Die Angriffe auf einen jüdischen Schüler in Berlin haben die Debatte über Antisemitismus unter Muslimen neu entfacht

Ein Klassenzimmer ohne Juden

In Berlin hat ein jüdischer Schüler wegen andauernder antisemitischer Anfeindungen eine öffentliche Schule verlassen. Ob der Vorfall ein Indiz für die starke Verbreitung antisemitischer Ansichten unter muslimischen Schülern ist, wird heftig debattiert.

Der Berliner Stadtteil Friedenau wirkt nicht wie ein Ort, an dem Juden um ihre Unversehrtheit fürchten müssen. Dort, im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, reihen sich die prächtigen Fassaden der Altbauten aneinander, die Dichte der Baudenkmäler ist hoch. Schriftsteller wie Max Frisch und Hans-Magnus Enzensberger haben hier gewohnt. Und doch kommt es hier zu hässlichen Szenen, die international für Diskussionen sorgen. Im Jahr 2012 wurde der Rabbiner Daniel Alter im Beisein seiner kleinen Tochter von Jugendlichen angesprochen und verprügelt, weil er eine Kippa trug. Zurzeit sorgt ein Fall an einer Gemeinschaftsschule in der Rubensstraße für Empörung. Dort wurde ein jüdischer Schüler über Monate hinweg vor allem von arabisch- und türkischstämmigen Mitschülern aus antisemitischen Motiven gemobbt und geschlagen. Der 14jährige hat die Schule deswegen mittlerweile verlassen. Die Londoner Wochenzeitung The Jewish Chronicle hatte zuerst über den Fall berichtet.

Mehrere Organisationen haben davor gewarnt, die Angelegenheit herunterzuspielen. Die Berliner Vertreterin des American Jewish Committee, Dei­dre Berger, warf der Schule vor, zunächst nicht reagiert zu haben. Öffentliche Schulen dürften nicht zu No-go-Areas für jüdische Kinder werden. »Wir beobachten seit mehr als zehn Jahren, dass jüdische Schüler kontinuierlich öffentliche Schulen aufgrund von antisemitischen Anfeindungen verlassen«, so Berger. So war bereits 2006 eine jüdische Schülerin im Bezirk Neukölln über Monate hinweg von Mitschülern aus arabischen Familien antisemitisch beschimpft, geschlagen und bespuckt worden, bis sie schließlich an die Jüdische Oberschule in Berlin-Mitte wechselte.

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, appellierte an muslimische Organisationen, »den antisemitischen Tendenzen in ihren Reihen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten«.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, forderte die Berliner Schulverwaltung angesichts der Vorkommnisse in Friedenau dazu auf, das Verhalten der Schulleitung genau zu untersuchen. Angesichts des religiösen und familiären Hintergrunds der Aggressoren appellierte Schuster an muslimische Organisationen, »den antisemitischen Tendenzen in ihren Reihen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten«. Er kritisierte, dass »in einem Teil der Moscheen in Deutschland Judenfeindlichkeit und Israelfeindlichkeit aktiv Vorschub geleistet wird«.

Die Schulleitung hat sich mittlerweile auf ihrer Internetseite an die Öffentlichkeit gewandt. »Der aktuelle Fall ist der erste, bei dem das Kollegium der Friedenauer Gemeinschaftsschule das Problem des Antisemitismus wahrgenommen hat«, heißt es in dem Schreiben. Schon nach dem ersten »Diskriminierungsvorfall«, der der Schulleitung zur Kenntnis gebracht worden sei, habe sie die Großeltern des Schülers, die Holocaust-Überlebende sind, eingeladen, um das Thema mit den Mitschülern des Jugendlichen aufzuarbeiten. Erst danach habe sich an einer Bushaltestelle der gewaltsame Angriff ereignet, der zur Abmeldung des Schülers führte. Mittlerweile habe man Strafanzeige gegen die mutmaßlichen Täter erstattet und Schritte eingeleitet, diese von der Schule zu verweisen, so die Schulleitung.

Eine Sprecherin der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) teilte auf Anfrage der Jungle World mit, Berlin biete viele Projekte und Weiterbildungsmaßnahme zum Thema Antisemitismus für Lehrkräfte und Sozialarbeiter an Schulen an. Kooperationspartner seien unter anderem das American Jewish Committee, die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und das Netzwerk Courage. An diesen Fortbildungen nahmen nach Angaben der Sprecherin seit 2007 knapp 960 Schulberater und Lehrkräfte teil. Derzeit arbeite die Antidiskriminierungsbeauftragte der Senatorin daran, die Vorfälle in Friedenau aufzuklären. 

