Die RAF und der Antisemitismus der militanten Linken

Fließende Grenzen

Das antiimperialistische Bezugssystem brauchte nach dem Ende der Blockkonfrontation neue Koordinaten. Der Antisemitismus war immer schon mehr als eine Begleiterscheinung der militanten Linken.

Am 23. September 1991 explodierte am Rand der Zufahrtsstraße zum Budapester Flughafen Feri­hegy eine Autobombe. Das Ziel war ein vorbeifahrender Bus mit russischen Juden, die über Ungarn nach Israel auswandern wollten. Der ferngezündete Sprengsatz verfehlte sein Ziel nur knapp. Vier Insassen wurden leicht, zwei Polizisten, die dem Bus vorausfuhren, schwer verletzt. Eine palästinensische Bewegung zur Befreiung Jerusalems bekannte sich zu dem Anschlag. Geplant hatte ihn jedoch Horst Ludwig Meyer, ein Militanter der Roten Armee Fraktion. Andrea Klump, die ebenfalls zum Umfeld der RAF gehörte, war an den Vorbereitungen beteiligt. Beide waren Mitte der achtziger Jahre mit Hilfe der RAF im Libanon untergetaucht, wo sie mit palästinensischen Organisationen zusammenarbeiteten.
Das Attentat von Budapest stand in einer langen Tradition. Nach der Niederlage im Sechstagekrieg 1967 war die arabische Kriegsführung zu einer Mischung aus spektakulären Einzelaktionen, Guerillakampf und unterschiedslosem Terror übergegangen. Dieser Strategiewandel fiel ebenso zufällig wie effektvoll mit den Debatten über den bewaffneten Kampf in der Bundesrepublik und Westberlin zusammen, die von der Neuen Linken im Zuge ihres Niederganges geführt wurden. Der Nahostkonflikt löste den Vietnamkrieg als einigenden Mobilisierungsfaktor ab. So stand nicht die Solidarisierung mit dem Vietcong, sondern mit dem palästinensischen Krieg gegen Israel am Beginn des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik: Am 9. November 1969, dem 31. Jahrestag der Pogromnacht von 1938, deponierte eine Vorgängerorganisation der Bewegung 2. Juni eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Westberlin. Der Zündmechanismus des Sprengsatzes versagte jedoch. Dem Anschlagsversuch war eine militärische Grundausbildung der Attentäter in einem palästinensischen boot camp in Jordanien vorausgegangen.

Die Zusammenarbeit wurde bald noch enger: Als die Terrororganisation Schwarzer September bei den Olympischen Spielen in München 1972 israelische Sportler als Geiseln nahm, half Wilfried Böse, ein Mitbegründer der Revolutionären Zellen, bei der Beschaffung von Quartieren. Im Juni 1976 kaperte ein gemeinsames Kommando der PFLP und der Revolutionären Zellen schließlich eine Air-France-Maschine, die von Paris nach Tel Aviv unterwegs war, und leitete sie nach Uganda um. Im Flughafengebäude von Entebbe wurden die jüdischen von den nicht-jüdischen Passagieren getrennt.
Dennoch besaß der Anschlag von Budapest eine neue Qualität. Die Westberliner Bombenleger des Jahres 1969 hatten in ihrer Irrlogik noch auf die symbolische Wirkung ihres Anschlags auf das Jüdische Gemeindehaus und das Datum des Attentats gesetzt; die Flugzeugentführungen, mit denen die Palästinenser nach 1967 hervortraten, dienten darüber hinaus zumeist dem Zweck, Häftlinge freizupressen. Bei dem Anschlag von Budapest war der Terror hingegen zum Selbstzweck geworden. An ihn war keine politische Forderung mehr gebunden. Die Attentäter setzten nicht mehr auf die symbolische Wirkung, sondern nur noch auf die Ermordung möglichst vieler Juden – die von Peter Nowak durchaus richtig als zentrales Ziel des Jihadismus ausgemacht wird (Jungle World 9/2013).
Auch die Forderung nach der »Befreiung Jerusalems«, auf die sich die Bombenleger von Budapest mit ihrem Namen bezogen, zeigt eine Verwandlung an. Sie steht für die Veränderung des antiimperialistischen Bezugssystems der Attentäter. Aufgrund der religiösen Bedeutung Jerusalems hatten Yassir Arafat und andere PLO-Führer in den siebziger Jahren nur selten von der Stadt gesprochen. Die zentrale Referenzgröße der Fatah, der PFLP und der DFLP war nicht der Islam, sondern der Panarabismus.

Zwar war bereits in dieser Zeit nicht zu übersehen, dass der arabische Kampf gegen Israel nicht allein von der Liebe zu dem schmalen Wüstenstreifen angetrieben wurde, der das Territorium des jüdischen Staates bildet. Im Gegenteil, die antisemitische Grundierung des arabischen Nationalismus scheint auf die deutsche Linke, die durch Israel an die Verbrechen ihrer Eltern erinnert wurde, sogar eine besondere Anziehungskraft ausgeübt zu haben: Die Existenz des jüdischen Staates behinderte in dieser Zeit, in der man noch nicht gelernt hatte, erinnerungspolitisches Kapital aus Auschwitz zu schlagen, die ersehnte Identifikation mit Deutschland. Dennoch dürfte die Zusammenarbeit dadurch erleichtert worden sein, dass der Panarabismus im sozialistischen Gewand auftrat.
Dieses Gewand war mehr als eine Verkleidung. Hierfür war weniger der Offiziersnachwuchs verantwortlich, der im Zuge der Dekolonisierung fast überall in der arabischen Welt die Macht übernommen hatte. Vielmehr war es ausgerechnet die Sowjetunion und das System der Blockkonfrontation, die dafür sorgten, dass die neulinke Verlagerung revolutionärer Sehnsüchte in den Trikont nicht ausschließlich projektiven Charakter hatte. Denn die Voraussetzung für die In­tegration in die Marktstrukturen der Zweiten Welt war nicht nur die Orientierung am marxistisch-leninistischen Befreiungsvokabular. Die trikontinentalen Handels- und Bündnispartner des RGW sahen sich zugleich dazu gezwungen, gewisse zivilisatorische Mindeststandards einzuhalten. So übte die Sowjetunion letztlich auch auf Bewegungen und Regimes, die sich aus ganz pragmatischen Gründen an ihrer Seite wiederfanden, auf Organisationen und Staaten etwa, die sich weniger als sozialrevolutionär denn als antiwestlich verstanden, einen mäßigenden Einfluss aus.

