50 Jahre »Kulturrevolution«. Mao und die chinesische Gesellschaft

Keine Ruhe nach dem Sturm

Vor 50 Jahren, im Sommer 1966, rief Mao Zedong die »Große Proletarische Kulturrevolution« aus. Was als konventionelle Säuberungskampagne gegen einige Kulturschaffende begann, verwandelte sich binnen Wochen in eine Massenrevolte gegen den Parteiapparat. Bislang hat die chinesische Gesellschaft noch keinen Konsens darüber gefunden, wie Maos Massenbewegung zu beurteilen ist. Besonders im Internet tobt der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern weiter.

Es gibt zwei Arten von Chinesen: Die einen, die zur Kulturrevolution schweigen wollen, und die anderen, die von dem Thema besessen sind und gar nicht mehr aufhören können, darüber zu reden oder im Internet zu schreiben. Die Parteiführung versucht, offene Debatten zum Jahrestag zu unterdrücken. 1981 verurteilte die Kommunistische Partei (KPCh) die Kultur­revolution als »zehn Jahre Chaos« sowie »große Katastrophe für Volk und Partei« und wollte damit einen Schlussstrich ziehen. Auch viele ein­fache Bürgerinnen und Bürger unterstützen den »Schweigepakt«, da sie ­befürchten, alte Wunden wieder aufzureißen. Viele Familien waren während der Kulturrevolution in verfeindete Fraktionen gespalten. Auch Kader, die immer noch an der Macht sind, weigern sich aus Loyalität zur Partei häufig, über Erfahrungen ihrer Jugend zu sprechen.
Die Bewertung der Kulturrevolution ist auch deshalb so kontrovers, weil die Bewegung radikale Wendungen nahm und dadurch Gewinner zu Verlierern sowie Täter zu Opfern wurden. Die Ereignisse der Kulturrevolution kann man grob in vier Phasen einteilen. In der ersten Phase bildeten sich im Sommer 1966 Rotgardistengruppen, die mit Billigung Maos »akademische Autoritäten« und Kulturschaffende angriffen. In der zweiten Phase ab Herbst entwickelte sich eine neue Bewegung gegen die »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg« innerhalb der Partei. Nun revoltierten auch Arbeiter und große Teile der Stadtbevölkerung in Rebellengruppen gegen die lokalen Parteiapparate. In der dritten Phase, im Januar 1967, erfolgte in Shanghai die erste »Machtergreifung« der Linken. Fraktionskämpfe eskalierten gewaltsam im ganzen Land und Mao versuchte, mit Hilfe der Armee die Ordnung wieder herzustellen. 1968 übernahm die Armee in einer vierten Phase fast in allen Provinzen die Macht und alle unabhängigen Massenorganisationen wurden aufgelöst. Mit dem IX. Parteitag der KPCh 1969 begann die Restauration des Parteiapparats, dessen Kontrolle über die gesamte Gesellschaft Anfang der Siebziger wiederhergestellt werden konnte.
Dass der Kampf um die Bewertung immer noch weitergeht, hat auch damit zu tun, dass die offizielle, bis heute gültige Version der Geschichte wenig überzeugend ist. Ihr zufolge inszenierte Mao die Kulturrevolution nicht in böser Absicht, schätzte aber die Lage falsch ein, indem er behauptete, in der Partei gebe es »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg«. Die »konterrevolutionären Cliquen« um Maos Frau Jiang Qing und Verteidigungsminister Lin Biao sollen Maos Vertrauen ausgenutzt haben, um hinter seinem Rücken Verbrechen gegen Volk und Partei zu begehen. Mit der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping nach 1978 habe die Partei das Unrecht korrigiert und China wieder auf den richtigen Weg gebracht. Schätzungen zufolge wurden 2,4 bis drei Millionen Opfer der Kulturrevolution rehabilitiert, darunter fast alle führenden Parteifunktionäre und Intellektuellen. In einem Schauprozess wurden 1981 die »Viererbande« um Maos Frau sowie die Generäle um Lin Biao zu hohen Haftstrafen verurteilt. Bis Mitte der achtziger Jahre wurden zugleich systematisch die Aufsteiger aus der Zeit der Kulturrevolution und Anhänger der radikalen Fraktion, die Rebellen, aus der Partei ausgeschlossen.
Heutzutage ist sowohl die offizielle Version der Geschichte als auch die juristische Aufarbeitung der Kulturrevolution heftig umstritten. Insgesamt lassen sich vier Hauptströmungen ausmachen: Traditionalisten, Liberale, Neomaoisten und Neue Linke.