Die Schule kontaktierte nach eigener Darstellung auch die Salaam-Schalom-Initiative, die den Dialog zwischen Muslimen und Juden fördern will. Die Darstellung von deren Sprecher Armin Langer klingt allerdings etwas anders. Demnach hätten die Eltern des betroffenen Schülers zuerst bei der Salaam-Schalom-Initiative angefragt, ob diese nicht in der Schule über ihre Arbeit sprechen könne. Auf das folgende Kontaktangebot der Initiative sei die Schulleitung nicht eingegangen. Ob sich die Eskalation in Friedenau mit diesen Mitteln habe verhindern lassen, ist schwer zu sagen. Langer sagt: »Das war kein Einzelfall. ›Jude‹ ist in vielen Schulen ein Schimpfwort.« Während deutsche Schüler ohne Migrationshintergrund dazu neigten, einen »geschichtsrevisionistischen Antisemitismus« an den Tag zu legen, hätte die Judenfeindlichkeit von Kindern und Jugendlichen aus muslimischen Familien einen ausgeprägten Bezug zu Israel.
Langer sah sich in der Vergangenheit selbst mit Kritik konfrontiert, als er 2014 in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit gleichsetzte (»Muslime sind die neuen Juden«). Zudem kritisierte die Jüdische Allgemeine ihn dafür, dass er 2015 vor dem deutschen Zweig der islamistischen Bewegung Millî Görüş einen Vortrag gehalten hatte.
Für größere öffentliche Kontroversen sorgt die Frage, inwiefern der Vorfall ein Indiz für einen besonders stark ausgeprägten Antisemitismus unter Schülern aus arabisch- oder türkischstämmigen Familien ist. Langer von der Salaam-Schalom-Initiative betont: »Wir begegnen doch in der gesamten Gesellschaft einer antisemitischen Herausforderung, nicht nur bei Schülern.« Tatsächlich kommen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass 15 bis 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Ansichten vertreten. Rechtsextreme begehen die Mehrheit der zur Anzeige gebrachten antisemitischen Straftaten in Deutschland.

Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass Judenhass in muslimischen Milieus stärker verbreitet ist als in anderen Bevölkerungsgruppen. In einer vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen Studie von 2007 befragten Katrin Brettfeld und Peter Wetzels muslimische Jugendliche der 9. und 10. Jahrgangsstufe zu mehreren Themen. 15,7 Prozent stimmten der Aussage zu, dass »Menschen jüdischen Glaubens überheblich und geldgierig« seien. Nur 7,4 Prozent der nichtmuslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und 5,7 Prozent der »nichtmuslimischen Einheimischen« waren dieser Meinung. Weniger religiöse Muslime äußerten geringere Zustimmung zu derartigen Thesen. Einer 2012 veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsunternehmens Info zufolge gaben 18 Prozent der befragten Deutschtürken an, Juden als »minderwertige Menschen« anzusehen. Das US-amerikanische Meinungsforschungsunternehmen PEW Research Center kam in mehreren Studien, beispielsweise aus den Jahren 2006 und 2010, zu dem Ergebnis, dass in arabischen Ländern wie Jordanien, Ägypten, Libanon und den Palästinensischen Autonomiegebieten mehr als 90 Prozent der Bevölkerung eine negative Meinung über Juden haben. Die Annahme liegt nahe, dass Migranten aus diesen Ländern ihre antisemitischen Ansichten nach Deutschland mitgebracht haben beziehungsweise mitbringen und diese auch ihren Kindern vermitteln. 
Am Freitag vergangener Woche hat sich die Elternschaft der Friedenauer Gemeinschaftsschule in einem Brief an den Tagesspiegel zu dem Fall geäußert. Sie lobt darin die Anstrengungen der Schule, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen, und kritisiert die Berichterstattung über den Vorfall. »Wir befürchten, dass die Schule in ein völlig falsches Licht gerückt und der Ruf, den sie sich gerade hart erkämpft, zunichte gemacht wird.« Berlin könne »vor den Auswüchsen internationaler Konflikte wie des Nahostkonflikts nicht verschont« bleiben. Wie könne eine Schule »davor gefeit sein, dass es zu religiös motivierten Auseinandersetzungen zwischen Schülerinnen und Schülern« komme, fragen die Eltern. 
Der Berliner Publizist Sergey Lago­dinsky, der für die Heinrich-Böll-Stiftung arbeitet, bezeichnete den Brief der Eltern als »ein Dokument des Versagens« und eine »Beleidigung für die Betroffenen« antisemitischer Gewalt. Statt den Judenhass zu bekämpfen, beschuldigten die Eltern die Presse. 

Auch der Bundestagsabgeordnete Volker Beck (Grüne) kritisierte den Brief scharf. In diesem sei das antisemitische Vorurteil zu erkennen, demzufolge alle Juden für den Nahostkonflikt verantwortlich seien. »Offensichtlich sind die betreffenden Eltern nicht in der Lage, Antisemitismus zu erkennen – zudem reproduzieren sie diesen auch noch«, so Beck.