Vertriebene kolumbianische Bauern kehren auf ihr Land zurück

Rückkehr auf eigene Faust

Das Friedensabkommen löst die Landfrage in Kolumbien noch nicht. Viele Bauern wurden in dem jahrzehntelangen Konflikt von ihren Feldern vertrieben. In dem kleinen Dorf Macondo in Kolumbiens Bananenregion Urabá haben einige Bauern ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und sind zurückgekehrt. Fast 20 Jahre nach ihrer Vertreibung haben die ersten ihr Land auch offiziell zurückerhalten.

Die Zettel mit den Nummern seiner Anträge auf Landrückgabe trägt Sigifredo Bravo Pertuz meist bei sich. »Gleich dreimal wurde ich von den Paramilitärs vertrieben und immer wieder habe ich neu angefangen. Hier hat alles begonnen«, sagt der schlanke Mittvierziger, der gerade mit einer Tasse Kaffee aus der Küche seines Freundes José María Calle gekommen ist. Calle ist einer der wenigen Bauern aus dem kleinen Dorf Macondo, der seine Farm von den Richtern zurückerhalten hat. Das sei im Juli 2016 geschehen und seitdem herrsche unter den Kleinbauern, die im Laufe der vergangenen Jahre zurück auf ihr Land gekommen sind, so etwas wie Euphorie, erklärt Pertuz. Er gehört zu denen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass sie das Land, das sie urbar gemacht haben, anderen überlassen mussten. Pertuz will sein Recht, hat seine wichtigsten Dokumente meist dabei und ist im stetigen Kontakt zu Anwälten und den Mitgliedern der Landrechtsorganisation »Tierra y Paz«, die ihre Zentrale in Apartadó hat, der Hauptstadt der Region Urabá.
Urabá liegt rund 300 Kilometer von Medellín entfernt, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Antioquia. Es ist Kolumbiens Bananenregion, hier werden die Früchte auf riesigen Plantagen angebaut. In den vergangenen Jahren ist die Ölpalme hinzugekommen, ein dritter Pfeiler der regionalen Wirtschaft ist die Viehzucht. Diese dominiert rund um Macondo, das etwa 60 Kilometer vom Verwaltungszentrum Apartadó entfernt liegt. Auf weitläufigen Weiden, die nur von Buckelpisten und einigen Flüssen durchschnitten werden, grasen einige Kühe. »Extensive Viehzucht«, kommentiert Pertuz mit bitterer Miene. Nicht nur im Verwaltungsbezirk Antioquia, sondern auch im benachbarten Córdoba und anderen Teilen Kolumbiens wird Viehzucht extensiv betrieben. Sigifredo Bravo Pertuz, seine Frau und die beiden Kinder mussten dieser bereits mehrfach weichen – zuletzt im November 2013, als Mitglieder paramilitärischer Gruppen seinen Nachbarn Gildardo Antonio Padilla Ortega ermordeten.

