Im Dokumentarfilm »Das Kongo Tribunal« inszeniert Milo Rau ein Volksgericht

Der Krieg, der nicht aufhört

Milo Raus Dokumentarfilm »Das Kongo Tribunal« verschafft einem der erbittertsten Konflikte der Gegenwart eine öffentliche Aufmerksamkeit.

Theateraufführungen und Gerichtsprozesse sind zwei Formen der Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten. Im Schauprozess finden beide Formen aufs Schlechteste zusammen; die Findung eines im Voraus fest­gelegten Urteils wird hier nur aufgeführt. Dass es auch anders herum geht, zeigt der Theatermacher Milo Rau. In seinen theatralen Tribunalen wird das Gericht gespielt, das Urteil ist weder vor Beginn festgelegt noch am Ende rechtskräftig. Die Fiktion des Gerichtsprozesses garantiert dabei in einem gewissen Maße die Unabhängigkeit – auch wenn man nicht der Illusion verfallen sollte, dass ein solches Geschehen frei von Einflüssen und Interessen sei. Das theatrale Als-ob ermöglicht die Ernsthaftigkeit solcher Fiktion. Rau nutzt vor allem die darstellerischen Möglichkeiten eines Gerichtsprozesses, um soziale und politische Vorgänge zu veranschaulichen. Nun kommt mit »Das Kongo Tribunal« eine solche Theaterarbeit Raus in die Kinos. Der Regisseur hat mit der Form des Tribunals bereits Erfahrung, so inszenierte er die Stücke »Die Zürcher Prozesse« und »Die Moskauer Prozesse«, die auch filmisch dokumentiert sind. Vorbild ist das prominent besetzte Russell-Tribunal von 1966, auch bekannt als Vietnam War Crimes Tribunal, an dem auch James Baldwin, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Peter Weiss teilnahmen. Das Als-ob öffnet Spielräume, die mit großem Ernst genutzt werden.

Für seinen Film »Das Kongo Tribunal« ist Rau mit seinem Team in die Provinz Kivu im Ostkongo gereist, hat recherchiert und eine Art Volksgericht inszeniert, das 2015 in Bukavu und Berlin aufgeführt wurde. Die Hearings in Bukavu und Berlin wurden gleichzeitig mit sieben Kameras aufgezeichnet. Zu Wort kommen Opfer und Täter, Regierung und Opposition, Militärangehörige und Rebellen, Menschenrechtler, lokale Bergleute und Vertreter multinationaler Minenkonzerne.

Seit 20 Jahren gibt es Krieg im Kongo. Der Normalzustand wird Bürgerkrieg genannt, die Phasen intensiver bewaffneter Auseinandersetzung werden als erster, zweiter und dritter Kongo-Krieg und zusammengenommen als Afrikanischer Weltkrieg bezeichnet. Es ist bisher unmöglich zu beziffern, wie viele Tote es durch Waffengewalt und Kriegsfolgen gegeben hat. Im Film ist die Rede von sieben Millionen Toten seit 1996. Diese Zahl ist nicht belastbar, die Methoden ihrer Erhebung sind umstritten. Aber angesichts der Gewalt erscheint ein Feilschen um wissenschaftlich belegbare Zahlen zynisch. Und doch ist die bloße Quantität des Sterbens auch schlecht abstrakt. Die mediale und politische Aufmerksamkeit für viele Kriege und Massaker weltweit lässt sich oft nur mit dem Hinweis auf solch skanda­lisierende Zahlen erringen (für den Krieg im Jemen reicht nicht einmal das), wobei nicht vergessen werden sollte, dass die Ursache solcher Zahlen weitaus skandalöser ist als ihre mediale Ausschlachtung.

Was den Krieg im Kongo befeuert, ist der Reichtum des Landes an Rohstoffen. Schon zu Zeiten des Kolonialismus stand der Kongo im Zentrum der Begehrlichkeiten: Sklaven, Kautschuk, Uran wurden geraubt. Inzwischen geht es vor allem um den Rohstoff Coltan, ein Erz, das in jedem Smartphone verbaut ist. Wie in jedem langandauernden Krieg hat sich eine Kriegsökonomie entwickelt – mit zahlreichen Parteien, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Zustands haben. Dazu zählen die Regierung, das Militär, die Polizei sowie große, international agierende Unternehmen. Was sich im Kongo abspielt, kann man getrost als »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« (Karl Marx) beschreiben: Enteignung und Vertreibung der Bevölkerung, Verhinderung von Subsistenzwirtschaft, Raubbau an der Natur, Vergiftung des Wassers.

