Youtube plant einen Musikstreamingdienst

Auf Tauchkurs

Ähnlich wie Spotify bietet Youtube künftig ein Abo-Angebot für Musikfans an. Labels, die sich nicht beteiligen wollen, droht der Ausschluss – Independent-Plattenfirmen protestieren.

Die Aufregung in der Musikindustrie (das ist jener Teil der Wirtschaft, in dem jede kleine Neuigkeit mit großer Verve als mindestens lebenswichtige Angelegenheit öffentlich diskutiert wird) ist groß: Der europäische Independent-Verband Impala (Independent Music Companies Association) fordert die Europäische Kommission auf, Youtube »aufgrund seines Verhaltens gegenüber Independents die rote Karte zu zeigen«, meldet der Musikmarkt. Was ist geschehen? Haben die Impala-Funktionäre den Stein der Weisen gefunden, um »Google zu zerschlagen«, wie es der ehemalige Popbeauftragte und jetzige Vorsitzende der SPD, Sigmar »Siggi Pop« Gabriel, vehement fordert? Steht das Ende des amerikanischen Konzerns kurz bevor, in die Knie gezwungen von den europäischen Indie-Davids?
Gemach. Die Realität ist viel einfacher und leider sind Medien und Öffentlichkeit einem Strohfeuer der Independentfunktionäre aufgesessen. Durch eine kleine Recherche hätte man das herausfinden können. Was also ist geschehen? Youtube plant einen neuen Musikdienst, ein kostenpflichtiges Streaming-Abo namens »Music Pass«, mit dem sich der Mutterkonzern Google auf dem heiß umkämpften digitalen Musikmarkt als ernstzunehmender Player positionieren will. Im Grunde ist Youtube ein Streamingangebot, das sich durch Werbeeinnahmen monetarisiert. Während Youtube aber ein weitergehendes Angebot darstellt, in gewisser Weise eine demokratische Plattform, auf der alle digitalen Inhalte – auch, aber nicht nur Musik – von mehr oder minder allen präsentiert werden können, ist der geplante »Music Pass« ein reiner Musik-Streamingdienst, der Plattformen wie Spotify, Deezer, Simfy und Co. Konkurrenz machen wird. Im Zuge der Planungen dieses neuen Streamingdienstes hat Google Vertragsverhandlungen mit allen Rechteinhabern – das sind in der Regel die Plattenfirmen – geführt und nach Angaben von Robert Kyncl, Youtubes »Head of Content and Business Operations«, in 95 Prozent aller Fälle erfolgreich zum Abschluss gebracht. Konkret haben alle großen Plattenfirmen, die sogenannten Majors, die neuen Youtube-Verträge unterschrieben, aber eben auch, anders als uns die Funktionäre von Impala und dem Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT) glauben machen wollen, die allermeisten der sogenannten Indies.
Es sind eine Menge inkompetenter Aussagen im Umlauf. Beispielsweise könnte man glauben, dass Impala oder der deutsche VUT direkt mit Google verhandeln. Das ist natürlich nicht der Fall. Google beziehungsweise Youtube verhandelt mit den Rechteinhabern, in der Regel also mit den Labels, direkt. Selbst die Firma »Merlin«, die nach eigener Aussage die Copyrights von mehr als 20 000 Independents weltweit verwaltet, vertritt in Verhandlungen mit Youtube keineswegs die Copyrights aller Mitgliedsfirmen – etliche Firmen bevorzugen es, selbst mit Googles Youtube zu verhandeln, und lassen sich nur fallweise von Merlin vertreten. So vertreten der deutsche VUT und der europäische Indie-Verband Impala keineswegs »die Indies«, also alle unabhängigen, kleineren Musikfirmen. Ganz im Gegenteil – gerade unter den kleinen Musikfirmen gibt es viele, die auf Verbände mit Funktionären und Gschaftlhuberei keine Lust haben und lieber »indie« bleiben wollen, also: unabhängig. Und dann gibt es nicht wenige Firmen, die zwar Mitglied beim VUT sind, die Politik des VUT-Vorstands jedoch in vielen Punkten nicht teilen, beispielsweise die gemeinsame Sache, die der VUT-Vorstand in Sachen Copyright mit Dieter Gornys Bundesverband der Musikindustrie macht, so, als ob die kleinen Musikfirmen und deren Künstler die gleichen Interessen hätten wie die den Weltmarkt dominierenden Universal, Sony und Warner.
