Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar über die RAF, linke Militanz und Antisemitismus

»Als das Bild von Freund und Feind noch klar war«

Dem Hamburger Politologen Wolfgang Kraushaar gelang es 2005, den Mann ausfindig zu machen, der am 9. November 1969 während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Pogromnacht von 1938 eine vom Verfassungsschutzspitzel Peter Urbach gelieferte Bombe in das Jüdische Gemeindehaus in Berlin gelegt hatte. Der Mitbegründer der Sozialistischen Hochschulinitiative gilt als Chronist der Achtundsechziger-Bewegung. Mit ihm sprach die »Jungle World« über linke Militanz, Antisemitismus und Verstrickungen mit dem Verfassungsschutz.
Interview Von

Der Zerfall der Apo, der Sechstagekrieg und der Beginn des Linksterrorismus in der BRD fallen historisch gesehen in ein und dieselbe Epoche. Ein Zufall?
Die Außerparlamentarische Opposition der Jahre 1967 bis 1969, die im Kern ja eine Studentenbewegung war, und der Sechstagekrieg im Juni 1967 haben von ihrer Entstehung her gewiss nichts miteinander zu tun. Die Tatsache, dass die Ermordung Benno Ohnesorgs bei Protesten gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 nur drei Tage vor dem Ausbruch des Sechstagekrieges geschah, war blanker historischer Zufall. Was aber die Folgen dieser Beinahe-Koinzidenz anbetraf, so sieht die Sache bereits erheblich anders aus. Diese Ereignisse markieren unabhängig voneinander die Geburtsstunde zweier Bewegungen: Auf der einen Seite die der Studentenbewegung in der Bundesrepublik, die sich rasch radikalisierte, nicht weniger rasch auseinanderfiel und aus deren Zerfallspartikeln schließlich eine Reihe bewaffneter Gruppierungen entstand, und auf der anderen Seite die des bewaffneten Widerstands der Palästinenser, aus dem zahlreiche terroristische Organisationen wie etwa die PFLP hervorgegangen sind.
Durch den Sechstagekrieg waren in den Augen nicht weniger Apo-Mitglieder aus den Opfern der NS-Vergangenheit Aggressoren der Gegenwart geworden. Seit der SDS-Delegiertenkonferenz im September 1967 lauteten die Stichworte seiner Nahostpolitik in Bezug auf Israel »Imperialismus und Kolonialismus« und hinsichtlich der Palästinenser »Antiimperialismus und Sozialismus«. Im Kern ging es darum, Israel das Existenzrecht zu verweigern.
Die Apo war mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt im Oktober 1969 faktisch zu Ende. Nur wenige Wochen darauf begann der linke Terrorismus mit einem Fanal. Am 9. November 1969, dem Gedenktag für die Opfer des nationalsozialistischen November-Pogroms von 1938, verübte in West-Berlin ein Mitglied der »Tupamaros West-Berlin«, kurz TW genannt, der zuvor in einem Trainingscamp der Fatah ausgebildet worden war, einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus.

Dieter Kunzelmann und Ulrike Meinhof haben schon früh geäußert, dass sich Deutsche ihrer Schuld aus dem Holocaust entledigen sollten.
Im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus hatte Dieter Kunzelmann, der einstige Kopf der Kommune I und anschließende Anführer der TW, seine judenfeindliche Einstellung unverblümt zum Ausdruck gebracht. In einem »Brief aus Amman«, der in Wirklichkeit in einer konspirativen Wohnung in West-Berlin verfasst wurde, reichte er so etwas wie das ideologische Rüstzeug für den Anschlag vom 9. November nach. Er war sich dabei offenbar bewusst, welchen Tabubruchs es bedurfte, um erneut Juden als Zielscheibe zu propagieren. Das entscheidende Stichwort seines Textes, in dem er öffentlich begründete, warum sich Angriffe nun nicht mehr nur gegen die USA, sondern auch gegen Israel und jüdische Einrichtungen richten sollten, lautete deshalb »Judenknax«. Er unterstellte all jenen Linken, die sich auch weiterhin für eine Wiedergutmachung einsetzten, einen psychischen Defekt. Seine Gleichsetzungen lauteten: Palästina gleich Vietnam, Faschismus gleich Zionismus, Israel gleich »Drittes Reich« und Fatah gleich Antifaschismus. Damit wurde eine Tilgung von Schuldgefühlen vollzogen und zugleich eine neue Haltung etabliert: die rückhaltlose Identifikation mit den Palästinensern.
Etwas anders sah es mit Ulrike Meinhof aus, die ja einmal als Zeugin vor Gericht stehend auf die Frage nach ihrer Berufstätigkeit lauthals »Antifaschistin« hinausposaunte. Was sie darunter verstand, wurde im September 1972 unmissverständlich klar. Nach dem Münchner Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft, der ja eine Aktion des »Schwarzen September« und damit einer Geheimorganisation der PLO war, verfasste sie eine regelrechte Eloge auf die Mordaktion. Diese sei »gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch« gewesen und habe eine »Sensibilität und Menschlichkeit« für historische und politische Zusammenhänge gezeigt, die nur aus der Verbundenheit ihrer Mitglieder mit dem palästinensischen Volk habe stammen können. Und als sie drei Monate später im Mahler-Prozess als Zeugin der Verteidigung vor Gericht auftrat, gab sie eine Erklärung ab, in der sie auf eine geradezu obsessive Weise Holocaust-Symbole ausbeutete und skrupellos für ihre eigenen Zwecke funktionalisierte. Sie setzte die Situation in ihrem Kölner Gefängnis mit einem KZ gleich, bezeichnete Auschwitz-Opfer als »Geldjuden« und behauptete, der Antisemitismus sei »in seinem Wesen antikapitalistisch« gewesen. Wenn man »das deutsche Volk« nicht »vom Faschismus freisprechen« würde – schließlich hätte es ja nichts von dem, was sich in den Konzentrationslagern abspielte, wissen können –, könne man es auch nicht für den revolutionären Kampf mobilisieren. Die Exkulpierung des deutschen Volkes schien für sie also die Voraussetzung für die Überwindung der politischen Isolation zu sein, in die sich die RAF hineinmanövriert hatte.

