Der Evangelische Kirchentag in Berlin

High vor Liebe

Akustikgitarren, ein bisschen heile Welt und ein total gutes Gefühl – Erkundungen auf dem Evangelischen Kirchentag. Der bietet politische Debatten und ein spirituelles Poperlebnis fast ohne Drogen.

»Luther du mieses Stück Scheiße«, steht auf dem schwarzweißen Banner auf dem Marktplatz von Halle. Anders als in Berlin gibt es bei der Eröffnung der Reformationsfeierlichkeiten in Halle tatsächlich Protest. Gegen Antisemitismus und Sexismus wolle man ein Zeichen setzen. »500 Jahre Reformation sind kein Grund zum Feiern«, findet die örtliche Antifa.

Richtig wild geht es auf protestantischen Kirchentagen zwar ohnehin nicht zur Sache, feiern wollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aber schon. Etwa bei Musik in Halle 17 der Berliner Messe: »Zeit zu schweigen und auf Gott zu hören«, singt ein Liedermacher mit Cello-Begleitung. Die Atmosphäre ist entspannt. In Halle 20 sprechen der Sozialwissenschaftler Andreas Zick und der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD). Zick gibt eine Einführung in das Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und präsentiert viele Zahlen zu Rechtspopulismus in Deutschland. Auch Thierse hält zunächst eine Standardpolitikvorlesung, läuft aber dann doch noch zu Hochform auf. Er polemisiert gegen den »Wohlstands­chauvinismus« der Rechtspopulisten, stichelt gegen Leitkultur als »irgendwie ätzenden und belasteten Begriff« und predigt »revolutionäre demokra­tische Geduld«. Er wolle »Ängste weder arrogant abtun« noch ihnen »auf die Schulter klopfen«. »Angst ist kein Argument« heißt die Veranstaltung. Sie ist eine von 2 400 auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin und Wittenberg, bei denen es viel um spirituelle Erlebnisse, aber auch um politische Themen geht.

Auch wenn es Veranstaltungen in ganz Berlin gibt, der Großteil findet im orange beflaggten Berliner Kongress­zentrum statt. Es gibt einen »Markt der Möglichkeiten«, auf dem Besucher mit Emoji-Kärtchen miteinander ins Gespräch kommen sollen, und mehrere Hallen, in denen sich Teilnehmer an den Ständen zu »Glauben im Alltag« oder »Bibelarbeit« austauschen können. Viele Veranstaltungen behandeln Themen wie Globalisierung, Flucht und Migration – und auch die AfD. Die Auseinandersetzung mit der Partei ist eines der wichtigen Themen des Kirchentags.

»Ihr habt ja noch viel Energie nach drei Tagen Kirchentag«, ruft der Moderator den wenigen zu, die vor der Bühne tanzen. Doch ein Blick auf die Wiese dahinter zeigt eher ein anderes Bild.

»We shall overcome«-Protestchöre und hitzige Diskussionen gibt es schon am Donnerstag. Dort trifft Bischoff Markus Dröge auf Anette Schultner vom Arbeitskreis »Christen in der AfD«. Dröge hat sich vorbereitet, attackiert die AfD-Politikerin mit ihrem eigenen Programm. Sie behilft sich mit vagen Aussagen und rhetorischen Gegenfragen. Ganz glücklich läuft die umstrittene Auseinandersetzung mit der AfD trotzdem nicht. Über den offiziellen Twitter-Account des Kirchentags wird die Behauptung der AfD-Vertreterin, durch die Zuwanderung seien Tausende Terroristen nach Deutschland gekommen, unkommentiert verbreitet. Die Veranstaltung sei »eine Farce« gewesen, sagt nachher Isabell. Man könne mit »geschulten AfDlern nicht reden« und müsse diese auch »nicht dulden«. Die Theologin von der Humboldt-Universität Berlin hat auf dem Kirchentag fast 350 T-Shirts der »Antifaschistischen Kirche« per Fahrradverkauf unter die Gläubigen gebracht. Man habe vergessen, sich für einen Verkaufsstand anzumelden.

5000 Freiwilige sorgen für einen reibungslosen Ablauf, viele sind Pfadfinder. In ihren blauen Hemden verteilen sie Programme und dirigieren umherirrende Besucher. Hayat und Vanessa tragen grüne Hemden. Die beiden sind Mitglieder der muslimischen Pfadfinder und mit 30 anderen Mitgliedern ihres noch jungen Verbands aus Hessen und Rheinland-Pfalz zum Kirchentag gekommen. Sie seien zum ersten Mal in Berlin, doch von der Stadt hätten sie wenig gesehen, sagt Vanessa lachend. Stattdessen hätten sie jeden Tag von 15 bis 22 Uhr Spätschicht gemacht und mit anderen Pfadfindern die Kollekte eingesammelt. Weil sie »Gutes tun« wollten.
Frauke Weber hingegen ist ein echter Kirchentagsveteran. Ihr T-Shirt verrät es: 2015 Stuttgart, 2013 Hamburg und 2011 Dresden. Vieles sei in Berlin genauso wie bei anderen Kirchentagen. Die Vielfalt des Programms sei »Wahnsinn«. Die Frau mit den kurzen, weißen Haaren freut sich über »viele positive Menschen«, auch die Berliner seien sehr freundlich. Doch etwas ist anders: »­Taschenkontrollen und Polizisten mit Maschinengewehren neben Menschen, die gerade gesegnet werden«, das habe sie auf anderen Kirchentagen nicht ­erlebt. »Da hat sich was geändert«, sagt Weber. Sie sitzt in der dunklen Jurte der christlichen Pfadfinder und trinkt Kräutereistee. Den gibt es für 50 Cent zu kaufen, an einer Schnur hängen getrocknete Kräuter. Tatsächlich nicht mal Gras.

