Yascha Mounks Autobiographie »Echt, du bist Jude?«

Aber hier leben, nein danke

Allein unter Philosemiten: In seinem Buch »Echt, du bist Jude?« erzählt Yascha Mounk von wohlwollenden Deutschen,die ihn als Exoten behandeln.

Die ganze Misere begann für Yascha Mounk Anfang der neunziger Jahre. In der fünften Klasse, am ersten Tag auf dem Gymnasium im schwäbischen Laupheim. Um die Schüler für den Religionsunterricht einzuteilen, wollte der Lehrer von den Schülern wissen, ob sie katholisch oder evangelisch seien. Als Mounk an die Reihe kam, stammelte er: »Also, ich glaub, ich bin irgendwie … jüdisch?« Die ganze Klasse lachte, denn Juden gebe es doch gar nicht mehr.
Der Lehrer korrigierte die Schüler und sagte zu Mounk: »Wenn die anderen Reli haben, kriegst du eine Freistunde. In der Parallelklasse sind, glaub ich, ein paar Türken. Ihr könnt euch dann Gesellschaft leisten.« An diesem Tag ahnte Mounk zum ersten Mal, dass man ihm als deutschen Juden in Deutschland immer eine Sonderrolle zuweisen würde. Ein Eindruck, der sich in den anschließenden Jahren bewahrheitete und ihm das Leben hier dermaßen unangenehm machte, dass Mounk das Land verließ und vor knapp zehn Jahren nach New York zog. Er arbeitet als Dozent für Politikwissenschaft an der Harvard-Universität und schreibt als freier Autor für amerikanische und deutsche Zeitungen.
In seinem kürzlich erschienenen Buch »Echt, du bist Jude?« setzt der 33jährige sich in einer Mischung aus Biographie und politischen Exkursen mit den Ursachen für sein Unbehagen in Deutschland auseinander.
Zuerst erschien das Buch Anfang 2014 unter dem Titel »Stranger in my own country« in den USA. »Diskussionen über dieses Thema sind in Deutschland immer noch sehr verkrampft«, sagt Yascha Mounk beim Telefongespräch. »Ich dachte, wenn ich auf Englisch und zunächst für ein amerikanisches Publikum schreibe, dann kann ich meine Gedanken über die Probleme zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen freier formulieren.«
Bis zu dem Vorfall in der fünften Klasse spielte es für Yascha Mounk keine besonders große Rolle, dass er Jude ist. Religion, Tradition und Brauchtum waren bei ihm zu Hause nicht wichtig. Da er aber von seiner Umwelt als Sonderling, als Exot behandelt wurde, betonte er als junger Gymnasiast für kurze Zeit seine jüdische Identität. Aus Trotz, um sich zu wehren, um den Stolz nicht zu verlieren. Schon bald änderte sich das. Knapp zwei Jahre nach dem Erlebnis im Klassenraum zog seine Mutter, eine Dirigentin, mit ihm nach München. Wie Mounk schreibt, verband er große Erwartungen mit dem Ortswechsel. In einer größeren, kosmopolitischen Stadt würde er dazugehören: »Ich war mir sicher, endlich ein richtiger Deutscher sein zu können.«
Aber in München gab es für ihn ein anderes Problem, was dazu führte, dass Mounk sich schließlich immer seltener als Jude zu erkennen gab: Die Menschen waren ihm gegenüber auf­fällig wohlgesinnt und freundlich, wenn sie erfuhren, dass er Jude ist. Mounk macht Philo­semitismus als Ursache aus. Im Gespräch erklärt er seine damalige Gefühlslage: »Mit Unwissenheit, Ignoranz und Anfeindungen konnte ich umgehen, auch wenn es nicht immer leicht war. Die Erfahrungen mit Philosemitismus fand ich schwieriger. Man hat es da ja mit Menschen zu tun, die guten Willens sind. Die haben sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt und wollen nun beweisen, wie lieb sie die Juden haben. Aber selbst die Deutschen, die es gut mit mir meinten, definierten mich vollkommen als Juden – und traten mir gegenüber deshalb sehr befangen auf. Da wurde jedes Mal eine Komödie der Irrungen aufgeführt.«
