Heftige Proteste legen in Kolumbien das öffentlichen Leben teilweise lahm

Aufruhr im Chocó

In Kolumbien legen Streiks und Großdemonstrationen das ­öffentliche Leben teilweise lahm. Die heftigsten Proteste gibt es in den armen und vernachlässigten Regionen am Pazifik.

»Das Volk gibt nicht nach, verdammt! Der Chocó wird respektiert, verdammt!« ruft ein Demonstrant, der Rest des ­Demonstrationszugs antwortet, begleitet von rhythmischen Trommelschlägen: »Das Volk gibt nicht nach, verdammt! Der Chocó wird respektiert, verdammt.« Doch nicht nur am 21. Mai, dem »Tag der Afrokolumbianer«, wird demonstriert, die kolumbianische Pazifikregion Chocó ist seit Tagen in Aufruhr. Hier bringen Protestmärsche und Streiks, wie sie derzeit im ganzen Land stattfinden, Hunderttausende Menschen auf die Straße. An den Protesten beteiligen sich Lehrkräfte, öffentliche Angestellte, Indigene und Erdölarbeiter.

Seit mehr als zwei Wochen findet im Chocó nach einem Aufruf von Gewerkschaften, afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden, ­Basisorganisationen und den Kirchen ein »ziviler Generalstreik« statt. Es geht um Grundsätzliches, Frieden und soziale Gerechtigkeit, um eine bessere Infrastruktur in den Bereichen Wasserversorgung, Gesundheit, Bildung und Verkehr. Dafür wird friedlich demons­triert, täglich errichten die Menschen im Chocó Straßensperren, hinzu kommen zahlreiche kulturelle Veranstaltungen, um dem Protest Ausdruck zu verleihen.

Am empfindlichsten trifft den Rest des Landes die Blockade des Großhafens von Buenaventura an der Pazifikküste im an den Chocó angrenzenden Bezirk Valle de Cauca. Der vor 20 Jahren im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung Kolumbiens privatisierte Hafen ist der wichtigste maritime Umschlagplatz des Landes, über den mehr als die Hälfte des Außenhandels abgewickelt wird. Profitiert hat die lokale Bevölkerung davon bislang kaum, Armut und Gewalt bestimmen den Alltag, auch weil über den Hafen viel Kokain exportiert wird. Die paramilitärischen Gruppen unterhielten in Buenaventura nach übereinstimmenden Berichten von Medien und Menschenrechts­organisationen Folterzentren, meist als »Schlachthäuser« bezeichnet.

Die Pazifikküste, an der vor allem Afrokolumbianer und indigene Gruppen leben, ist das Armenhaus Kolumbiens. Der jüngsten Erhebung des Nationalen Statistikamtes (DANE) zufolge fehlt knapp 80 Prozent der Einwohner der Zugang zu Infraktruktur zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Die Versorgung mit Strom und Wasser ist, wenn überhaupt gegeben, mangelhaft und störanfällig. Die schlecht ausgestatteten Krankenhäuser sind heruntergekommen, es fehlt an Lehrkräften und öffentlicher Infrastruktur insgesamt. Die Überlandstraßen, die in die wohlhabenden Regionen Kolumbiens führen, sind in desolatem Zustand.

Hinzu kommt der bewaffnete Konflikt. Denn während dieser in anderen Landesteilen mit dem Ende des bewaffneten Kampfes der Guerilla Farc deutlich an Intensität verloren hat, kommt es im Chocó regelmäßig zu Vertreibungen der Zivilbevölkerung. Diese flieht vor Kämpfen von paramilitärischen Gruppen und regulären Streitkräften mit der »Westlichen Kriegsfront« des Nationalen Befreiungsheeres (ELN), der noch verbliebenen Guerillaorganisation Kolumbiens. »Im Rahmen des Friedensabkommens sind besonders die traditionell vom Konflikt betroffenen Regionen einem hohen Risiko ausgesetzt, weil andere illegale bewaffnete Gruppen sich um die Kontrolle in diesen Territorien streiten«, sagte Rocio Casteñeda vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Kolumbien. Allein 2016 seien am kolumbianischen Pazifik mehr als 11 000 Menschen durch Kämpfe vertrieben worden, mehr als in jeder anderen Region Kolumbiens.

