Gunnar Stange, Konflikt­forscher, im Gespräch über den politischen Islam in Indonesien

»Religion wird politisiert«

Gunnar Stange arbeitet am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Er ist Mitbegründer des Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Er arbeitete zum Thema »Islamistischer Terrorismus vor dem Hintergrund der Demokratisierung in Indonesien«. In seiner Dissertation befasste er sich mit neuen politischen Eliten, Identitätsbildungsprozessen und politischer Transformation in der Post-Konfliktregion Aceh. Mit der »Jungle World« sprach er über den politischen Islam in Indonesien und die Möglichkeit eines neuen Kalifats des »Islamischen Staats«.
Interview Von

 

Nach dem Sturz des Diktators Suharto 1998 erlebte der politische Islam in Indonesien einen Aufschwung. Wer treibt diese Radikalisierung heute voran?
Politischer Islam ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit religiöser Radikalisierung. Nach 1998 setzte eine Demokratisierung in Indonesien ein. Das Anfang der siebziger Jahre etablierte alte System mit nur drei zugelassenen Parteien, in dem die PPP, die Vereinigte Entwicklungspartei, die islamische Wählerschaft repräsentierte, wurde durch Dutzende neue Parteien erweitert, darunter auch zahlreiche islamische. Wichtig ist nach wie vor die PPP, einflussreich sind zudem die PAN (Partei des Nationalen Mandats), eine modernistische islamische Partei, und die PKB (Nationale Erweckungspartei), die eher das traditionelle islamische Milieu vor allem in Java repräsentiert. Eine andere Partei, die stark von der der Muslimbruderschaft inspiriert ist, ist die PKS (Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei), die sich durch eine starke Basisbewegung auszeichnet und ihre Wählerschaft auch durch Wohltätigkeitsprojekte an sich bindet. Die PKS will Indonesien in einen islamischen Staat verwandeln, allerdings mit demokratischen Mitteln. Die explizit islamischen Parteien gewannen allerdings bei den letzten Parlamentswahlen in Indonesien 2014 lediglich 30 Prozent der Stimmen. Doch vertreten auch die eher als säkular geltenden großen Parteien wie Golkar oder die PDIP Positionen, die auf eine stärkere Ausrichtung und Kontrolle des öffentlichen Lebens entlang islamischer Vorstellungen zielen. Leidtragende dieser Entwicklung sind die religiösen Minderheiten Indonesiens wie Schiiten und Ahmadis, aber auch Christen. Eine Vielzahl gewaltsamer Übergriffe gegen Einrichtungen religiöser Minderheiten und ihre Anhänger werden entweder gar nicht oder nur mit sehr geringen Strafen geahndet. In der indonesischen Staatsdoktrin – der Pancasila – gibt es übrigens kein Bekenntnis zu einer bestimmten Religion, sondern nur zu einem Gott. Sechs Religionen sind anerkannt. Das Judentum nicht.

Die Provinz Aceh hat eine Sonderstellung bei der Politisierung des Islam in Indonesien.
Im Friedensabkommen 2005 nach einem 30jährigen Bürgerkrieg und mit einem Sonderautonomiegesetz 2006 wurden der Provinz Aceh von der indonesischen Regierung weitreichende Sonderrechte eingeräumt. Dazu gehört das Recht, in Aceh lokale Parteien zu gründen. Die von der ehemaligen Unabhängigkeitsbewegung gegründete Partei ist seitdem besonders stark in dieser Provinz. Im Jahre 2001 gewährte die Zentralregierung der Provinz Aceh das Recht, strafrechtliche Teile der Sharia für Muslime einzuführen. 2002 wurde das Auspeitschen als Strafe für »Delikte« wie Drogen- und Alkoholkonsum, vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen und Glückspiel eingeführt. Diese sind allerdings umstritten. Das Gesetz wird in Aceh oft als Gesetz für Arme bezeichnet, da es häufig Menschen trifft, die es sich nicht leisten können, beispielsweise ihren Alkohol außerhalb der Grenzen der Provinz zu konsumieren oder die entsprechenden Stellen zu bestechen. Mit der indonesischen Verfassung ist das Gesetz nicht vereinbar, denn alle Indonesier sollen vor dem Gesetz gleich sein, unabhängig von Religion und Wohnort. Es wird aber toleriert, um, so die Argumentation, den bewaffneten Konflikt in Aceh nicht wieder ausbrechen zu lassen.

Welche Machtverhältnisse spielen dabei eine Rolle?
Religion wird politisiert. In dem Moment, da islamische Eliten ein Mitspracherecht bei der Definition von deviantem Verhalten haben, nimmt ihr Einfluss zu. Es waren Parteipolitiker und islamische Eliten in Aceh und Jakarta, die dieses Gesetz zementiert sehen wollten. Wer die Interpretationshoheit für normativ erwünschtes Verhalten hat und die Sanktionen bestimmen kann, der verfügt über Macht. Der acehische Islam hat eine sehr traditionelle Komponente, die lokal verankert ist. In den städtischen Gegenden ist der Islam moderner geprägt. Derzeit gibt es Auseinandersetzungen in Aceh zwischen der salafistischen Strömung, die auch erstarkt durch Finanzierung aus Java oder Saudi-Arabien, den städtischen modernistischen islamischen Eliten und den eher traditionell geprägten ländlichen islamischen Eliten. Hier geht es sowohl um die Frage, welche religiösen Praktiken mit dem Islam vereinbar sind, als auch um den Zugang zu öffentlichen Mitteln und Ämtern.

