Der Dokumentarfilm »Where to, miss?« erzählt die Geschichte einer durchsetzungs­willigen Frau

Jeans statt Sari

Der Dokumentarfilm »Where to, Miss?« erzählt von einer jungen Frau, die in Delhi als Taxifahrerin arbeiten möchte – und sich gegen die Männer in ihrer Familie durchsetzen muss.

Die Führerscheinprüfung wird zum Albtraum: Die junge Inderin Devki Verma ist nervös, folgt den Anweisungen des Prüfers nicht und steht am Ende tränenüberströmt an irgendeinem Straßenrand. Durchgefallen! Dabei will sie in Delhi doch unbedingt als Taxifahrerin arbeiten. Und zwar nachts, bei einem Unternehmen, das nur Frauen befördert. Denn für Frauen kann es in Delhi vor allem bei Dunkelheit gefährlich werden, viele gehen nach Sonnenuntergang nicht auf die Straße. Aus Angst oder weil es ihnen verboten wird. Ohnehin ist es nicht in erster Linie die Prüfung, die Devki Probleme bereitet. Es sind die Männer ihrer Familie, die ihr ­immer wieder Hürden in den Weg legen und das Taxifahren verbieten wollen – der Vater, der Ehemann, der Schwiegervater.
Von Devkis Kampf für ihren großen Traum erzählt Manuela Bastians ­Dokumentarfilm »Where to, Miss?«. Gemeinsam mit einem kleinen Team reiste die deutsche Filmstudentin ­jeweils für vier Wochen im März 2013, 2014 und 2015 nach Indien und ­begleitete Devki mit der Kamera. Ursprünglich hatte sich die heute 29jährige ihr Vorhaben anders vorgestellt, weniger aufwendig. Die ­gesellschaftlichen Zustände und die Entwicklungen im Leben ihrer Pro­tagonistin zwangen sie wiederholt, ihr Filmprojekt und den Zeitplan zu ­revidieren. Es hat sich gelohnt. »Where to, Miss?« liefert einen differenzierten Einblick in die patriarchalischen Strukturen der indischen Gesellschaft – und erzählt die inspirierende Geschichte einer durchsetzungs­willigen Frau. Die Herausforderungen und Probleme, mit denen Devki konfrontiert wird, dürften auch Frauen in anderen Ländern bekannt vorkommen.
Die Idee zu ihrem Dokumentarfilm entwickelte Manuela Bastian nach den Geschehnissen im Dezember 2012. Damals wurde die 23jährige ­Inderin Jyoti Singh Pandey in einem fahrenden Bus von sechs Männern ver­gewaltigt und gefoltert, knapp zwei Wochen später erlag sie ihren Ver­letzungen. Die Tat in Delhi sorgte für Proteste in Indien, international berichteten Medien darüber. »Ich habe die Berichterstattung damals intensiv verfolgt und hatte den Eindruck, dass die Lage der indischen Frauen überwiegend als komplett hoffnungslos dargestellt wurde«, sagt Bastian. »Es ist selbstverständlich wichtig, das Problem in den Medien zu analysieren. Allerdings sollte man nicht nur die negativen Seiten betonen, sondern auch Denkanstöße zur Verbesserung der Situation von Frauen ­geben und Menschen zeigen, die einen anderen Weg gehen. Ich wollte ­etwas gegensteuern und eine ­Geschichte erzählen, die Hoffnung macht.« 
Im Winter 2007/08 war Bastian, direkt nach dem Abitur, gemeinsam mit einer Freundin drei Monate durchs Land gereist. »Während dieser Zeit haben sich Fragen aufgetan, auf die ich Antworten haben wollte«, sagt Bastian. »Wir trafen zum Beispiel viele Mädchen, die nicht zur Schule gehen dürfen, weil sich der ­finanzielle Aufwand nicht lohnt, da sie nach der Hochzeit zur Familie des Ehemannes gehören. Ich fand es merkwürdig, dass auch gebildete Frauen solche Benachteiligungen offenbar völlig normal fanden, und wollte wissen, ob es Widerstände dagegen gibt.« Sie traf auf die Gulabi Gang, einen Zusammenschluss von Frauen, die mit Schlagstöcken bewaffnet sind und sich im Norden Indiens für die Rechte von Frauen ­einsetzen. Ihr widmete sich Bastian in ihrem ersten Dokumentarfilm »Kampf in Pink«, der 2011 erschien.
Für »Where to, Miss?« kontak­tierte Bastian eine Nichtregierungsorganisation, die Frauen zu Taxi­fahrerinnen ausbildet. Bei Drehbeginn gab es in Delhi gerade mal 13 Taxifahrerinnen. Zum Ausbildungsprogramm gehören neben dem ­Autofahren und den Verkehrsregeln auch die wichtigsten Sätze auf ­Englisch sowie ein Kurs in Selbstverteidigung. Bei einer dieser Schulungen traf Bastian auf Devki, die Witz und Selbstbewusstsein ausstrahlte und sofort bereit war, sich für einen Dokumentarfilm begleiten zu lassen. Der Film gewährt überraschend direkte Einblicke in ihr Alltagsleben, dazu gibt es einige Interviews mit Freunden und Mitgliedern ihrer Familie. Lehrreich sind vor allem die unverblümt frauenfeindlichen Ansichten vieler Männer. Auf erklärende Kommentare per Voice-over hat Bastian verzichtet. Hin und wieder wären diese zur Einordnung der Ereignisse in den gesellschaftlichen Kontext des Landes hilfreich gewesen.

