Leibbrand. »Im Gegenteil: Wir werden unsere Geschichte kritisch und distanziert aufarbeiten.« Zu den ersten Schwerpunkten gehört nun die Auseinandersetzung mit der Rolle des Clubs im Nationalsozialismus. »Was die Mitglieder zwischen 1933 und 1945 gemacht haben, ist bislang nicht bekannt«, sagt Leibbrand. »Klar ist, dass Antisemitismus schon sehr früh auch im ABC verbreitet war. Es existiert zum Beispiel eine Satzung aus dem Jahre 1925, aus der hervorgeht, dass ab diesem Jahr nur noch »arische« Mitglieder aufgenommen wurden. Wir haben jetzt Zugang zu hoffentlich aussagekräftigen Quellen über diese Zeit und können mit der Arbeit beginnen.«