Schon im Zuge des Entspannungsprozesses der siebziger Jahre wurde dieses Weltbild brüchig. Durch das Ende des Kalten Krieges verlor es schließlich seine Realitätstauglichkeit. Der Untergang der Sowjetunion reaktivierte Konflikte, die auf die Vorgeschichte des Kalten Krieges verwiesen. Der RGW entfiel als Korrektiv; völkische, an­tiwestliche oder religiöse Elemente, die von der marxistisch-leninistischen Rhetorik ohnehin oft nur mühsam kaschiert worden waren, dominierten nun häufig offen die politische Programmatik und Praxis der Bewegungen und Nationalstaaten im Trikont.
Dieser historischen Situation verdankt der Jihadismus seinen Aufstieg. Der Bedeutungszuwachs, den Jerusalem seit den achtziger Jahren in der antiisraelischen Propaganda erhielt, steht für den Niedergang des arabischen Nationalismus. Die islamischen Anteile, die der Panarabismus stets hatte, traten an die Oberfläche. Zugleich ­sahen sich die jeweiligen Bewegungen nicht mehr dazu gezwungen, ihren Antisemitismus weltanschaulich zu legitimieren. Er rückte ganz offen ins Zentrum ihrer Aktivitäten.
In den Metropolen reagierte die Linke auf den Zerfall ihres bisherigen Bezugsrahmens mit Konfusion und Rückzug. Die Auflösung einer Gruppe der Revolutionären Zellen im Januar 1992 und die kurz darauf verschickte Deeskalationserklärung der RAF waren verspätete Reaktionen auf den Verlust der bisherigen Gewissheiten. Andere suchten Anschluss an den neuen Antiimperialismus im Trikont. Den neben Horst Ludwig Meyer und Andrea Klump konsequentesten Weg beschritten die Antiimperialistischen Zellen (AIZ), die sich in unmittelbarer Reaktion auf die Deeskalationserklärung der RAF gründeten. In einer ihrer ersten Stellungnahmen erklärte die Gruppe, den bewaffneten Kampf in den Metropolen fortsetzen zu wollen. Orientierten sich die AIZ anfangs an früheren Kommandoerklärungen der RAF, fanden sich in ihren Stellungnahmen bald Bezugnahmen auf Libyen oder islamistische Gruppierungen wie den Jihad Islami oder Gamaat al-Islamija. Nach ihrer Verhaftung im Februar 1996 traten die beiden einzigen AIZ-Mitglieder Michael Steinau und Bernhard Falk schließlich zum Islam über und bezeichneten sich fortan als die »ersten muslimischen politischen Gefangenen deutscher Na­tionalität«. In einer dreieinhalbstündigen Prozesserklärung ernannte Falk den Iran, Syrien und den Sudan zu Verbündeten der Linken im Kampf gegen den Imperialismus. Die drei »weltbeherrschenden Staaten«, die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik und Israel, seien nicht nur eine Bedrohung der Menschheit, sondern auch Feinde des Islam.

Zum Abschluss des Prozesses erklärte der zuständige Staatsanwalt die Antiimperialistischen Zellen zur »skurrilsten Erscheinung«, die die Linke je hervorgebracht habe. Damit umriss er zugleich das Koordinatensystem, in das die Gruppe einzuordnen ist. So waren Steinau und Falk zwar nicht unbedingt typisch für die deutsche Linke, auch bezog sich kaum jemand in der Linken positiv auf die AIZ. In ihren Stellungsnahmen sind deren Wurzeln im Weltbild der RAF-Unterstützerszene der achtziger Jahre jedoch deutlich zu erkennen. Der Übertritt zum Islam erscheint wie der Versuch, das antiimperialistische Wertesystem, das durch den Niedergang des Ostblocks in die Krise geraten war, durch Ankopplung an eine neue Bezugsgröße zu retten.
Die Aussage, dass der Jihad die RAF von heute ist, mit der Jan Fleischhauer, Richard Herzinger und andere jüngst aufwarteten, ist damit zwar nicht ganz richtig: Um zum »Heiligen Krieg gegen die Kreuzfahrer und Juden« übergehen zu können, von dem al-Qaida und der »Islamische Staat« sprechen, musste die Grenze zwischen zielgerichtetem Terror, wie er während des Kalten Krieges vorherrschend war, und dem terroristischem Selbstzweck des Jihadismus weltanschaulich oder praktisch überschritten werden. Da diese Grenze stets fließend war – insbesondere dann, wenn es gegen Israel ging –, ist die Aus­sage aber auch nicht ganz falsch.