Fleisch bedeutet Begehren

Fleisch und Stein

Ist eine »kritische Theorie des Fleisches« überhaupt möglich? Ihre Spuren reichen bis in die zwanziger Jahre zurück.

Theorie eignet sich im wirklich theoretischen Sinn kaum zur Fleischbeschau, denn: »Fleisch« ist kein philosophischer Begriff. Trotzdem ist das Wort einem der erhabensten wie höchsten philosophischen Konzepte entgegengesetzt: dem Geist. Indes ist zwischen Fleisch und Geist – anders als bei Paaren wie »Leib und Seele« oder »Körper und Seele« – kaum eine wirklich dialektische Beziehung registriert worden. Mit der religiösen – zumal christlichen, aber auch buddhistischen – Geistüberhöhung ging immer schon die Fleischabwertung einher. Fleisch ist das Verderbliche, Verlorene. Die dazugehörige Urszene ist die Vertreibung aus dem Paradies. Die mit der menschlichen Aneignung der Gottesebenbildlichkeit vermittelte Erkenntnis besetzt das nackte Fleisch mit Scham: Fleisch ist fortan das Material oder das Medium des Begehrens, der Lust. Und damit wird Fleisch symbolisch – wie im Übrigen ebenso zahl­reiche religiöse Symbole »Fleisch werden«, das heißt, in der Fleischwerdung ihren Körper, ihre Stofflichkeit bekommen. Ganz und gar auch Jesus, bis zum Ritualhöhepunkt der Eucharistie, ­gemäß Paulus’ erstem Korinther-Brief: Jesus »sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch.«
Noch das Judentum denkt die Erlösung »sichtbar«, diesseitig; nach christlicher Lehre hingegen vollzieht sich die Erlösung im »geistlichen« Bereich, jenseitig – und nur so ist auch die Auferstehung des Fleisches vorstellbar. Ansonsten steht Fleisch für das irdische Leben. Und bleibt auf das irdische Leben beschränkt: Es ist Nahrung, nur in wenigen Fällen wirklich giftig, und doch klar unterschieden – je nach Tierart und ­deren Stellung im Stammbaum der Evolution – in genießbar und ungenießbar. Kochen, Schmoren und Braten machten schließlich aus dem Genießbaren den richtigen Genuss. Umgekehrt ­verweisen Sprüche wie »in der Hölle schmoren« auf die Feuerqualen, die dem Fleisch zugefügt werden können. Dazu gehört auch, gerade im Christentum, das Fleisch der Toten, die »irdischen Überreste« der »leiblichen Hülle« zu verbrennen.
Das Fleisch hält die Organe zusammen und ist selbst eine Art organisches Symbol. Und zwar bis dahin, dass es üblich ist, vegetarische und vegane Produkte als Fleischnachbildungen – Wurst und Kotelett – herzustellen: Fleisch ist mein Gemüse. Insofern sind Menschen Karnivoren, und zwar in einem durchaus mit vegetarischer Ernährung zu vereinbarendem Sinn: Solange keine ­Tiere zu Schaden kommen, ist gegen »Fleisch« – in der von den Tieren her bekannten Form und Farbe – ja gar nichts einzuwenden. Sehr lecker auch: Marzipanschweinchen, ebenso wie verschiedene Schokoladentiere. Das Auge isst mit, auch das geistige Auge; und der Geist ist ohnehin ein guter Esser. Er ernährt sich weitgehend von Symbolischem, und selbstverständlich ist seine am stärksten symbolisch auf- und zubereitete Nahrung eben Fleisch. Über das Symbolische wird das Fleisch selbst angereichert, bekommt etwa über die symbolische Bedeutung von Leben und Tod seine Würze.