»Bei antiisraelischen und antijüdischen Aktionen handelte es sich um einen Antisemitismus der Tat und nicht einen Antisemitismus des Wortes. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheute man sich, unmittelbar antisemitische Parolen wie ”Juden raus“ zu gebrauchen.«

Als ehemalige Journalistin war Ulrike Meinhof so etwas wie die Propagandaministerin der RAF. Aber ihre Positionen stießen keineswegs nur auf Zustimmung. Die Befürwortung der vom »Schwarzen September« verübten Mordaktion kritisierte etwa Gudrun Ensslin, die ohnehin ursprünglich annahm, dass Horst Mahler der Urheber des Textes gewesen sei. Im Einzelnen ist es schwierig zu sagen, wer sich innerhalb der RAF wann mit was identifiziert hat. Allerdings muss festgehalten werden, dass es in der insgesamt 28 Jahre dauernden Geschichte der RAF nie jemand für nötig befunden hat, sich von ihrer antiisraelischen, zuweilen antisemitischen Grundausrichtung zu distanzieren. Noch 1991 hatte sich mit Andrea Klump eine der RAF-Mitgliedschaft Verdächtige in Ungarn an der Logistik für einen Anschlag auf jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion beteiligt, die nach Israel wollten.

War der Antisemitismus also das charakteristische Merkmal der linksradikalen Anschläge in den sechziger bis achtziger Jahren?
Das lässt sich nicht generalisieren. Zunächst einmal ging es bei antiisraelischen und antijüdischen Aktionen um einen Antisemitismus der Tat und nicht einen Antisemitismus des Wortes. Von wenigen Ausnahmen abgesehen scheute man sich, unmittelbar antisemitische Parolen wie »Juden raus« zu gebrauchen. Man darf auch nicht den Fehler begehen, gleich die Bewegung der Achtundsechziger für alles in Haftung zu nehmen, was terroristische Sekten wie die »Tupamaros West-Berlin«, die RAF, die »Bewegung 2. Juni« und die »Revolutionären Zellen« taten.

Sowohl die Wehrsportgruppe Hoffmann als auch die RAF wurden von der Palästinensische Befreiungsfront PFLP ausgebildet. Kann man von einer Querfront der drei Gruppen sprechen?
Den Begriff der »Querfront« halte ich schon deshalb nicht für angemessen, weil es dann ja gleich um regelrechte Aktionsbündnisse zwischen den beiden Seiten hätte gehen müssen. Von palästinensischer Seite, die politisch betrachtet ein hohes Maß an Promiskuität an den Tag legte, hat man seinerzeit genau darauf geachtet, dass die sonst ja einander bekriegenden Gruppen sich in den Trainingslagern nicht über den Weg liefen. Da hätte wer weiß was passieren können. Außerdem sind die geopolitischen Zusammenhänge letztlich doch komplexerer Natur gewesen. Die RAF-Kader der ersten Generation etwa wurden von der Fatah in Jordanien ausgebildet, die der zweiten hingegen von der PFLP/SC im Südjemen. Die Wehrsportgruppe Hoffmann wiederum verfügte seit 1980 über besondere Kontakte in den Libanon zur PLO, die so weit gingen, dass ihr in einem in Beirut gelegenen Palästinenserlager ein eigenes Übungsgelände zur Verfügung gestellt wurde.