Bei der Gouverneurswahl in Jakarta wurde jüngst mit besonders harten Bandagen gekämpft. Spielte religiöser Hass dabei eine große Rolle?
Die Großdemonstrationen, die es gegeben hat, muss man in Zusammenhang mit dem Wahlkampf betrachten. Es waren keine spontanen Erhebungen, die Proteste sind höchstwahrscheinlich von langer Hand und mit viel Geld vorbereitet worden. Viele Menschen berichten, dass sie Geld für die Teilnahme an den Demonstrationen erhalten haben. Wir kennen diese Form der Massenproteste aus Indonesien schon lange. Sie werden von finanzstarken politischen Akteuren, in dem Fall sehr wahrscheinlich politischen Gegnern des missliebigen Kandidaten Ahok, organisiert und zeigen, wie machtvoll die alteingesessenen politischen Eliten sind. Allerdings gab es auch eine Unzufriedenheit mit Ahoks radikalen Modernisierungsplänen für Jakarta. Der christliche Gouverneur hatte sich auch durch seinen Antikorruptionskurs mächtige Feinde gemacht.

Gibt es eine neue Stimmung der religiösen Intoleranz?
Forderungen, Indonesien in einen islamischen Staat umzuwandeln, finden keine Mehrheit. Umfragen zufolge unterstützen beispielsweise lediglich vier Prozent der Indonesier den sogenannten Islamischen Staat (IS). Es gibt gleichwohl gesellschaftlich eine stärkere Hinwendung zur Religion, die politisch aufgegriffen und damit wiederum verstärkt wird. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig eine gesteigerte Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten. Viel problematischer ist es, dass strafrechtlich gegen radikalislamische Gruppierungen mit vergleichsweise kleiner Anhängerschaft, die häufig auch politisch instrumentalisiert werden, nicht ausreichend hart vorgegangen wird. Das erweckt den Eindruck einer zunehmenden religiösen Intoleranz. Dort, wo es eine gewisse religiöse Durchmischung gibt, funktioniert das Zusammenleben der Menschen in der Regel recht gut.

Besteht trotzdem die Gefahr eines neuen Kalifats in Indonesien?
Man darf die Wehrhaftigkeit Indonesiens nicht unterschätzen. Es gibt eine veritable Gefahr in Regionen, in denen es lokale Konflikte gibt, die religiös aufgeladen und anschlussfähig an die Ideologie des IS sind. Das ist, was in Marawi auf Mindanao auf den Philippinen geschehen ist. Dort gibt es eine Gemengelage zwischen islamischen Gruppen, die Autonomieforderungen an ein mehrheitlich katholisches Land stellen. Der Friedensprozess ist ins Stocken geraten. Dort wurden lokale Sympathisanten des IS sowohl von ausgebildeten IS-Kämpfern – darunter auch etwa 20 Indonesier – als auch von Anhängern lokaler Widerstandsbewegungen unterstützt. So ein Szenario ist in Indonesien zur Zeit nicht denkbar. Es gibt zwar Rückkehrer vom IS aus Afghanistan, Irak und Syrien, das sind erfahrene Kämpfer, potentielle Terroristen, aber ihre Anzahl ist gering. Die Zahl terroristischer Attentate in Indonesien könnte allerdings zunehmen.

Wie reagiert die Regierung auf diese Bedrohung?
Die Indonesier haben mit Hilfe Australiens und der USA große Fortschritte im Antiterrorkampf gemacht, sowohl kriminalistisch als auch durch die Ausbildung entsprechender Einsatzkräfte. Die Maßnahmen sind zum Teil drastisch, viele mutmaßliche Terroristen wurden erschossen. Alles in allem ist die Intensität der Anschläge seit 2009 aber stark zurückgegangen. Es werden viele Anschläge verhindert. Es zeigt sich aber auch, dass die islamische Radikalisierung in den chronisch überbelegten und personell unterbesetzten Gefängnissen Indonesiens zunimmt. Diese Tatsache, die Rückkehrer von IS-Kämpfern sowie eine fortschreitende Vernetzung der jihadistischen Bewegungen in Südostasien stellen nicht nur Indonesien, sondern die gesamte Region vor eine sicherheitspolitische Herausforderung.

Gibt es einen autoritären Trend?
Die neuen Autoritarismen fassen auch in Südostasien mehr und mehr Fuß. Bei den Wahlen 2014 war das bereits zu erkennen. Der jetzige Präsident Joko Widodo ist damals mit einem fast sozialdemokratischen Programm angetreten. Sein Kontrahent, der ehemalige General Prabowo Subianto, steht für ein autoritäres Indonesien. Er will mehr Protektionismus und weniger Demokratie, deshalb wird er von konservativen bis radikalen islamischen Kräften unterstützt. Er hat nur knapp verloren. Die Wahrscheinlichkeit, dass er nochmal antreten wird, ist sehr hoch. Widodo galt aufgrund seiner politischen Unerfahrenheit als schwacher Präsident. Die verstärkte Anwendung der Todesstrafe, das Verbot der islamistischen Organisation Hizbut Tahrir Indonesia und seine jüngst geäußerte Forderung nach Erschießungen von Drogenhändlern müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Er muss jetzt als starker Mann auftreten.
Interview: Julia Hoffmann