»Dont worry, be happy«, singt ein junger Pfadfinder mit langen Haaren und St. Pauli-T-Shirt, während er seine Ukulele zupft. »Ich lasse mich treiben«, sagt eine Frau aus Hude bei Oldenburg. Ihr seien Gespräche wichtiger als die großen Redner wie Obama. Die Auseinandersetzung mit der AfD will sie »kompetenten Leuten« überlassen. Sie hat das »Zentrum Älterwerden« besucht. Ihr seien vor allem die Andachten »ganz wichtig«.

Trotz vieler politischer Veranstaltungen kommen auch die nicht zu kurz, etwa bei der abschließenden Segnung Samstagabend im Sommergarten. Dort beschwört der Moderator das »Kirchentagsgefühl«, während vor ihm mehrere Hundert Kirchentagsbesucher im Halbkreis um die Bühne auf der Wiese sitzen und liegen. Es ist eine hippieske Szenerie mit Wohlfühlatmosphäre. Junge Mädchen verteilen »Free Hugs«, einige Besucher laufen barfuß zwischen den Hallen und dem Sommergarten hin und her, viele sonnen sich. »Ihr habt ja noch viel Energie nach drei Tagen Kirchentag«, ruft der Moderator den wenigen zu, die vor der Bühne tanzen. Doch ein Blick auf die Wiese dahinter zeigt eher ein anderes Bild.

»Wir ordnen das Erlebte des Tages, lassen es einen kleinen Moment in der Stille wirken«, predigt Heinrich Bedford-Strohm. Danach werden die Liederbücher rausgeholt: »Wir singen gemeinsam.« Viele singen leise mit, die starke Anlage übertönt sie ohnehin. Dann resümiert der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, man stehe als Teil der »globalen Zivilgesellschaft« wie Barack Obama für eine Politik, die »über die eigene Nation hinausgeht«. Er spricht über die »Powerfrau Maria«, über Umweltschutz als Schutz der Schöpfung und fordert die Besucher auf, neue »Kraft mit nach Hause zu nehmen und sich für die Kirche und die Welt« zu engagieren.

Aufgekratzt witzeln Jessica und ihre Freundin Katharina über Obama, während sie kurze Zeit später am Samstagabend zum Brandenburger Tor laufen: »Ich habe seine Hand berührt, mein Leben ist für immer verändert.« Die beiden Studentinnen aus Mannheim sind Mitglieder der Evangelischen Kirchengemeinde (EVG) Mannheim. Die kooperiert mit der Trinity United Church of Christ in der South Side aus Chicago. Die beiden jungen Frauen waren an Ostern eine Woche in der Gemeinde, in der Barack Obama als community organizer tätig war.

EVG-Mitglieder durften am Donnerstag auf der Bühne Angela Merkel (CDU)und Barack Obama vor 70 000 Zuschauern Fragen stellen, etwa zum Drohnenkrieg der USA. Auch Bedford-Strohm richtet kritische Fragen an Obama und Merkel zum Militäretat der USA und der Abschiebung von Flüchtlingen nach Afghanistan. Die Politiker brachte das nicht aus dem Konzept. Sie wichen aus, verwiesen staatsmännisch auf ihre Verantwortung. Derlei Kritische Nachfragen bleiben dem ägyptischen Großscheich Ahmed al-Tayyeb im Gespräch über Toleranz mit Innenminister de Maizière (CDU) allerdings erspart. Während der gut besuchten Veranstaltung erreichte die Podiumsteilnehmer die Nachricht, dass es nahe Kairo einen Anschlag auf Christen mit mindestens 28 Toten gegeben hat.

Die Performance der EVG zu Polizeigewalt und Rassismus »CU – In the Mirror of God’s Eyes« ist weniger gut besucht. Jessica ist enttäuscht. »Schwierig« sei das mit der AfD, sagt ihre Freundin Katharina. Einen »Dialog« auch mit der AfD finden sie wichtig. Doch besonders auf dem Kirchentag, der ja dazu diene, »die Kirche von innen heraus neu zu positionieren«, solle man der AfD keine Bühne bieten, auch sonst ­eigentlich nicht. Doch am Samstagabend geht es nicht mehr um Politik.

»Wir haben uns ein bisschen in Samuel Koch verliebt«, sagt Jessica. Der Autor hat am Tag zuvor mit dem christlichen »Straßenmusiker« Samuel Harfst in einer Konzertlesung aus seinem Buch gelesen. Nun spielt Harfst noch einmal am Brandenburger Tor, vor mehreren Tausend beseelten Zuschauern mit orangefarbenen Kirchentagstüchern.