Traditionalisten: Zivilisationsbruch
Weit verbreitet ist die Ansicht, die Kulturrevolution habe die konfuzianisch geprägte chinesische Kultur und die menschlichen Beziehungen nachhaltig zerstört. Auch heutzutage hätten Gier, Korruption und Sittenverfall ihren Ursprung im »Zivilisationsbruch« der Kulturrevolution, als Mao Studenten und Arbeiter zur Rebellion gegen Autoritäten aufrief. Als Beispiele des damaligen »Wahnsinns« gelten, dass im August 1966 Schülerinnen ihre Lehrer zu Tode prügelten und Teile von Chinas kulturellem Erbe in Stücke schlugen. Mao sei es nur um seine Macht gegangen und er habe die Jugendlichen missbraucht. Nie wieder dürfe sich so etwas wiederholen. Die Wahrung der Stabilität sei deshalb für China von zentraler Bedeutung.
Die Darstellung der Kulturrevolution als zentralem Zivilisationsbruch ignoriert, dass das Land seit 1840 von einer regelrechten Gewaltgeschichte geprägt war, von ausländischen Interventionen, Kriegen, Bürgerkriegen, Hungersnöten und politischen Kampagnen. Außerdem gab es unter chinesischen Intellektuellen besonders seit der 4. Mai-Bewegung von 1919 eine starke Strömung, die mit der traditionellen Kultur hart ins Gericht ging und sie als Haupthindernis der Modernisierung ansah. Zu glauben, die chinesische Gesellschaft habe noch im Mai 1966 auf friedlichen und harmonischen Beziehungen beruht, ist eine naive Projektion. Die Tatsache, dass Chinesinnen und Chinesen sich gegenseitig furchtbare Grausamkeiten antaten, steht aber im Widerspruch zur Selbstwahrnehmung als große antike Zivilisation und Kulturnation. Daher gibt es in der Strömung der Traditionalisten die Tendenz, die Kulturrevolution als eine Art »Betriebsunfall« abzutun, der eine unvergleichliche Ausnahmesituation dargestellt habe.
Liberale: Denkanstoß mit Nebenwirkungen
Eine einflussreiche Strömung liberaler Intellektueller sieht die Kulturrevolu­tion generell negativ. Als ungeplanter Nebeneffekt habe der zeitweilige Zusammenbruch des Parteiapparats jedoch vielen die Augen geöffnet und kritisches Denken gefördert. In der »Volkskulturrevolution« von Herbst 1966 bis Januar 1967 hätten politisch und sozial marginalisierte Gruppen ihre Interessen kurzeitig artikulieren können. Aus enttäuschten Rotgardisten und Rebellen entstanden schließlich kritische Strömungen, die zunächst im Untergrund libertäre Ideen diskutierten und die bürokratische Diktatur der Partei in Frage stellten. Der »Pekinger Frühling« von 1979 sowie die Studentenbewegung von 1989 hätten hier ihren geistigen Ursprung.
Das negative Erbe der Kulturrevolution sei aber, so die Liberalen, dass die Gründe für die Begeisterung von Millionen Chinesinnen und Chinesen für ­einen kommunistischen Fundamentalismus nicht aufgearbeitet wurden. Die Lockerung der Kontrolle durch die Partei und die Zulassung von Debatten in den Jahren 1966/67 hätten die meisten Akteure nur genutzt, um sich gegenseitig zu bekämpfen und zu denunzieren. Eine wirkliche Demokratie könne es in China daher nur geben, wenn zivilgesellschaftliche Werte gestärkt und die Wiederkehr der »großen Demokratie« der Kulturrevolution in Form eines kommunistischen Fundamentalismus verhindert werde. Einige liberale Intellektuelle argumentieren, dass nur die Anerkennung einer pluralistischen Diskussionskultur, die unterschiedliche Auffassungen zur Kulturrevolution toleriert, eine Deeskalation bewirken kann.
Neomaoisten: Wunsch nach Wiederholung
Sowohl unter den liberalen Intellektuellen als auch unter den Neomaoisten befinden sich viele ehemalige Rebellen. Die Schlussfolgerungen, die sie aus ihren Erfahrungen ziehen, sind grundsätzlich verschieden. Eine Fraktion der Neomaoisten glaubt, dass die Entwicklung nach 1978 die Notwendigkeit der Kulturrevolution bestätigt habe. Mao habe das Volk gegen die korrupte »bürokratische Klasse« mobilisiert, um zu verhindern, dass China kapitalistisch werde. Sie bedauern, dass durch das Scheitern der Kulturrevolution diese »bürokratische Klasse« bis heute Arbeiter und Bauern ausplündere. Diese Neomaoisten sehen eine neue Kulturrevolution, eine Revolte des Volks gegen die »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg«, als einzige Möglichkeit, China zu retten.
