Die Krise der österreichischen Sozialdemokraten und der Rechtsruck der Konservativen

Links ist, was nicht extrem rechts ist

Die Umfragen lassen für die österreichischen Nationalratswahlen am 15. Oktober einen starken Rechtsruck erwarten. Nach der Präsident­schaftswahl vor einem Jahr war die Stimmung noch eine ganz andere. Dann kam Sebastian Kurz.

Als der österreichische Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende Christian Kern am 1. Oktober vor die Presse trat, um zum gerade aufgedeckten »Dirty Campaining« der Sozialdemokraten Stellung zu nehmen, funktionierte sein Mikrophon nicht richtig. Beim Versuch eines Assistenten, das Problem zu beheben, kam es zu einer heftigen Rückkopplung. Die Szene fasst den Wahlkampf der SPÖ ganz gut zusammen: Was schief gehen konnte, ging auch schief. Schon einen Tag zuvor war der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Georg ­Niedermühlbichler zurückgetreten. Mit ihm verloren die Sozialdemokraten zwei Wochen vor den Wahlen ihren Wahlkampfleiter und mussten sich dafür rechtfertigen, dass sie vor Monaten ein Team um den israelischen Politikberater und Fondsmanager Tal Silberstein engagiert hatten, das für eine Gage von kolportierten 400 000 Euro unter anderem mit gefakten Facebook-Gruppen den Eindruck zu erwecken versuchte, der ÖVP-Vorsitzende Sebastian Kurz würde von antisemitischen rechten Rabauken unterstützt. Das wirkt in Österreich, wo eine Prise Antisemitismus noch nie einem Politiker geschadet hat, so seltsam kompliziert und in jeder Hinsicht falsch, dass nun in der SPÖ die Verschwörungstheorie umgeht, Silberstein oder wenigstens einer seiner Mitarbeiter sei ein von der ÖVP gedungener Doppelagent. Selbst falls das stimmen sollte, bliebe die Frage, wie es um die Führungsqualitäten Christian Kerns bestellt ist, wenn sich direkt unter seiner Nase ein drittklassiger Politthriller entspinnen kann, von dem er keine Ahnung gehabt haben will. Silberstein droht übrigens inzwischen in Israel eine mögliche Anklage wegen Geldwäsche, Bestechung und Urkundenfälschung.

Die SPÖ steht also unmittelbar vor den Nationalratswahlen mit dem Rücken zur Wand. Sämtliche Umfrageinstitute sehen die ÖVP mit zehn Prozentpunkten fast uneinholbar in Führung und prognostizieren einen Kampf um Platz zwei zwischen SPÖ und FPÖ (siehe Seite 4).
Noch vor einem Jahr war die Stimmung im Land eine ganz andere. Kern führte die SPÖ mit smartem Auftreten und klassisch sozialdemokratischen Themen wie der Forderung nach einer Erbschaftssteuer für Millionäre und ­einer Wertschöpfungsabgabe in Umfragehöhen. Nahezu alle nicht rechtsextremen Kräfte kämpften gegen den FPÖ-Kandidaten bei der Wahl zum Bundespräsidenten. Als dann Alexander Van der Bellen Präsident wurde, wähnte man die Sache in trockenen Tüchern: Kern würde die nächsten Wahlen hoch gewinnen und sich unter ­einem wohlwollenden Präsidenten gefügigen Koalitionspartner aussuchen können. Man hatte nicht mit Sebastian Kurz gerechnet.

 

Die SPÖ rückte immer weiter nach rechts

Aufmerksamen Beobachterinnen der österreichischen Innenpolitik fiel schon seit Mitte 2016 auf, dass die ÖVP immer stärker nach rechts steuerte. Mit Wolfgang Sobotka wurde ein stramm rechtskonservativer Mann aus der niederösterreichischen Provinz als Innenminister installiert, dessen Aufgabe es von da ab war, die Sozialdemokraten mit immer neuen Law & Order-Forderungen zu provozieren. Die SPÖ tat das, was Sozialdemokraten seit 1914 stets zu tun pflegen, und gab immer wieder nach. Die ÖVP will das Demonstrationsrecht einschränken? Die SPÖ zieht mit. Die ÖVP will ein Burka-Verbot? Die SPÖ willigt ein. Statt sich gegen den von den Konservativen gezielt betriebenen Rechtsruck zu stemmen, rückte die SPÖ selbst immer weiter nach rechts, berief in Gestalt von Hans Peter Doskozil sogar selbst einen rechtslastigen Politiker zum Verteidigungsminister und gab die seit 1986 geltende Doktrin auf, keinesfalls eine Koalition mit der FPÖ einzugehen. Jene Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger, die 2015 den versagenden Staat bei der Unterstützung zehntausender Flüchtlinge unterstützt beziehungsweise ersetzt hatten und die 2016 einen rechtsextremen Bundespräsidenten verhinderten, mussten verblüfft erkennen, dass man sie als große Wählergruppe nicht einmal mehr umwarb. Im Windschatten der Kölner Silvesternacht 2015 bliesen die österreichischen Boulevardmedien jeden realen oder vermeintlichen Fall ­sexualisierter Gewalt von Asylsuchenden zur großen Story auf, Schwimm­bäder verhängten Hausverbote für Nichtösterreicher, an den Grenzen patrouillierte das Militär und der vom ­Integrationsstaatssekretär zum Außenminister aufgestiegene Sebastian Kurz ließ eine Studie über islamische Kindergärten so überarbeiten, dass aus einer weitgehend harmlos klingenden Zustandsbeschreibung eine grelle Warnung vor islamistischer Indoktrination wurde.