»In ländlichen Gebieten ist der Staat kaum präsent und nur wenig effizient«, sagt Maia Hiene, die in der Provinzhauptstadt Quibdó für eine internationale Menschenrechtsorganisation arbeitet, im Gespräch mit der Jungle World. »Die Bürgermeister der Gemeinden tun nichts für die Menschen. Häufig wohnen sie nicht einmal dort, sondern in den Großstädten Medellín oder Perreira«, erzählt sie.

Der Chocó ist eine der ökologisch vielfältigsten Regionen der Erde. Doch der Ressourcenreichtum ist zugleich Verhängnis. Der Bergbau, insbesondere die oft illegale Goldwäscherei, ist der wichtigste Wirtschaftszweig dieser äußerst strukturschwachen Region. Sozial und ökologisch ist das Goldfieber ein Desaster. Insbesondere paramilitärische Gruppen finanzieren sich durch die Abschöpfung von Gewinnen. Es fehlt an staatlichen Kontrollen, auch deshalb, weil die lokalen Behörden und das Militär die Hand aufhalten.

Mit den Folgen muss die örtliche Bevölkerung leben. Es gibt Tage, an denen in Quibdó das Wasser abgestellt werden muss, weil es unter anderem mit Quecksilber kontaminiert ist. Einige zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen von einem »kolonialen Verhältnis« zwischen der Region und dem Nationalstaat, zwischen den Gemeinden am Pazifik und der Regierung im fernen Bogotá. Von dort aus schickte Präsident Juan Manuel Santos vergangene Woche seinen Generalsekretär und mehrere Minister zu Verhandlungen.

Nach weitreichenden finanziellen Zusagen der Regierung, unter anderem für den Straßenbau und die öffentliche Gesundheitsversorgung, wurde der Streik in einem Teil des Chocó vorerst beendet.
In der Hafenstadt Buenaventura gehen die Proteste ungemindert weiter. Laut Berichten lokaler Medien häufen sich die Beschwerden über die von der Polizei angewandte Gewalt gegen Protestierende. Hier stehen die Zeichen ebenso wenig auf Einigung wie bei den Verhandlungen mit der großen Lehrergewerkschaft Fecode.

Durch deren landesweite Arbeitsniederlegung fällt landesweit für mehr als acht Millionen Schulkinder seit Wochen der Unterricht aus. Für den 31. Mai sind in den Großstädten erneut Demonstrationen angekündigt. In ähnlichen Protesten waren in den vergangenen Wochen Zehntausende Menschen gekommen.

Es geht wie im Chocó um die Nichteinhaltung von in vorherigen Verhandlungsrunden erzielten Vereinbarungen oder im Wahlkampf gemachten Versprechungen. Doch das durch den niedrigen Erdölpreis stattlich gewachsene Haushaltsdefizit von umgerechnet rund neun Milliarden Euro bereitet der Regierung Probleme. Entsprechend knauserig ist die Regierung Santos, die in Bereichen wie der Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungspolitik kaum Erfolge erzielt hat. Die Popularitätswerte des Präsidenten, der mit dem Abschluss des Friedensvertrags mit der Guerilla Farc sein politisches Hauptziel erreicht hat, sanken nach einer Umfrage von Cifras & Conceptos diesen Monat auf unter 25 Prozent. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Kolumbien beitreten möchte, lobte in einem neuen Bericht zwar einzelne Maßnahmen, mahnte aber zugleich weitere Reformen und Strukturanpassungen an.

Die am Wochenende im Chocó gemachten Zusagen gelten lediglich unter Vorbehalt der »fiskalischen Möglichkeiten«, wie es in den Vereinbarungen heißt. Albeiro Moya, ein Mitglied des »Zivilen Komitees für die Erlösung und die Würde des Chocó«, das die Verhandlungen im Chocó führte, sagte im Gespräch mit der Jungle World, man habe daher mit der Regierung sehr genaue Fristen für die gemachten Zusagen vereinbart. »In spätestens acht Monaten müssen die Zusagen eingehalten worden sein. Wenn die Regierung nicht Wort hält, werden die Menschen erneut protestieren. Das Volk des Chocó wird nicht aufgeben.«