Mit der offiziellen Version ist diese Strömung extrem unzufrieden, weil viele der Rebellen, die in Maos Namen kämpften, nach 1978 als »Konterrevolutionäre« aus der Partei ausgeschlossen wurden. Die Neomaoisten argumentieren außerdem, dass die Morde an Lehrern und die Zerstörung der Kulturgüter auf die Frühphase der Kulturrevolution im Juni und August 1966 fallen, als hohe Kaderkinder die Roten Garden dominierten und die Rebellenbewegung gegen den Parteiapparat noch gar nicht in Gang gekommen war. Die Parteiführung unter Deng hat in den achtziger Jahren die Rotgardisten der ersten Phase an den Mittelschulen weitgehend vor Strafverfolgung geschützt und stattdessen die Rebellen als Sündenböcke präsentiert. Mit dieser Strategie hätten die »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg« die Parteikarrieren ihrer eigenen Kinder gesichert, während die wahren Anhänger Maos marginalisiert worden seien.
Über ihre eigenen Gewalttaten gegen gestürzte Kader oder Anhänger gegnerischer Fraktionen sprechen die Neomaoisten, die selbst an der Kulturrevolution teilnahmen, dagegen selten. Sie inszenieren sich als die eigentlichen Opfer. Für die verfolgten Menschen während der kurzen Periode, als Rebellen an der Macht waren, also von 1967 bis 1969, empfinden neomaoistische Kreise in der Regel kein Mitleid. Viele Linke, die Maos Aufruf zur Rebellion folgten, endeten im Gefängnis, als die Armee 1968/69 wieder Ordnung herstellte. Die meisten ehemaligen Rebellen werfen diese Repression allerdings nicht Mao selbst vor, weil ohne die Unterstützung des Großen Vorsitzenden die Rebellion von 1966/67 überhaupt keine Legitimation gehabt hätte.
Neue Linke: Bezugspunkt gegen Neoliberalismus
Die akademisch dominierte Neue Linke wünscht sich keine Wiederkehr der Mao-Ära. Ihre Vertreter glauben jedoch, dass die »totale Verneinung« der Kulturrevolution in den achtziger Jahren zur Kritikunfähigkeit der Intellektuellen gegenüber Neoliberalismus und globalem Kapitalismus beigetragen habe. Sie befürworten eine kritische Wiederaneignung von positiven Aspekten, wie etwa die Arbeiterbeteiligung am Management – zum Beispiel die »Verfassung von Angang« –, das hohe Maß der Politisierung der Bevölkerung oder die soziale Ausrichtung von Gesundheits- und Bildungspolitik. Während der Kulturrevolution wurde der elitäre Charakter des Bildungs- und Gesundheitssystem, wie er vor 1966 vorherrschte, ständig kritisiert und es fand eine gewisse Ressourcenverschiebung von der privilegierten städtischen Bevölkerung auf die Dörfer statt. Auffällig ist, dass Vertreter der Neuen Linken sich zwar häufig auf einzelne Aspekte beziehen, aber selten empirische Forschung zur Kulturrevolution betreiben und ins Detail gehen. Die Debatte hat daher oft einen oberflächlichen Charakter und wenig Bezug zu geschichtlichen Entwicklungen.
Dunkle Flecken
Trotz aller heftigen Diskussionen gibt es auch sensible Themen, die selten angesprochen werden. Dazu gehört die Rolle der Volksbefreiungsarmee. Laut offizieller Version leistete die Armee ab 1967 einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes. Während es zum »roten Terror« vom Sommer 1966 viele Zeitzeugenberichte gibt, bleibt der »grüne Terror« von 1968 bis 1971 weitgehend ein Tabuthema. In einer ersten wissenschaftlichen Studie zur Zahl der landesweiten Todesopfer der Kulturrevolution schätzte Andrew Walder, Soziologieprofessor an der Stanford-Universität, im Jahr 2014 die Zahl auf 1,1 bis 1,6 Millionen Menschen. Die Mehrzahl wurde getötet, nachdem die Armee 1968 die Ordnung wiederhergestellt hatte, in Säuberungsaktion von oben und nicht während der Periode des Chaos und der Rebellion. Außerdem fanden mehrfach Massaker an unbewaffneten Zivilisten statt. Die Zeitzeugen wissen, dass sie beim Thema »Armee« eine Grenze der staatlichen Toleranz überschreiten.