Bei jedem Auftritt spricht Kurz fast ausschließlich über »Ausländer«, »Migranten« und den Islam. Er ging sogar so weit, das Zurückfallen österreichischer Schulen bei der Pisa-Studie Flüchtlingen in die Schuhe zu schieben.

Im Mai 2017 übernahm Kurz, der zuvor monatelang konservative Hardliner und einflussreiche Industrielle hinter sich versammelt hatte, die ÖVP, änderte deren offiziellen Namen in »Liste Kurz – die neue ÖVP« und präsentierte Türkis als neue Parteifarbe. Er kündigte die Koalition mit der SPÖ auf und ließ ein neues Parteiprogramm ausarbeiten, das im Laufe des Wahlkampfes stückchenweise veröffentlicht wurde. Es ist ein stramm rechtes Programm. Während es Steuererleichterungen in Milliardenhöhe für Unternehmer, Konzerne und Immobilieneigentümer geben soll, wird die Übernahme der deutschen Hartz-IV-Gesetzgebung gefordert. Asylsuchende sollen zu »Putzdiensten« verpflichtet werden. Drogendealer sollen in jedem Fall zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Die gleichgeschlecht­liche Ehe wird strikt abgelehnt. NGOs, die Gelder aus dem Ausland erhalten, stehen mit einem Bein im Knast. Die ÖVP fordert auch die Ausweitung der Überwachung der Bevölkerung. Menschen ohne österreichische Staats­bürgerschaft will sie bei Sozialleistungen benachteiligen, die im Übrigen flächendeckend gekürzt werden sollen.

Das rechte Programm flankiert Kurz mit einer Inszenierung, die sensible Beobachter in Angst versetzt. Ende September versammelte die ÖVP etwa 10 000 Menschen in der Wiener Stadthalle. Unter einem gigantischen Plakat, beleuchtet von Lichtdomen in Riefenstahl-Manier, jubelte eine in einheitlichem Türkis gekleidete Menge Kurz zu. Die Veranstaltung hatte eine verstörende Ähnlichkeit zu Gottesdiensten in US-amerikanischen megachurches. Bei jedem Auftritt spricht Kurz fast ausschließlich über »Ausländer«, »Migranten« und den Islam. Er ging sogar so weit, das Zurückfallen österreichischer Schulen bei der Pisa-Studie Flüchtlingen in die Schuhe zu schieben. Selbst vor der offensichtlichen Lüge, Österreicher verließen Wien wegen der vielen Ausländer, schreckte der Hoffnungsträger der Konservativen nicht zurück. In Fernsehdiskussionen mit politischen Konkurrenten gibt sich Kurz streng und schneidend und imitiert dabei den Tonfall und sogar die Gestik von Jörg Haider. Obwohl Kurz seit 2011 in der Regierung sitzt und seine Partei seit 30 Jahren ununterbrochen mitregiert, schafft er es, sich als Erneuerer von geradezu messianischer Qualität zu inszenieren.

 

Für Juden wird es ungemütlicher werden

Die FPÖ verhält sich in diesem Wahlkampf überraschend unauffällig. Keine skandalösen Plakate, kaum Hetze gegen Minderheiten. Dies lässt den Schluss zu, dass sich die FPÖ für die Rolle als Partnerin in einer Koalition mit der ÖVP hübsch machen will. Vielleicht fällt es den Blauen aber auch nur schwer, die ÖVP und Kurz von rechts anzugreifen.

Und was treibt die Linke in diesem Wahlkampf? Dazu muss man zuerst festhalten: Als links gilt in Österreich alles, was nicht extrem rechts ist. Das, was man anderswo als links bezeichnet, heißt in Österreich »linksextrem«. Deswegen gelten die Grünen den Österreichern Umfragen zufolge als »sehr links«. Das Programm, mit dem die grüne Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek antritt, ist freilich eher brav sozialdemokratisch und linksliberal als dezidiert links. Die Grünen wollen den Sozialstaat nicht weiter beschneiden und geben sich proeuropäisch und den Menschenrechten verpflichtet. Es ist aber nicht einmal klar, ob es für einen Wiedereinzug ins Parlament reichen wird, denn die Grünen sind zerstritten und haben sich dreifach gespalten.

Ein Teil der Parteijugend wanderte zur KPÖ ab, andere folgten dem Grünen-Mitbegründer Peter Pilz zu dessen »Liste Pilz«, die er ins Leben gerufen hatte, nachdem ihm die Partei den gewünschten Listenplatz verweigert hatte. Pilz, früher vor allem als Antikorrup­tionskämpfer bekannt, versucht sich als österreichischer Oskar Lafontaine, verknüpft also linke mit rechten Positionen.

Derzeit sieht alles nach einem fulminanten Wahlsieg der Rechten aus, der sogar zu einer Zweidrittelmehrheit des aus ÖVP und FPÖ bestehenden Blocks führen könnte, die Verfassungsänderungen ermöglicht. ­Allerdings ist eine Überraschung nicht ausgeschlossen. Bei den Kommunalwahlen im Burgenland am 1. Oktober erlitten SPÖ und ÖVP leichte Verluste, während FPÖ und Grüne leicht zulegen konnten. Es wäre natürlich falsch, von Bürgermeisterwahlen, bei denen es um ortsbekannte Personen geht, Rückschlüsse auf die Bundesebene zu ziehen. Dennoch fällt auf, dass sich die von Umfrageinstituten und Zeitungen ­diagnostizierte politische Stimmungslage so gar nicht auf kommunaler Ebene ausgewirkt hat.
Für Juden könnte es aber ohnehin ungemütlicher werden: Sowohl Kurz als auch Pilz sagten in den letzten Tagen, in einem Österreich unter ihrer Führung hätten »die Silbersteins« nichts mehr verloren.