Rau richtet den Blick auf das, was der liberalen Theorie des Kapitalismus ein blinder Fleck ist: wie der Mensch, all seiner Mittel beraubt, nur im Besitz seiner Arbeitskraft, überhaupt auf den Markt gelangt, auf dem ihn das Kapital dann scheinbar naturwüchsig zur anstehenden Vernutzung vorfindet. Der Ursprung ist ­Gewalt, die – wie Walter Benjamin aufgezeigt hat – noch jedem scheinbar zivilisierten Rechtszustand innewohnt. Im Kongo ist ein Raum der Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen entstanden. Es gibt keine Instanz, die auch nur ein Minimum an Menschlichkeit garantieren könnte. In diese Lücke dringt der Künstler mit seinem fiktiven Tribunal vor.

Angesichts der Zustände im Kongo fällt es schwer, sich eine vernünftige Lösung des Konflikts vorzustellen – außer der Enteignung der Enteigner. Die Menschen, einmal in größeres Elend gestoßen, als sie es vorher schon erleiden mussten, sind gezwungen, in den Minen zu arbeiten. Nebenher werden sie von Staat, Landbesitzern und Stammesältesten mit horrenden Steuern und Abgaben belegt, während die Unternehmen steuerfrei

Milliardengewinne erwirtschaften. Zahlreiche bewaffnete Gruppen agieren in dem Gebiet. Wenig überraschend sind die Hauptkonfliktgebiete auch die Abbaugebiete. Im Kongo treffen US-amerikanische, europäische und chinesische Einflusszonen aufeinander. Ethnische Aggressionen werden geschürt, es kommt regelmäßig zu Massakern von Milizen und der Armee, Hinrichtungen mit Macheten, Massenver­gewaltigungen, niedergebrannten Dörfern. Die abgebauten Mineralien landen trotz entsprechender Verbote des Ankaufs aus Konfliktgebieten auf dem Weltmarkt, sie werden über Nachbarländer wie Ruanda ausgeführt. Neben 40 000 Soldaten der kongolesischen Armee sind in der Provinz Kivu auch Truppen der UN im Rahmen ihrer weltweit größten Mission (insgesamt über 20 000 Soldaten) im Einsatz, die zwar kein Kampfmandat haben, dafür aber gelegentlich Workshops anbieten. Bei vielen Massakern sind sie in der Nähe, greifen aber nicht ein – was für Armee und Polizei, wenn sie nicht gerade selbst welche veranstalten, ebenfalls gilt.

All diese Tatsachen werden in Milo Raus »Kongo Tribunal« vor einem fiktiven Gericht verhandelt. Das funktioniert, wie man im Film sehen kann, in Bukavu außerordentlich gut, weil die Zuschauer letztlich Beteiligte sind und beispielsweise der Gouverneur sowie der Innenminister der Provinz in der ersten Reihe sitzen und sich im Laufe des Tribunals in ihrer Hybris derart um Kopf und Kragen reden, dass zumindest der Minister danach entlassen wurde.

Mit dem »Kongo Tribunal« zeigt Milo Rau nicht einzelne Verantwortliche, sondern eine Welt, in der das Leiden von Menschen profitabel wird. Dass der Zufall der Geburt heutzutage nicht nur zwischen den sozialen Klassen entscheidet, sondern auch zwischen den Weltregionen, in denen entweder Produktion oder Konsumtion vorherrscht, zeigt der Film ebenfalls. In einem Interview mit der Zeit sagte Rau kürzlich: »Natürlich kommt eine Geburt in Europa einer hochherrschaftlichen Geburt gleich. Wir Europäer leben im Adelsstand. Ein Milo Rau im Kongo, ein Mann mit meinem Geburtsdatum, wäre entweder schon tot oder lebte an der Armutsgrenze oder wäre geflohen. Das sind die drei Möglichkeiten, die ein Milo Rau hat, den die Geburts­lotterie im Kongo zur Welt kommen lässt. Und der Milo Rau aus der Schweiz macht zweifelhafte Trauerspiele an der Berliner Schaubühne. Der Zufall bestimmt alles. Das ist ein Skandal, den darf man nicht hinnehmen. Entweder es gibt ein gutes Leben für alle, oder es gibt gar kein gutes Leben.« Was Rau mit seinem Tribunal zeigt, ist eine Welt, die falsch eingerichtet ist. Verité et Justice kann man auf einem Banner in Bukavu lesen – Wahrheit und Gerechtigkeit. Nur wird kein Weltgericht kommen, die Menschheit zu erlösen – das kann sie nur selbst tun.

Das Kongo Tribunal (Deutschland/Kongo 2017). Buch und Regie: Milo Rau. Filmstart: 16. November