»Soylent Green ist Menschenfleisch!«

Die Extreme solcher fleischgewordener Symbolik versus Fleisch als Symbol ­sehen etwa so aus: In israelischen Laboratorien ist es jüngst gelungen, künst­liches Fleisch in der Retorte zu produzieren (siehe Seite 4). Andererseits gibt es die Science-Fiction, die etwa im Film »Soylent Green« (USA 1973, Regie: ­Richard Fleischer) für das Jahr 2022 so entworfen wird: Die Erde ist überbe­völkert, allein in New York leben 40 Millionen Menschen. Es gibt nicht mehr ausreichend Nahrung, zumal Tiere so gut wie ausgestorben und die bisherigen Nutzpflanzen vernichtet sind. Gegessen werden Soylent-Produkte, wie das angeblich aus Algen hergestellte Solyent Green. Doch: »Soylent Green ist Menschenfleisch!« schreit die Hauptfigur am Ende des Films. Es wird her­gestellt aus menschlichen Kadavern; wer nutzlos ist, wird getötet und kommt in die Maschine.
Fleischproduktion nach perfektionierter Verwertungslogik nahm ihren Anfang im 19. Jahrhundert, als die ­lebendenden Tiere mit der Eisenbahn in die Schlachthöfe von Chicago und Detroit verfrachtet und zu Frischfleisch verarbeitet wurden, um das städtische Industrieproletariat bei der Stange zu halten. 
Dass hier fiktiv wie real die Symbolik des Fleisches im Kontext der Stadt verdichtet, verändert und verfremdet wird, kommt nicht von ungefähr. In eben solchem übertragenen Sinn hatte ­Richard Sennett über »Flesh and Stone«, also »Fleisch und Stein« geschrieben. In seinem 1994 erschienenen Buch geht es dem US-amerikanischen Soziologen um den menschlichen Körper in der Stadt und die Stadt als Körper. »Fleisch und Stein ist eine Geschichte der Stadt, die durch die körperlichen Erfahrungen der Menschen hindurch erzählt werden soll«, schreibt Sennett. »Ich habe dieses Buch geschrieben, weil mich ein Problem unserer Zeit vor ein Rätsel stellte: die Verarmung der Sinne, die das moderne Bauen wie ein Fluch zu verfolgen scheint.« Die Gegenüber­stellung von Fleisch und Stein ist Sennett dafür eine Metapher. Seine ­Geschichte beginnt im alten Athen und endet im New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Sennett resümiert: »Damit Menschen in einer multikul­turellen Stadt sich einander zuwenden, müssen wir, so glaube ich, das Verständnis, das wir von unseren eigenen Körpern haben, verändern. Wir werden die Differenz anderer niemals erfahren können, solange wir nicht die körper­lichen Unzulänglichkeiten in uns selbst anerkennen.« 

Die Stadt als Körper

Dem Vorhaben, die – nicht nur – körperlichen Unzulänglichkeiten in sich selbst zu erkennen, statt sich in ohnmächtig-stumpfer Allmachtsphan­tasterei faschistisch zu überhöhen, läge als Prinzip ein gewisser Kannibalismus zugrunde. In einer Ausgabe von Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften von 1993 heißt es: »Brauchen wir einen neuen Antifaschismus?« Hier schreibt Zygmunt Bauman über »Rassismus, Antirassismus und moralischen Fortschritt« und referiert gleich zu Beginn seiner Erwägungen mit Hochschätzung aus den »›Traurigen Tropen‹, einer der eindringlichsten, schönsten und gedankenreichsten anthropologischen Arbeiten, die je geschrieben worden sind«. Claude Lévi-Strauss unterscheide zwei Strategien im Umgang mit dem Fremden, gerade auch dem Fremden, das gefährlich scheint: »Primitive« ­Gesellschaften haben demzufolge eine »anthropophagische« Strategie, »sie essen, verschlingen und verdauen (integrieren und assimilieren biologisch) die Fremden, die gewaltige, mysteriöse Kräfte haben.« Baumann schreibt ­weiter: »Im Gegensatz dazu verfolgen wir eine anthropoemische Strategie (aus dem griechischen eméô, sich erbrechen): Wir speien die Gefahren­träger aus und entfernen sie aus dem Raum, in dem das geordnete Leben stattfindet; wir sorgen dafür, dass sie außerhalb der Gesellschaftsgrenzen bleiben – entweder im Exil oder in bewachten Enklaven, in denen sie sicher eingesperrt werden können, ohne Hoffnung auf Entkommen.«

Der Geist ist ein guter Esser. Er ernährt sich weitgehend von Symbolischem, seine am stärksten symbolisch auf- und zubereitete Nahrung ist eben Fleisch.