Ähnlich wie im Fall des Anschlags auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin gab es auch im Kontext des Mordes an Siegfried Buback Kontakte zum Verfassungsschutz. Was weiß man über die Zusammenarbeit von Verena Becker mit dem Verfassungsschutz (VS)?
Strapazierbare Nachweise für eine Kooperation des VS gibt es weder für den Fall des Bombenanschlags auf das Jüdische Gemeindehaus 1969 noch für das RAF-Attentat auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Im ersten Fall stammte der dort verwendete Sprengkörper zwar von Peter Urbach, einem Undercover-Agenten des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz. Dieser besaß aber nach allem, was bekannt ist, keinerlei Einfluss darauf, was mit dieser Bombe genau geschehen, vor allem wo und gegen wen sie zum Einsatz gebracht werden sollte. TW-Mitglied Albrecht Fichter hat sie am Vormittag des 9. November während einer Gedenkfeier in der Charlottenburger Fasanenstraße ins Jüdische Gemeindehaus gelegt, genauer in einen dort befindlichen Coca-Cola-Automaten gesteckt. Drahtzieher der Aktion war nach Fichters Geständnis Kunzelmann. Wahrscheinlich war auch Kunzelmann letztlich »nur« ausführendes Organ. Die vielen Hinweise auf Kontakte zu Palästinensern um den 9. November herum, die sich seinem Tagebuch entnehmen lassen, könnten jedenfalls dahingehend interpretiert werden. Auch die Tatsache, dass er nach Weihnachten 1969 zusammen mit seiner damaligen Gefährtin nach Frankfurt geflogen ist, um sich dort mit Palästinensern, vermutlich Leuten der Fatah, abzustimmen, dürfte dafür sprechen.
Was Verena Becker betrifft, so ist unstrittig, dass sie im Dezember 1981 dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln an mehreren Tagen als Informantin zur Verfügung gestanden hat. Um ihre Abwesenheit aus dem Gefängnis Köln-Ossendorf zu tarnen, hatte man sich deshalb einfallen lassen, dass sie wegen gesundheitlicher Probleme nach Kassel habe verlegt werden müssen. In Wirklichkeit aber saß sie in einer vom VS angemieteten Wohnung, um sich gegen Honorar ausquetschen zu lassen. Als das gruppenintern ruchbar wurde, verstieß man sie als »Verräterin« aus der RAF. Als sie 2009 kurz vor ihrer neuerlichen Festnahme überwacht wurde, stieß man auf einen an ihre Ehemaligen gerichteten Briefentwurf, in dem es in Bezug auf ihre damalige »VS-Geschichte« heißt, dass sie bei ihren Äußerungen »manipuliert und gelogen« habe. Mit anderen Worten, der Wert ihrer Bekenntnisse ist eher zweifelhaft. Ob Becker bereits vor 1981 für den VS als Informantin gearbeitet hat, ist dagegen strittig. Alarmierend war zunächst einmal ein Dokumentenfund bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Aus einem Aktenvermerk der Hauptverwaltung Aufklärung vom Februar 1978 geht hervor, die »BRD-Terroristin Becker, Verena« werde seit 1972 von »westdeutschen Abwehrorganen«, also Geheimdiensten, »bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten«. Diese Information sei in den darauffolgenden Jahren zweimal bestätigt worden. Wenn man diese Nachricht entsprechend kontextualisiert, dann stößt man zuerst darauf, dass sie 1972 Mitglied der »Bewegung 2. Juni« war und dass aus ihrer Zelle, zu der auch Inge Viett, Harald Sommerfeld und Ulrich Schmücker gehörten, gleich mehrere von einem V-Mann-Führer des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) angeworben werden konnten. Der VS-Agent, der immer dann, wenn Verdächtige in Untersuchungshaft gerieten, als »Herr Rühl« in Erscheinung trat, war Michael Grünhagen. Später spielte er eine Schlüsselrolle im Mordfall Schmücker, als die »Bewegung 2. Juni« ihren »Konterrevolutionär und Verräter« nach einem »Tribunal« zum Tode verurteilt und an der Krummen Lanke »hingerichtet« hat.
Die Akten des LfV sind angeblich allesamt entsorgt und der einstige V-Mann-Führer Grünhagen ist 1988 angeblich verstorben, allerdings ohne dass sich auf dem vom Pressereferenten des Berliner Innensenats angegebenen Friedhof eine entsprechende Grabstelle oder der obligatorische Eintrag ins Friedhofsbuch ausfindig machen lässt. Daher lässt sich wohl auch kein Licht mehr in Beckers tatsächliche Rolle und ihre möglicherweise bereits in den Siebzigern vorhandenen VS-Kontakte bringen.

Trotz Antisemitismus und dubioser VS-Kontakte – noch heute beziehen sich Linke positiv auf die RAF.
Die RAF scheint mir vor allem im Umfeld der autonomen Bewegung die Rolle einer Ersatzidentität zu spielen. Wie eine Art Verweis auf eine Zeit, als das Bild von Freund und Feind noch klar war. Man sieht das Plakaten im Hamburger Schanzenviertel an, auf denen in letzter Zeit unter dem RAF-Emblem für Solidarität mit dem wegen ihrer Überfälle auf Geldtransporter gesuchten Trios Klette, Garweg und Staub geworben wird. Das Frohlocken darüber, dass sie immer noch nicht gefasst sind und dem verhassten Staat insgesamt wieder einmal ein Schnippchen geschlagen haben, verrät, wie groß zumindest die gefühlte Nähe zur RAF immer noch sein muss.