Rückkehr und Neuanfang

»Also sind wir zurückgekehrt in die Vereda Florida, wo alles begann«, sagt Pertuz vor den versammelten Bauern. Er hofft, wie sein Freund José María Calle vor Gericht recht zu bekommen und sein Land zurückzuerhalten. Das ist der Traum der rund 40 Bauern, die heute auf Calles Farm »Bonaire« (»gute Luft«) gekommen sind, um das weitere Vorgehen zu diskutieren und drei europäischen Parlamentariern ihre Geschichte zu erzählen. Die Abgeordneten sind mit dem in Medellín ansässigen »Instituto popular de Capacitación« unterwegs, einer Weiterbildungseinrichtung, die sich für Land- wie Menschenrechte engagiert. Sie arbeitet mit den Bauern aus Macondo zusammen, ist aber auch in anderen Regionen Antioquias aktiv und macht auf die ungleiche Landverteilung in Kolumbien aufmerksam.
Urabá sei eine der Regionen Kolumbiens, in denen prozentual das meiste Land mit Waffengewalt umverteilt worden ist, berichtet die in Medellín ansässige Stiftung »Forjando Futuros«. Ihren Recherchen zufolge gibt es in 66 der 143 Gemeinden des Verwaltungsbezirks Antioquia Fälle von landgrabbing und Vertreibung. Mehr als 150 000 Familien sind davon betroffen, schätzungsweise 150 000 Hektar Land wurden illegal enteignet. »Das rückgängig zu machen, ist die große Herausforderung«, erklärt Laureano Gómez. Der 78jährige rüstige Bauer ist einer der zwölf gewählten Vertreter der Landrechtsorganisation »Tierra y Paz«. Er wurde selbst enteignet und koordiniert an diesem Tag das Bauerntreffen in Macondo mit seinem Kollegen Carlos Páez.
Páez steht gerade mit einigen Bauern am Zaun und berät sie bei ihren nächsten Schritten, zwei Männer beobachten ihn dabei aus der Entfernung – seine Bodyguards. Der Direktor der Bauernorganisation »Tierra y Paz« hat Dutzende von Morddrohungen erhalten, weil er nicht lockerlässt. Der kräftige Afrokolumbianer lebt in einem der Dörfer, die man auf dem Weg nach Macondo passiert, dort bestellt er drei Hektar Land. Das Land hatte er sich nach dem Militärdienst gekauft, denn auch seine Familie gehört zu den Vertriebenen. »Ich bin am 10. Mai 1997 als einer der Letzten vor den Paramilitärs geflohen«, erinnert sich der 40jährige. 200 Hektar hat seine Familie damals aufgeben müssen und Páez weiß genau, wie er das Land nutzen wird, sollten er und seine Brüder es zurückbekommen. »Eine kleine Milchfarm würde ich gern aufbauen«, sagt der Familienvater, der sich mit der gewaltsamen Umverteilung des Ackerlandes nicht abfinden will. Sein Vater hat das Land urbar gemacht, er kann einen Landtitel vorweisen und hat schlicht keine Lust mitanzusehen, wie das fruchtbare Land genutzt wird: als Weide für eine Handvoll Zebu-Rinder. »Die gehören meist Großgrundbesitzern wie Jaime Uribe oder José Vicente Cantero«, sagt Páez. »Die haben Farmen mit mehreren tausend Hektar und gute Kontakte« – zu den paramilitärischen Gruppen. Diese tauchten ab Mitte der neunziger Jahre in Urabá auf und änderten mit Erpressung, Morden und Terror gewaltsam die Besitzverhältnisse. In der Region von Macondo hatten sie ihre Zentrale auf der Finca »La 35« in der Vereda Florida. Die Farm diente als Koordinationszentrale, als Lager und als Folterzentrum. Dort wurden 2010 in einem Massengrab die Überreste von zwölf Personen gefunden.
»Auf dem Weg nach Macondo kommt man auch an Carlos Castaños Finca La Holandesa vorbei. Die hat er sich bauen lassen«, erklärt Carlos Páez. Castaño ist vor ein paar Jahren spurlos verschwunden und vermutlich einem internen Mordkomplott zu Opfer gefallen. Er war gemeinsam mit Salvatore Mancuso, der in den USA in Haft sitzt, das Gesicht der AUC, der Autodefensas Unidas de Colombia. Der Dachverband der paramilitärischen Organisationen Kolumbiens wurde zwar zwischen 2004 und 2006 demobilisiert, aber Nachfolgeorganisationen gibt es auch in Urabá. Deshalb ist die Rückkehr auf eigene Faust, wie es José María Calle versucht hat, ein Risiko. 2009 ist er nach mehreren Jahren in Cartagena zurückgekehrt. »Mehrfach hat die Polizei mich von meinem Land vertrieben, weil jemand anderes es sich unter den Nagel gerissen hatte: José Vicente Cantero«, erklärt der 73jährige, der zu den Wortführern in Macondo gehört. Er hat am 21. September 1996 seine Farm notgedrungen verlassen: »Die Paramilitärs haben mir per Brief mitgeteilt, dass ich die Region bis zu diesem Zeitpunkt lebend verlassen könne.« In anderen Fällen seien die paramilitärischen Gruppen auf den Farmen aufgekreuzt und hätten Kaufangebote gemacht. Allerdings mit dem Hinweis: »Wenn du nicht verkaufst, macht es deine Witwe«, erinnert sich Sigifredo Bravo Pertuz. Auch er musste seine 15 Hektar Land an José Vicente Cantero abgeben. Cantero hat wie andere Großgrundbesitzer in der Region vom Landraub durch die paramilitärischen Organisationen profitiert und viele Bauern in der Region glauben, dass die beiden Parteien unter einer Decke stecken. Das würde die anhaltenden Angriffe auf Bauernvertreter erklären, die es nicht nur in Urabá, sondern landesweit gibt.
35 Hektar Land, ein Holzhaus und ein paar Tiere gehören heute zur Finca »Bonaire«. José María Calle hat sich geschworen, mit Hilfe seiner vier Söhne daraus ein Schmuckstück zu machen. Das wird dauern, denn die Unidad de Restitución, die Behörde für Landrückgabe, hat der Familie nur das Land, nicht aber die ihr eigentlich zustehenden Entschädigungszahlungen zugesprochen, und auch kein Startkapital, um aus den Weideflächen wieder Felder zu machen. »Wir arbeiten hier mit den Fingernägeln«, so Calle. So sagt man im sonnenverwöhnten Urabá, wenn die Bauern ohne Maschinen, nur mit Machete, Spaten und Hacke den Neuanfang versuchen.