Die anthropophagische Strategie hat sich mithin nicht nur biologisch, sondern auch kulturell etabliert, und zwar ebendort und mehr oder weniger in derselben Zeit, in der Lévi-Strauss für ­seine Forschungen den Amazonas bereiste: nämlich in Brasilien. Der Schriftsteller Oswald de Andrade hatte in den zwanziger Jahren zwei Manifeste geschrieben, die diese anthropophagische Strategie als Strategie des brasilianischen modernismo schlechthin definieren. Im zweiten Manifest von 1928 ist das sogar titelgebend: »Manifesto antropófago«, das »Anthro­pophage Manifest«. Darin schreibt Andrade: »Nur die Anthropophagie ­vereint uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch (…) Wir wollen die Karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Vereinigung aller Revolten, die dem Menschen dienen (…) Selbsterhaltung. Erkenntnis. Anthropophagie (…) Der Geist weigert sich, einen Geist ohne Körper zu denken. (…) Wir wurden niemals katechisiert. Stattdessen machten wir Karneval. Der Indio im Gewand des kaiserlichen Senators.« 

Fleisch bleibt Lust

Was Andrade hier entfaltet, in einer Sprache, die er in dem anderen, ersten Manifest »Pau-Brasil-Dichtung« nennt, trägt Züge einer kritischen Theorie des Fleisches, die selbst, als Theorie, vor ihrem kannibalischen Begehren nicht Halt macht – eine Theorie, die Antitheorie bleiben muss, die das Fleisch verehrt, indem sie es isst, nein frisst, verschlingt. Entscheidend ist der Fleisch gewordene Affront gegen den Geist – und zwar gerade in seiner symbolischen Konsequenz. Kultur ist Fleisch, ist irdisch, nicht geistig oder gar geistlich überhöht; und dieses Fleisch bleibt Lust, wie auch das anthropophagische Begehren, sich das symbolische Kulturfleisch einzuverleiben, als oberstes Prinzip dem Lusttrieb folgt. Der anthropoemischen Angst, die sich nur auskotzen kann und sich an der Reinheit des eigenen Fleisches selbst mästet, ist das vollends entgegen­gesetzt.
Die Lust eines solchen Anthropophagismus scheint vergangen; der sym­bolische Kannibalismus setzt sich kritisch höchstens mit dem Beigeschmack des Ekels fort, kulturindustriell unterhaltsam gefiltert etwa im Zombie-Kino von George A. Romero oder in den ­Verfilmungen von Jack Finneys Roman »The Body Snatchers«, schließlich in besonders raffinierter Weise, weil das fremde Fleisch hier von außen und ­innen gleichermaßen kommt und sich unseres Fleisches parasitär-kannibalisch bemächtigt, in Ridley Scotts »Alien«.
Dieser mit Ekel besetzte Kannibalismus konterkariert schließlich eher ein europäisches christliches Motiv, das eben in der Eucharistie seinen Ausdruck findet: Zum Ritual, Brot und Wein als Leib und Blut Christi zu sich zu nehmen, gehört – paradox anmutend –, wie ­Sennett erläutert, der »Widerstand gegen das Aufwallen körperlicher Energie, das durch Brot und Wein ausgelöst wurde. So predigte Origenes, dass die Seele triumphiere, wenn die Sinne nichts schmeckten.« Der kannibalische Ekel wäre insofern nur die Kehrseite der christlichen Vergeistigung. Die Wiederaufnahme des symbolischen ­Anthropophagismus ermöglichte dagegen als Eintrag auf der Speisekarte: das große Fressen, das alle versteinerte Kultur im Fleisch, dessen Lust und dessen Genuss, lebendig macht.