In seinem Buch gibt er dafür gute Beispiele. Freunde, die plötzlich Loblieder auf die hebräische Sprache singen. Bekannte, die in seiner Gegenwart die Filme von Woody Allen nicht kritisieren wollen. Diese Anekdoten sind für den Leser schmerzhaft und unterhaltsam zugleich, sie veranschaulichen ein Dilemma, das ein gesellschaftliches ist. Und sie geben vielleicht dem ein oder anderen Wohlmeinenden Anlass, das eigene Verhalten zu hinterfragen.
Aber sind solche Erlebnisse wirklich immer mit dem starken Begriff Philosemitismus zu versehen? Vermutlich entspringen sie zum Teil auch einfach einer gewissen Verunsicherung, die angesichts der Shoa und der wenigen Begegnungen, die nichtjüdische Deutsche mit Juden haben, durchaus verständlich ist. Dass sie Mounk kolossal genervt und sein Leben negativ geprägt haben, bleibt gleichwohl nachvollziehbar.
Irritierend ist dagegen, dass er seine persönlichen Erfahrungen für allgemeingültig hält und den Eindruck erweckt, als sei der Philosemitismus in Deutschland ein weitaus größeres Problem als der Antisemitismus. So schreibt er an einer Stelle: »Obwohl es bis heute zur Genüge Antisemiten gibt, sind die wohlmeinenden, die betroffenen, ja sogar die schuldzerfressenen Philosemiten in der Überzahl.« Und an einer anderen: »Heute neigen die meisten Leute, die einem als deutscher Jude begegnen, eher zu einem Übermaß an Philosemitismus.«
Leider bringt Mounk zu diesem Punkt außer seinem persönlichen Empfinden keine Beispiele oder Fakten. Die Betonung des Problems Philosemitismus wirkt überzogen. Im Gegenteil hat sich doch der Antisemitismus in den vergangenen Jahren in seinen verschiedenen Spielarten verfestigt und ausgebreitet – von der antisemitisch geprägten Beschneidungsdebatte über die Mahnwachen und deren Hass auf die Rothschilds bis zur allgegenwärtigen Is­raelkritik, die sich als neueste Variante des Antisemitismus etabliert hat. Beängstigend waren vor allem die antisemitischen Exzesse im Sommer 2014. Angesichts der Gewalt und den bei jüdischen Gemeinden per Telefon und E-Mail in Massen eingehenden Hassparolen bezeichnete Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, die Wochen während des Gaza-Krieges als bedrohlichste Zeit seit 1945 und riet Juden, sich nicht als solche zu erkennen zu geben. All dies vernachlässigt Mounk in seinen Betrachtungen beziehungsweise erwähnt diese Aspekte erst gar nicht. So lesenswert und erhellend der biographische Teil seines Buches ist, eine akkurate und schlüssige Beschreibung der aktuellen Zustände liefert es nicht.
Mounks Zukunftsszenario mutet angesichts des verfestigten und weltweit verbreiteten An­tisemitismus allzu optimistisch an: »Juden in Deutschland werden sich nur dann zu Hause fühlen, wenn Deutschland zu einem pluralistischen, multiethnischen Staat nach Vorbild der USA und Kanada wird«, fasst er im Gespräch zusammen. »Je mehr man in Deutschland einen gesellschaftlichen Pluralismus akzeptiert, desto mehr werden Juden ein Aspekt dieses Pluralismus sein. Das ist ein langer Prozess, aber ich sehe Fortschritte. Als ich zur Schule ging, hatten fast alle meine Mitschüler deutsche Namen und eine deutsche Abstammung. Mittlerweile kommen Schüler aus allen möglichen Ländern, haben die unterschiedlichsten Hintergründe – die Anwesenheit eines Juden ist deshalb nicht mehr mit so viel Bedeutung überfrachtet, wie es noch bei mir der Fall war.«

Yascha Mounk: Echt, du bist Jude? Fremd im eigenen Land. Kein & Aber, Zürich 2015, 300 Seiten, 23 Euro