Überhaupt, was ist heutzutage schon »Indie«? Angeblich haben die »Indie«-Plattenfirmen hierzulande derzeit einen Marktanteil von 30 Prozent. Selbst wenn diese Zahl stimmen sollte, bedeutet das nicht, dass die kleine Plattenfirma im Souterrain ums Eck (90 Prozent der VUT-Mitgliedsfirmen haben nur bis zu vier Beschäftigte) plötzlich Riesenumsätze macht, sondern nur, dass Großfirmen wie Beggars, die im Major-Stil etliche kleinere Labels aufgekauft haben und zu deren Katalog Künstler wie die Charts-Stürmerin Adele, aber auch zum Beispiel The National, Queens Of The Stone Age, Warpaint, The XX und Vampire Weekend gehören, aus irgendwelchen, wahrscheinlich historisch-sentimentalen Gründen immer noch zu den »Indies« und nicht zu den »Majors« gerechnet werden. In Deutschland sind Charts-Künstler wie Xavier Naidoo oder Cro oder die Schlagerrockband Die Toten Hosen »Indie«, und das zeigt recht deutlich, dass »Indie« relativ wenig bedeutet, auf jeden Fall aber längst keine wie auch immer geartete kulturelle Kategorie mehr ist. Das zeigt sich auch beim Personal – beispielsweise war der langjährige Leiter des VUT, Mark Chung, noch ein Jahr, bevor er VUT-Vorsitzender wurde, Senior Vice President des Majors Sony Music in London, und eine der schillerndsten Figuren der deutschen Musikwirtschaft, Christof Ellinghaus (»City Slang«), war mehrere Jahre EMI-Manager, während er heute im Vorstand der Indie-Verbände VUT und Impala sitzt. Und erfolgreich sind Indie-Plattenfirmen heutzutage sowieso nur, wenn sie sich der Strukturen und der Maschinerie von Major-Plattenfirmen bedienen – hierzulande werden viele der großen »Indie«-Künstler zum Beispiel vom Vertrieb des Branchenriesen Universal gehandelt, oder es gibt gleich direkte Major-Beteiligungen an kleineren Plattenfirmen.
Die Grenzen zwischen Majors und Indies sind längst durchlässig und fließend und die Narration von »Indies« als lauter sympathischen Davids, die im Mahlstrom der internationalen Musikindustrie die kulturelle Qualität und Vielfalt garantieren, ist nicht viel mehr als ein Marketing-Trick. Den Indies geht es wie den Majors um den bestmöglichen Deal, um den höchstmöglichen Profit. Einzig vor diesem Hintergrund sollte man die Prosa um »Youtube versus Indies« lesen. Es geht ums liebe Geld, nicht mehr, nicht weniger.
Impala vermutet, dass die Majors von Youtube deutlich bevorzugt worden seien. Dies scheint jedoch nicht der Wahrheit zu entsprechen. Das amerikanische Branchenmagazin Billboard hatte berichtet, dass Youtube den Rechteinhabern 65,5 Prozent seines Umsatzes zugesichert hat – 55 Prozent für die Labels, zehn Prozent für die Verlage und Verwertungsgesellschaften. Mittlerweile wurde ein Vertrag auf Digital Music News veröffentlicht, den Youtube einem US-Indie angeboten hat und der den Standard der Youtube-Indie-Verträge darstellen dürfte. Aus diesem Vertrag geht eindeutig hervor, dass die Indies die gleichen 55 Prozent erhalten wie die Majors (plus Geld für Verlage und Verwertungsgesellschaften) – wenn die Majors denn auch 55 Prozent erhalten sollten, wovon zwar auszugehen ist, aber das Musikgeschäft ist bekanntlich geradezu omertàhaft verschwiegen, alles unterliegt non disclosure agreements, also Geheimhaltungsvereinbarungen, weder Öffentlichkeit noch Künstler sollen erfahren, worum es wirklich geht. Mag also sein, dass die in Frage stehenden 65,5 Prozent des Umsatzes, die Youtube wohl den Rechteinhabern zahlen wird, etwas weniger sind als die knapp 70 Prozent, die On-Demand-Streamingdienste wie Spotify angeblich zahlen – wobei mir Brancheninsider gesagt haben, dass diese 70 Prozent wohl eher nicht der Realität entsprechen und die realen Zahlen auch bei Spotify und Co. etwas niedriger liegen dürften. Und ob sich die Indie-Verbände durch die derzeitige Debatte nicht selbst einen Bärendienst erwiesen haben, ist eine berechtigte Frage – denn es darf bezweifelt werden, dass andere Streamingdienste den Indies in Zukunft mehr als die 65 Prozent anbieten werden, die, wie man nun weiß, Youtube zahlt.