Bei Drehbeginn gab es in Delhi gerade mal 13 Taxifahrerinnen. Zum Ausbildungsprogramm gehört auch ein Kurs in Selbstverteidigung.

Devki war bereits zwangsverheiratet, konnte die Verbindung aber ­lösen und lebt zu Beginn des Films wieder bei ihrer Familie. Ihr Vater will nicht, dass seine aufmüpfige Tochter Taxi fährt, und hat sie bei den Auseinandersetzungen über dieses Thema schon geschlagen. Die Diskussionen im trostlosen Wohnzimmer wechseln sich mit wilden und verträumten Szenen aus dem Straßenverkehr ab. Gedreht wurde überwiegend in der Dämmerung oder nachts. Als Devki durch die erste Prüfung fällt, verheimlicht sie das vor ihrem Vater. »So konnte ich meinen Film auf keinen Fall enden lassen, das wäre zu deprimierend gewesen«, sagt Bastian. Die inhaltliche Ausrichtung des Films hatte zu diesem ­Zeitpunkt ohnehin schon eine Wendung erfahren: »Eigentlich wollte ich mich auf ihre Ausbildung zur Taxifahrerin sowie ihre Erlebnisse bei der Arbeit konzentrieren. Aber mir wurde schnell klar, dass etwas anderes viel interessanter ist, nämlich zu zeigen, gegen welche Widerstände innerhalb der Familie sie kämpfen muss, um ihr Ziel zu erreichen.«
Das zweite der drei Filmkapitel beginnt ein Jahr später. Devki hat die Prüfung bestanden, sie arbeitet als Taxifahrerin. Außerdem hat sie einen neuen Freund, den sie sich selbst ausgesucht hat. Das Paar will heiraten. Gemeinsam reisen beide zu seiner Familie in die Berge von Garhwal. Dort muss Devki sich traditionell kleiden, einen Sari tragen, obwohl sie Jeans und T-Shirt bevorzugt. Bald schon zeigt sich, dass ihr neuer Freund keineswegs fortschrittlich orientiert ist. »Es gibt zwei Arten von Frauen«, sagt er in einer Interviewpassage. »Die einen denken darüber nach, wie sie die Familie erhalten, die anderen, wie man sie zerstört.« Devki solle ihren Beruf aufgeben und Kosmetikerin werden. Die Frauen aus dem Dorf starren die Neue an, als käme sie vom Mars. Nicht nur geographisch rückt der Taxijob in weite Ferne. 
Ein weiteres Jahr später, im dritten Kapitel des Films, hat Devki einen Sohn bekommen. Sie lebt die meiste Zeit bei der Familie ihres Mannes, während er in Delhi arbeitet. Ihr neuester Gegenspieler ist ihr Schwiegervater. »Ich lasse sie nirgendwo hin­gehen, sie wird hier bei uns bleiben«, spricht er in die Kamera und lacht bösartig. Devki ist eine Gefangene. Aber sie gibt nicht auf, sondern sucht nach Möglichkeiten und Verbündeten, damit sie wenigstens ab und zu in Delhi hinter dem Steuer sitzen kann. 
Gegen Ende von »Where to, Miss?« fasst sie die Geschichte ihres Lebens prägnant zusammen: »Früher nannten mich alle Tochter von Harischchandra. Nach der Hochzeit nannten sie mich Frau von Badri. Heute ­werde ich nur noch Aayushs Mutter genannt. Dabei möchte ich einfach nur Devki sein.«

»Where to, Miss?« (D/IN 2016). Regie: ­Manuela Bastian. Kinostart: 19. Januar