 

Er wartet noch auf eine Entschädigung. Laureano Gómez von der Landrechtsorganisation »Tierra y Paz«

Mit Maultier und Machete

Es herrschen harte Bedingungen. Auch der Weg in das kleine Dorf ist oftmals kaum passierbar. In der Region treten die Flüsse, Río León und Barranquillito, immer wieder über die Ufer und dann geht es nur noch per Traktor oder auf einer bestia weiter, wie die Maultiere genannt werden, die in Urabá oft als Last- und Reittiere eingesetzt werden. Auf so einem Maultier ist auch Sigifredo Bravo Pertuz aus der Vereda Florida hergekommen, um seinen Fall zu schildern und neue Initiativen mit den Anwälten zu besprechen. Pertuz ist gut organisiert, hat seine Unterlagen mitgebracht, kann seinen Fall schildern und weiß, was er will. Dreimal ist er gewaltsam vertrieben worden. »Zuerst 1996 hier in der Vereda Florida, dann 2004 nahe Turbo an der Panamericana bei Kilometer 27. Da hatte ich 40 Hektar. Und zum Schluss 2013 in Córdoba, nahe Valencia. Da waren es 15 Hektar«, erzählt er. 
15 Hektar nennt er in Vereda Florida nun sein Eigen. Auch wenn die Gerichte ihm noch nicht Recht gegeben haben, hat er das Land wieder in Besitz genommen. So wie viele der rund 50 Bauern, die heute zum Treffen gekommen sind. Sie haben sich deutlich mehr Unterstützung von der Regierung versprochen, als diese 2011 das Gesetz für die Opfer und zur Landrückgabe unterzeichnete.
»Damals hat Präsident Juan Manuel Santos vollmundig verkündet, dass mindestens zwei Millionen Hektar in den kommenden Jahren umverteilt werden würden«, sagt Laureano Gómez von »Tierra y Paz«. Er hat Anspruch auf 200 Hektar angemeldet, aber er wartet wie Hunderte andere auf die Bearbeitung seines Falls durch die Landrückgabebehörde. Landesweit hat diese noch nicht einmal 200 000 Hek­tar an die eigentlichen Eigentümer zurückgegeben.
Der Grund dafür sei einfach, so der Kongressabgeordnete des Polo Democrático Alternativo, Alirio Uribe Muñoz: »Die Landrückgabe hat viele Feinde und es ist offensichtlich, dass es am politischen Willen fehlt.« Das deckt sich mit den Erfahrungen von Leonardo Beltrán Ramírez, dem Anwalt am kirchlichen Zentrum für Forschung und Bildung (CINEP) in Bogotá. Er vertritt mehrere Bauern aus Macondo bei der Durchsetzung ihrer Rechte. »Anders als in anderen Regionen Kolumbiens haben hier viele Bauern Landtitel, weil sie die Flächen erst urbar gemacht haben. Als Kolonisten haben sie in den achtziger Jahren Papiere von der Landreformbehörde erhalten«, schildert er die juristisch eindeutige Situation.