Wenn gut 95 Prozent aller Plattenfirmen weltweit den Youtube-Vertrag unterschrieben haben, dürften die Bedingungen alles andere als skandalös sein. Und nicht wenige unabhängige Plattenfirmen zeigen sich mit den von Youtube angebotenen Deals und Verträgen ausdrücklich zufrieden. Der britische Indie »Believe Digital« hält den Vertrag, den man nach sechsmonatigen Verhandlungen unterzeichnet hat, zum Beispiel ausdrücklich für »einen guten Deal«. »Der neue Vertrag beinhaltet einen signifikanten Anstieg des Einnahmeanteils aus UGC (user-generated content) für Tonaufnahmen«, urteilte das Unternehmen einem von The Verge veröffentlichten Memo zufolge. Und genau diese Nutzungsform ist demnach »im Moment die größte Einnahmequelle von Youtube«.
Und was ist dran an dem Aufschrei, dass Youtube die Videos der Indies sperren wolle? Wenig mehr als business as usual. Natürlich kann Youtube schon aus juristischen Gründen keine Musikvideos von Firmen anbieten, mit denen man keinen Nutzungsvertrag abschließen konnte. Das sollte gerade Musikkonzernen, die vom Streaming im Wortsinn profitieren wollen, klar sein. Und wie gesagt: Es handelt sich dabei um weniger als fünf Prozent des gesamten Materials. Auch auf Spotify oder Deezer kann man nicht jeden Track abspielen, manche Labels haben ihren Katalog eben nicht an diese Firmen lizenziert. Kann man deshalb davon sprechen, dass Spotify bestimmte Musikstücke »gesperrt« habe? Wohl kaum. Sie sind dort eben einfach nicht verfügbar, weil es die Künstler oder ihre Plattenfirmen nicht wollen.
Seit Google 2006 Youtube gekauft hat, hat der Konzern jedenfalls mehr als eine Milliarde Dollar an Anteilen aus seinen Werbeeinnahmen an die Musikindustrie ausgezahlt, ein Anteil, der sich Robert Kyncl zufolge in Kürze verdoppeln wird. Das Streaming ist längst ein großes Geschäft, der Anteil des digitalen Musikmarkts am Gesamtumsatz der Musikindustrie in den USA beträgt bereits 60 Prozent, weltweit immerhin 39 Prozent. Deutschland hinkt wie immer hinterher, Streamingdienste haben hierzulande nur einen Marktanteil von fünf Prozent (im Gegensatz zu 47 Prozent in Schweden), was im vergangenen Jahr 68,1 Millionen Euro Umsatz generiert hat.
Doch selbst in Deutschland wird immer mehr Musik gestreamt, jüngste Zahlen belegen, dass in der ersten Hälfte dieses Jahres die Streamingumsätze um 91 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen sind. Weltweit gab es im vergangenen Jahr etwa sechs Milliarden Musikstreams, mit deutlich steigender Tendenz. Spotify hat weltweit 40 Millionen User. Dies unterstreicht, dass der Markt beileibe noch nicht gesättigt ist. Und das ist die eigentlich spannende Frage im Zusammenhang mit Googles beziehungsweise Youtubes neuem On-Demand-Streamingdienst: Erfolgt die Markteinführung eines derartigen Dienstes vielleicht gar zu spät? Denn die Grundregel der digitalen »The winner takes it all«-Ökonomie besagt bisher, dass es eben einen Marktführer gibt, der seinen Markt uneingeschränkt dominiert – es gibt ein Ebay, ein Amazon, ein Facebook, ein Google. Freilich, eines haben wir auch gelernt: Wenn ein Großkonzern zu spät kommt, um ein Geschäftsmodell selbst erfolgreich zu entwickeln, dann kauft er sich das Ganze eben zusammen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass Spotify irgendwann von Facebook oder Microsoft oder möglicherweise sogar von Google gekauft werden wird.
All das hat für Deutschland auf absehbare Zeit keinerlei Relevanz. Denn wir leben bekanntlich im Gema-Land. Wie dank der fehlenden Einigung zwischen Gema und Youtube hierzulande nach wie vor viele Musikvideos gesperrt sind, so wird Youtube seinen Streamingdienst in Deutschland einstweilen nicht anbieten. Denn Youtube konnte zwar in ganz Europa mit allen Verwertungsgesellschaften Verträge schließen – nur eben mit der deutschen Gema nicht. Deutsche Nutzer, aber auch die hiesigen Musiker und sogar Plattenfirmen, schauen also weiterhin in die Röhre beziehungsweise auf einen leeren Bildschirm.