Sprengkraft
Die Sprengkraft der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1968 bestand vor allem darin, dass sich ein Machtkampf in der Parteielite mit sozialen Konflikten in der Gesellschaft verband. Während an der Spitze der Parteivorsitzende Mao gegen den Staatspräsidenten Liu Shaoqi vorging, bildeten sich in Universitäten und Fabriken verfeindete Fraktionen, die sich erbittert und teilweise sogar mit Waffen bekämpften. Schaut man sich die heutigen Debatten im Internet an, braucht man nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass Gegner und Befürworter der alten beziehungsweise einer neuen Kulturrevolution aufeinander losgehen könnten. Die Wortgewandtheit, mit der der jeweilige Gegner diffamiert wird, steht der Rhetorik der Rotgardisten in nichts nach. Selbst die liberalen Intellektuellen beklagen, dass ihre Sprache noch von der Kulturrevolution geprägt sei.
Es sind nicht mehr nur die Zeitzeugen, die ihre alten Konflikte austragen. Liberale und linke Kritiker der Partei suchen in der Vergangenheit nach Ansätzen zur Systemkritik der Gegenwart. Die meisten beziehen sich positiv auf die antibürokratische Agenda der Kulturevolution, während nur wenige die damaligen Angriffe auf Lehrer oder Kulturgüter verteidigen. Neu ist, dass vor allem die neomaoistische Strömung unter Jugendlichen und Studierenden Anhänger findet und nicht nur unter entlassenen Staatsarbeitern, ehemaligen Rebellen und pensionierten Kadern. Diese jungen Menschen wissen oft wenig über die historischen Ereignisse und die Kulturrevolution dient als Gegenmodell zur kapitalistischen Gegenwart. Im Unterschied zu den westlichen Idealen der liberalen Intellektuellen kann sich der Neomaoismus als chinesische Alternative zur Krise verkaufen.
Die Führungselite unter dem derzeitigen Staatspräsidenten und Parteivorsitzenden Xi Jinping kommt hauptsächlich aus Familien, die Opfer des von Mao geleiteten Angriffs auf die Parteibürokratie wurden und nach 1978 die Reformpolitik unterstützten. Mittlerweile haben nicht mehr nur die Kinder dieser Familien einflussreiche Netzwerke in Politik und Wirtschaft aufgebaut, sondern sogar die Enkel. Xi versucht, bestimmte Aspekte von Maos Politik, wie dessen populistische Rhetorik, für seine Antikorruptionskampagne zu instrumentalisieren. Er verbreitet auch einen staatlichen Personenkult, um sich selbst als charismatischen Führer zu etablieren. In diesem Ausmaß hatte das noch kein Parteivorsitzender seit 1978 versucht. Unter den Neomaoisten gibt es auch eine Fraktion, die die Parteiführung von Xi unterstützt. Ihre Mitglieder hoffen, Xi werde China wieder auf einen sozialistischeren und nationalistischeren Weg führen als seine Vorgänger. Diese Neomaoisten lehnen daher eine neue Kulturrevolution ab und wollen sich bei der Parteiführung beliebt machen, indem sie Liberale im Internet ununterbrochen als »Vaterlandsverräter« angreifen und teilweise sogar deren Strafverfolgung fordern. Eine Wiederkehr der Kulturrevolution droht jedoch nicht, da die Führung um Xi eine selbständige Organisation der Massen gegen den lo­kalen Parteiapparat wie 1966/67 fürchtet. Die Parteiführung weiß, dass neben dem Wirtschaftswachstum die Garantie von Stabilität die wichtigste Quelle ihrer Legitimation ist. Die gegenwärtige Antikorruptionskampagne gleicht daher einer stalinistischen Säuberung von oben.
Die Heftigkeit der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Maos letzter Revolution zeigt jedoch, dass die Geister, die er mit der Parole »Rebellion ist gerechtfertigt« 1966 rief, noch lange nicht zur Ruhe gekommen sind. Das zentrale Problem, die unkontrollierte Herrschaft der »bürokratischen Klasse« über die Gesellschaft, ist nicht gelöst. Die derzeitige Korruption und der Machtmissbrauch durch Kader und Lehrkräfte übertreffen die Vorwürfe der Rebellen gegen die »Machthaber auf dem kapitalistischen Weg« von 1966 um Längen. Geldsummen in Höhe von Milliarden US-Dollar haben Angehörige der politischen Elite nach Panama und anderswo transferiert. Es ist in dieser Hinsicht schlimmer gekommen, als es sich Mao und seine radikalsten Anhänger 1966 vorstellen konnten. Sollte es ihr um eine ernsthafte Aufarbeitung ihrer Vergangenheit gehen, wird es die chinesische Gesellschaft nicht unterlassen können, auch Ungerechtigkeiten der Gegenwart zu thematisieren.