»Gleich dreimal wurde ich von den Paramilitärs vertrieben und immer wieder habe ich neu angefangen.« Sigifredo Bravo Pertuz, Bauer

Das ist im Vergleich zu anderen Regionen ein Vorteil für die Bauern aus Macondo. Trotzdem tut sich wenig in der Region. Die Bauern sehen dafür mehrere Gründe. »Wir wissen, dass in der Behörde für Landrückgabe Anwälte arbeiten, die verwandtschaftliche Beziehungen zu Großgrundbesitzern haben«, klagt Carlos Páez. Das sind harte Vorwürfe, doch in Cesar, einem anderen Verwaltungsbezirk, wurde die Direktorin der Landrückgabebehörde sogar wegen enger Kontakte zu paramilitärischen Gruppen abgesetzt. Carlos Guevara von der Menschenrechtsorganisation »Somos Defensores« glaubt, dass paramilitärische Organisationen wie die Águilas Negras längst in den Institutionen sitzen. »Von den 800 Morddrohungen der Águilas Negras wurde in den vergangenen fünf Jahren nicht eine einzige aufgeklärt. Die Täter müssen innerhalb der Ermittlungsbehörden gedeckt werden«, mutmaßt er. Das könnte auch erklären, weshalb Landrechtprozesse so langsam vorankommen.
Doch selbst wenn die Gerichte nach langwierigen Verhandlungen den gewaltsam enteigneten Bauern recht geben, heißt das noch lange nicht, dass diese auf ihre Parzelle oder ihre Farm zurückkehren können. »Das Problem ist, dass der Staat unsere Sicherheit garantieren muss. Das tut er aber in der Realität oft nicht. Deshalb gibt es viele Fälle, in denen die juristisch anerkannten Landtitel in der Praxis nicht durchsetzbar sind«, erklärt Carlos Páez. Das liegt manchmal daran, dass der Staat schlicht nicht präsent ist, oft aber auch daran, dass paramilitärische Gruppen in vielen Regionen des Landes weiterhin aktiv sind. Das Problem wird systematisch verharmlost. So spricht der kolumbianische Staat nur noch von »kriminellen Banden« statt von Paramilitärs und nimmt das Problem laut Gustavo Gallón, dem Direktor der kolumbianischen Juristenkommission, nicht ernst genug. »Uns fehlt eine Strategie gegen die Paramilitärs, deren Zahl auf 4 000 bis 6 000 geschätzt wird«, kritisiert er. Deren Präsenz in Regionen mit Landkonflikten wie Urabá, dem Chocó oder dem Cauca mache die Rückkehr von Kleinbauern, afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden auf ihre Flächen oft überaus schwer, so Gallón.
Das wissen auch die Bauern in Macondo, die sich keinen großen Illusionen hingeben. »Wir werden um jeden Hektar und um jeden Peso Entschädigung kämpfen müssen, um unsere Farmen wieder aufzubauen«, meint Carlos Páez am Rande des Treffens in Macondo. Er schätzt die Chancen seiner Familie, die eigene Farm wiederzubekommen, auf 50:50.